Schüler und Lehrer auf dem Weg zu Krieg und Völkermord.

Peter Suhrkamp, später bedeutender Verleger, hatte gleich nach den Märzwahlen 1933 in der Neuen Rundschau, der viel gelesenen, literarischen und kulturpolitischen Monatszeitschrift des S. Fischer Verlags, zu den Aufmärschen im Neuen Deutschland geschrieben:

"Sinnfällig war da, was gedacht keinen Sinn ergibt und nicht recht vorstellbar ist: das Militärische als Selbstzweck, als Erfüllung und Befriedigung eines Lebensgefühls. Die militante Form, als Bild durchaus kriegerisch und gewiß nicht ohne kriegerische Tugenden, hatte ihren Sinn in sich, war zivile Lebensform. Ohne den vorangegangenen Krieg war diese reine Ausprägung sicher nicht möglich, aber dies, was zu sehen war, schloß nicht notwendig einen Krieg ein."

"Schloß nicht notwendig einen Krieg ein"? An dieser Frage schieden sich die Geister. Und war da nicht die unübersehbare rassistische Diskriminierung in der höchst polemischen Schwarzweißmalerei im ,Neuen Staat`? Ein ,Blinder Fleck` in der Wahrnehmung? Ein gestörtes Realitätsbewußtsein offenbarte sich auch in dem pathetischen Fatalismus, der den Intellektuellen Suhrkamp schreiben ließ:

"Da ist also eine Generation von Männern (die der Kriegsteilnehmer KS) mit einem abgebrochenen, aber nicht abgeschlossenen Erlebnis ...Diese Männergeneration erlebt jetzt, was sie erleben mußte: ihre Lebensform will sich im Frieden erfüllen, und sie ist auf den Staat gerichtet. Ob ihr es gutheißt oder nicht: was jetzt geschieht, hat etwas vom Gesicht einer geschichtlichen Erfüllung. Es wirkt unwiderstehlich."

Der Autor setzte noch eins drauf mit einem Seitenhieb auf Repräsentanten einer anderen ,Generation`, die sich übrigens von der der vorerwähnten ,Männer` nicht unbedingt im Alter unterschied:

"Wenn ich also jetzt frage, was geschehen ist, heißt die Antwort: die staatliche Notkonstruktion von 1918, die nur aus dem Bedürmfnis entstanden war, zu retten und wozu von dem Alten eilig zusammengerafft wurde, was man im Moment noch fassen konnte, ist zusammengebrochen."

In einflußreichen Kreisen gehörte es seit 1918 zum ,Guten Ton`, die Revolution zu diskreditieren, ihre unbestreitbaren Errungenschaften an bürgerlicher Freiheit nicht zu erwähnen. Dieser Gute Ton diktierte jetzt die offizielle Darstellung.

Das neue Schuljahr begann am zweiten Mai 1933. Hitlers Geburtstag wurde nachgefeiert (Ansprache Fritz Rittershaus). Ein Ereignis für die Schulchronik, wie dann am 26. Mai die Radioübertragung eines Schlageterhörspiels, am darauffolgenden Tag eine Schlageterfeier (Ansprache Karl Brauneck), am 22. Juni eine Sonnwendfeier und eine Kundgebung des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA, Ansprache Paul Schlüpmann), am 28. Juli der Film "SA-Mann Brand", am 30 Juli die erste vieler NS-Schulungsstunden zur Geschichte des Nationalsozialismus, zum Wehrsport, zum Luftschutz, zu Hitler- Ley- und Schirachreden (am 11. November Hitlers Rede zur Reichstagswahl), wie fortan regelmäßig der 30. Januar, Jahrestag der ,Machtergreifung` (,Tag von Potsdam`), jährlich auch ein ,Tag der Auslandsdeutschen`, ein ,Heldengedenktag`, ein Muttertag und der 9. November,Tag der Bewegung`. Im Lauf der Jahre sahen die Schüler die Filme "Der Choral von Leuthen", "Deutsches Turnerfest 1933", "Volldampf voraus", "Der alte und der junge König", "Triumph des Willens" (Parteitag 1933), "Wunder des Fliegens", "Wolkenstürmer", "Tannenberg", "Männer machen Geschichte: der Marsch nach Abessinien", "Die Olympiade" (1936, I u. II), "Wer will unter die Soldaten", und am 22. Mai 1939 noch "Land in Afrika".

Zum 9. November (Jahrestag des Münchener Putschversuchs) 1933 sprach Udo Rühl. Eine Schulungsstunde am 7. Dezember 1933 widmete Otto Blosen dem Thema "Das alte germanische Heldenlied und der NS". Am 16. Dezember, zum 10. Todestag des ,patriotischen` Poeten Dietrich Eckart, redete Wilhelm Arnold. Zum 30. Januar 1934 hörte die Schule das Hörspiel "Adolf Hitler", die Ansprache zur Heldengedenkfeier am 26. Februar hielt Paul Schlüpmannn, die zum Führergeburtstag 1934 Max Lohmann, ebenso wie die zum 30. Januar 35. Am 1. Februar 1935 wurde die Wiedereingliederung des Saarlandes gefeiert, am 9. März der verunglückte ,Führer` des NS-Lehrerbundes (NSLB) und Gauleiter der ,Bayrischen Ostmark`, Hans Schemm betrauert, am 1. Mai 1935 wurden zur Kundgebung am Hohenzollernplatz die Reden von Göbbels, Schirach und Hitler übertragen, am 2. Oktober hörte die Schule die Übertragung der Hindenburgfeier in Tannenberg, am 9. die Hitlerrede zum Winterhilfswerk. Am 8. Juni 1936 wurde der Schule eine eigene Hitlerjugendfahne überreicht, am 11. September hörte sie Hitlers Parteitagsrede an die HJ. Am 9. Januar 1937 wurde der 10 Todestag H. S. Chamberlains gefeiert, am 20. Dezember zeigte die Schule eine Ausstellung in der Aula: "Der Freimaurer und sein Ritual" (was hatte es mit diesem Titel auf sich?). Am 16. März 1938 wurde der "Anschluß" Österreichs gefeiert und im September der Nürnberger Parteitag übertragen. Am 1. März 1939 wurde die Rede Görings zum "Tag der Luftwaffe" gehört, am 15. März eine Großkundgebung zur Besetzung der Tschechoslowakei.

Die knappe Schulchronik mußte politische Erwartungen im ,Neuen Staat` bedienen, sie gibt wohl nur bedingt Einblick in die Veränderung des Schullebens im Nationalsozialismus. Sie verzeichnete regelmäßig die Abordnung von Lehrern zu ,Wehrsportübungen` und Lehrgängen, von Schulklassen zu nationalpolitischen Lehrgängen. Aus der registrierten Beurlaubung zu Gauparteitagen geht hervor, daß 1935 ,die Hälfte`, 1936 mindestens 11 Kollegen Parteimitglieder waren. Ähnlich läßt sich schließen, daß Udo Rühl SS-Mitglied war (solche Mitgliedschaft konnte sowohl prestigeträchtig wie ,bequemer` als andere NS-Mitgliedschaften sein, konnte im Krieg allerdings zur Eingliederung in die Waffen-SS führen), und Fritz Rittershaus 1936 Abgeordneter beim Nürnberger Parteitag. Der 22. März 1934 war schulfrei, weil die meisten Lehrer zur NSLB-Tagung nach Koblenz fuhren. Am 4. September 1934 wurde das Kollegium auf Hitler und den ,Führerstaat` vereidigt. Antisemitische Diskrimierung, rassistische Maßnahmen und Vorkommnisse werden in der Schulchronik überhaupt nicht erwähnt, es ist nicht auszuschließen, daß der Chronist (Heinrich Lake) es vorzog Schandhaftes zu verschweigen, wo es ,neutral` nicht wiederzugeben war. Vor dem Hitlerstaat hatten 3-6 Schüler (etwa 2%) jüdische Religionszugehörigkeit angegeben.

Formal wurden die "Richtlinien für die Lehrpläne der höheren Schulen Preußens" von 1925 erst 1938 durch den Erlaß der Reichsregierung zu "Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule" ersetzt. Doch die Lehrinhalte waren längst angepaßt. So kamen zur Prüfung im deutschen Aufsatz in Betzdorf 1936 die folgenden Themen zum Vorschlag: "1. Der deutsche Frontsoldat des Weltkrieges, seine Bewährung und sein Vermächtnis (nach folgenden Dichtungen: Cremers, die Marneschlacht; Beumelburg, Der Feigling; Schauwecker, Aufbruch der Nation). 2. "Volk in 15 Staaten", die politische Zersplitterung des geschlossenen deutschen Sprachgebietes und die daraus sich ergebenden Nachteile für Deutschland. 3. Paul de Lagarde, ein früher Künder des Dritten Reiches. 4. Wir sind jung, die Welt ist offen, o du weite schöne Welt! Es gab auch zunächst keine neuen deutschen Lesebücher, erst ab 1939 wurde "Von deutscher Art" aus dem Frankfurter Salle-Verlag eingeführt, ebenso die Bände "Der Mensch der germanisch-deutschen Frühzeit (6te Klasse), "Selbstbefreiung des deutschen Geistes" (7te Klasse) und "Das ewige Deutschland" (8te Klasse), allesamt von extrem ,patriotischen`, parteiideologischen, kriegsverherrlichenden und rassistischen Beiträgen durchsetzt. Von Joseph Göbbels` "Hitlerjunge Norkus" und Hitlers Beschreibung der Saalschlacht im Hofbräuhaus 1921 zu Paul de Lagardes antisemitischen Schriften von 1881, Helmuth Moltkes "Kriegslehren" und Hitlers Parteitagsreden zur Ergänzung der traditionellen Lektüren der Klassiker und Romantiker, der Auszüge aus Kant, Fichte, Nietzsche. Im Biologie-Unterricht erschien noch später, 1940, die NS-Neuauflage des ,Kraepelin`, das vierbändige, rassistisch verzerrte Werk "Das Leben". Zum Schuljahr 1939 wurden die Schulnoten erweitert. ,Genügend` wurde in ,befriedigend` und ,ausreichend` unterteilt.

1939 wurden die Sommerferien wegen Kriegsbeginn bis zum 18. September verlängert und gleich zu Anfang war der erste Kriegstote der Schule, Abiturient im Vorjahr, zu beklagen. Drei Kollegen waren - teils nur vorübergehend - eingezogen. Im Oktober wurden Schüler ab Klasse 5 zur Erntehilfe beordert. Fliegeralarm wurde geprobt, und ab 5. Januar 1940 wurde der Schulbeginn wegen der Verdunkellungsauflagen auf 8 Uhr 45 verschoben. Wegen Koksmangel fiel die Schule bald darauf drei Wochen lang aus. Der 14. Dezember 1940 war der Winterhilfswerk-(WHV-)Sammlung gewidmet. Im Sommer 41 wurden 199 Schüler vom Arbeitsamt für Dienst in der Landwirtschaft angefordert, die Schule belieferte die ,Heimatfront` nach Kräften.

Ein von Unterprimanern von Tag zu Tag verfaßter Bericht von einem nationalpolitischen Lehrgang 1934 hat sich erhalten. Vom Freitag dem 7. September bis Mittwoch dem 26. wohnte die Betzdorfer Klasse (ausschließlich Jungen) zusammen mit einer Schulklasse aus Prünn in der Kölner Jugendherberge. Sport und Spiel, Besichtigungen, Theater- , Museumsbesuch und ,Schulungen` wechselten sich ab. Das Kölner Rathaus, Wallraff-Richartz und Schnütgen-Museum, Dom und mehrere Kirchen, Schillers "Räuber" und Wagners "Lohengrin" gehörten ebenso zum Programm, wie der Besuch einer neuen städtischen Berufsschule, des Wasserwerks der Stadt, des "Westdeutschen Beobachters" (Die Kölner Partei-Zeitung), des Hygienemuseums, einer (politischen) Ausstellung zum Saarland und die Kölner Brücken. Die ,Schulungen` konzentrierten sich auf die Themen "Der NS-Staat im Weltbild", Geschichte der ,Bewegung`, Saarproblematik, ,Deutschtum im Ausland`. Der berichtende Schüler kommentierte einen Abendvortrag des Herbergsleiters Harion als "wahrscheinlich der wichtigste Vortrag fürs Leben, den ich je gehört habe". Die Betzdorfer Schüler wurden von Wilhelm Höfken und Paul Schlüpmann begleitet. Schlüpmann schrieb an einem der ersten Tage:

"Gestern abend war Dombesichtigung, wir haben uns das alle angesehen, ganz herrlich. Die Jungen sind alle richtig dankbar und unbeschreiblich nett ... Du kannst Dir vorstellen wie mir der Betrieb behagt. Ich kümmere mich so wenig wie möglich um den Kram, denn da ist Hopfen und Malz verloren. Heute morgen nur geschlossener Kirchgang, getrennt nach Konfessionen. Die evangelischen Schüler wurden von Höfken geführt, er ist unter den Lehrern außer mir der einzige evangelische. Ich habe ihm erklärt, daß ich nicht gern zur Kirche ginge, worauf er dann auf mich freundlichst Rücksicht nahm..."

Ein Prünner Schüler ertrank beim gemeinsamen Baden im Rhein vor den Augen von Lehrern und Schülern. Der Schock, den sein Tod vermutlich auslöste, versteckt sich im Bericht hinter unbeholfenen Sätzen: er

"konnte nicht mehr trotz tatkräftiger Versuche gerettet werden, da er nach einem verzweifelten Hilferuf nicht mehr an die Wasseroberfläche kam. Alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen waren vorher von den aufsichtführenden Lehrern getroffen worden. Er war vom Schicksal ausersehen, es sollte eben so sein. Menschen konnten da nicht mehr helfen."

Abgesehen von Gebet, kurzen Ansprachen, einer Messe und dem Lied "Ich hatt` einen Kameraden", nahm das Programm seinen Gang.

Man mag in der Organisation, in und zwischen den Zeilen über diesen Lehrgang, in den verzeichneten Liedern, neben dem forcierten militärischen Jargon, Elemente der republikanischen Reformpädagogik suchen und finden. Peter Brückner hat beschrieben, wie er im Spannungsfeld zwischen HJ und Schule in den ersten Jahren des Regimes begrenzte Freiräume erlebte. Der Einschnitt kam für ihn 1938:

"Die Hitlerjugend wurde verschult und die Schule zum Dienst. Erzieherische Starre und Indoktrination (,Schulung`) nahmen Heimabend und Wochenendfahrt in Griff, ebenso wie der NS-Staat die Verkehrsformen in Schule und Internat." [1]

In der Schulchronik des Betzdorfer Direktors ist keine pädagogische Reorientierung zu erkennen. Tatsächlich erschienen im Frühjahr 1938 die ersten NS-Unterrichtspläne für die Höheren Schulen, und die ordneten an, daß fortan die geistige und die körperliche Erziehung als gleichrangig zu gelten hatten, was Peter Brückner wohl mit Recht als ,entwafmfnenden`, disziplinierenden und instrumentalisierenden Zugriff auf jugendliche Freude an Sport und körperlicher Selbstbestätigung analysiert. Die ,Faschisierung` von 1938 koinzidierte mit dem Eintritt des Regimes in seine imperialistische Phase - der spanische Bürgerkrieg hatte (1936) den Anstoß gegeben. Tatsächlich auch wurde schon 1937 die seit 1933 ,im Kampf gegen den Bolschewismus` obligatorische Teilnahme am Religionsunterricht wieder freiwillig und der Reicherziehungsminister sah 1938 von Lehrplänen für den Religionsunterricht ab. Dem Schulfach Religion wurde die erzieherische Funktion genommen. Die Preußischen Richtlinien von 1925 hatten nicht nur den Religionsunterricht zu einem Kernfach der Schule gemacht, sie hatten auch Lehrpläne und Lehrbücher für dieses Fach bewirkt und gefördert.

Im Zusammenhang mit dem Novemberpogrom von 1938 kam es zu besonders perfidem Druck auf manche Religionslehrer, wie aus der folgenden Erklärung ersichtlich, die einer Grundschullehrerin in Hagen-Haspe am 11. November zur Unterschrift vorgelegt wurde:

"Auf Grund des gemeinen Meuchelmordes in Paris bin ich nicht mehr in der Lage, den Religionsunterricht zu erteilen und Lehre und Gestalten eines Volkes zu verherrlichen, dass allein vom Hass gegen Deutschland lebt. Hiermit erkläre ich, daß ich den Religionsunterricht niederlege."[2]

In einer anderen Fassung zur organisierten Entrüstung hieß es "Daher lege ich den Religionsunterricht bis zur Einführung eines neuen Religionslehrplanes, der den Forderungen des 3. Reiches Rechnung trägt, nieder"

1942 schrieb ,Meyers Lexikon` (die 8te Auflage, der ,Braune Meyers`) unter dem Stichwort Religionsunterricht:

"In der Vergangenheit stand über dem gesamten Schulunterricht die christliche Lehre. Alles wurde nach ihr und ihren Dogmen ausgerichtet. Heute dagegen erhält der gesamte Schulunterricht seine einheitliche Ausrichtung durch die nationalsozialistische Weltanschauung. Eine Ausnahme gilt nur für den Religionsunterricht... Den Schülern soll ein Gesamtbild des konfessionellen biblischen Unterrichtsstoffes gegeben werden, und zwar in seiner wirklichen und nicht in einer willkürlich modernisierten Fassung. Allerdings sind die Lehrer berechtigt, den Unterrichtsstoff im Religionsunterricht als biblisches Gedankengut herauszustellen und ihm in geeigneten Fällen nationalsozialistisches Gedankengut gegenüberzustellen."

* * *

Paul Schlüpmann (1901-1973) war als zweitältestes der vier Kinder einer Tischlersfamilie am Kirchplatz in Gütersloh aufgewachsen, hatte bis 1920 das evangelische (humanistische) Gymnasium (Abitur mit den Sprachen Latein, Griechisch, Hebräisch, Französisch) besucht, anschließend drei Semester in Münster, ein Semester in Leipzig und vier Semester in Marburg evangelische Theologie und Germanistik studiert und einen Kurs für Turnlehrer besucht. Er hatte in Marburg im Mai 1923 das theologische Kandidatenexamen abgelegt, dazu über Matthäus 22,1-14 und Lukas 14, 15-24 (Gleichnis vom Gastmahl) eine verleichend-exegetische Hausarbeit geschrieben[3] und über Lukas 9, 57-63 (Ernsthaftigkeit der ,Nachfolge`) das Manuskript einer Predigt abgeliefert und diese Predigt in der Kirche von Isselhorst, dem Heimatdorf seiner Mutter, auch gehalten. Nachdem er ein Jahr Hauslehrer zweier Söhne eines mecklenburgischen Gutsherren (Kobrow/ Sternberg) gewesen war, hatte er in Marburg im November 1925 die erste Staatsprüfung für das Lehramt in den Fächern Deutsch und Religion mit dem Nebenfach Hebräisch und eine Turnlehrerprüfung abgelegt und war zum Vorbereitungsdienst zunächst ein paar Monate dem städtischen Realgymnasium Münster, dann dem städtischen Gymnasium Dortmund zugewiesen worden. Als Student war er Mitglied im Verein Deutscher Studenten (VDSt), aus dessen Altherrenbund er 1934 austrat. Als er im September 1927 sein zweites Examen ablegte, hatte er gleichzeitig mit dem Vorbereitungsdienst seit einem Jahr am Reformrealgymnasium in Witten unterrichtet. Dort blieb der Assessor, bis ihm Ende 1929 der Betzdorfer Direktor Heinrich Lake im Auftrag des Kuratoriums der Schule eine Planstelle antrug, die er zu Ostern 1930 annahm. Sein monatliches Einkommen stieg auf 388,67 RM netto.

Er hatte sich in Witten wohlgefühlt, in Betzdorf gelang ihm das nicht minder. Seinen fachlichen Interessen entsprach, daß er die Zeitschrift für Theologie und Kirche abonnierte und von 1930 bis 33 die Theologische Rundschau, wie auch von 1931 bis 1938 die Neue Rundschau, die Literaturzeitschrift des S. Fischer Verlags, anregende Lektüre zu einer Untersuchung der Lyrik Gottfried Kellers, die ihn über Jahre hin beschäftigte[4]. In Betzdorf schloß er Freundschaft mit dem Kollegen Otto Blosen[5]. Ab Ende 1932 trafen sich Lore Dinkelacker und ihr Deutschlehrer auch außerhalb der Schule. Lores Elternhaus nahm den jungen Kollegen und seinen Freund in seinen politisch und kulturell lebendigen Kreis auf. Lore stand vor dem Abitur. Wie würden sich die Jahre 1933-1945 gestalten? Die Lebens- und Arbeitsverhältnisse kamen nicht selten in scheinbar bedeutungslosen Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten zum Ausdruck.

Im Mai 1933 war Fritz Schlüpmann, der Vater, gestorben. Die Tischlerei hatte kaum noch Gewinn abgeworfen, Schulden waren zu begleichen, der jüngere Bruder (geb. 1910) kämpfte mit der Arbeitslosikeit, die jüngere Schwester arbeitete unter prekären Umständen als Büroangestellte, und der Mann der älteren Schwester war seit 1920 aktiver Sozialdemokrat (Kommunalpolitiker), dem sein Lehrerberuf gerade verboten wurde. Pauls Einkommen war ein stabilisierender Faktor, zunächst in der Gütersloher, bald auch in der Betzdorfer Familie.

Zum ,Fragebogen zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933` der bis zum 3. Juli 1933 auszufüllen war, gab es keine Komplikationen. Die Schlüpmann, Schröder, Brinckmann, Kolonen und Bauern aus den Dörfern um Gütersloh, waren unverdächtig, der junge Beamte hatte keiner Partei angehört, war auch nie Mitglied der Eisernen Front, des Reichsbanners, des republikanischen Beamtenbundes oder der Liga für Menschenrechte.

War es zufällig, daß sich erste Schwierigkeiten im neuen Regime, das sich anfänglich besonders ,christlich` gab (,Kampf gegen den Bolschewismus`) im Zusammenhang mit dem Religionsunterricht zeigten? Am 16 Juni 1933 sah sich Schlüpmann genötigt, an den örtlichen Pfarrer zu schreiben. Ein Schüler hatte berichtet, daß der Pfarrer in einer Bibelstunde Schlüpmanns Auffassung von I. Cor. 14,18 ("Ich danke Gott, daß ich mehr in Zungen rede, als ihr alle") heftig angegriffen habe.

"Zwar darf ich nicht annehmen, daß der Eindruck des Schülers richtig ist, aber im Interesse einer sinnvollen Zusammenarbeit von Kirche und Schule gilt es, auch den Eindruck zu zerstreuen"...

Der Religionslehrer hatte in dem Paulus-Satz eine persönliche Heilserwartung des Autors gesehen, einen protestantisch-christlich unhaltbaren ,Elitismus`. Er berief sich auf die zur Unterrichtsvorbereitung benutzte Quelle, Heinrich Weinel, Biblische Theologie[6], schickte dem Pfarrer die einschlägigen Sätze mit[7] und erklärte seine Bereitschaft zu einer Aussprache. Gottfried Winterberg (1875-1950) antwortete umgehend:

"Gegen Ihre Auffassung von 1.Kor.14,18 habe ich nicht nur in jeder Beziehung Bedenken, sondern ich weiß, daß jede derartige Auffassung, wie Weinle (sic!) sie bietet, aus völliger Unkenntnis der Sachlage kommt und den jungen Seelen der uns anvertrauten Schüler Schaden bringt, den ich nicht verantworten könnte. Unzählige Klagen erwachsener Akademiker, Nöte von Schülern, die gesamte Not des inneren Lebens in unserem gebildeten Kreise treiben uns, um der Liebe willen hier zu helfen. In diesem Sinne habe ich auch in der letzten Bibelstunde unseres CVJM (Christlicher Verein Junger Männer KS) die von einem Schüler vorgetragene Auffassung der genannten Stelle zu berichtigen versucht. Alles Weitere mündlich...."

Es erstaunt, wie scharf die Berufung auf den wissenschaftlichen Text hier mit dem Hinweis auf eine ,Jugendgefährdung` abgelehnt wurde. Der Jenaer Theologe Weinel war bekannt als ,Evangelienforscher`, der die neutestamentlichen Gleichnisse aus zeitgenössischer Perspektive untersucht hatte und mit historischer Darstellung der urchristlichen Religion ihrer dogmatischen Verzerrung entgegentrat. Er war zu Anfang des Jahrhunderts auch mit Vorschlägen zur Reform des Religionsunterrichts hervorgetreten[8]. Merkwürdig ist, daß Winterberg ihm ,völlige Unkenntnis der Sachlage` vorwerfen konnte. Waren begründete oder unbegründete Verlustängste im Spiel, Sorge um die Autorität des ,Gottesworts`, um die des Apostels, um die eigene? Vielleicht sah der ,orthodoxe` Pfarrer auch nur in jedem Vertreter ,liberaler` Theologie eine Bedrohung. Der vielbeschäftigte Geistliche fand lange keine Zeit zur Aussprache, schickte aber einen Monat später eine Einladung zur Tagung des "Altfreundeverbandes"[9] der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV), Gau Siegerland in Freusburgermühle. Vortragsthema: "Welche Stellung haben wir als Jünger Jesu zu der gegenwärtigen nationalen u. kirchlichen Lage einzunehmen?". Schlüpmann bedauerte, zuerst müsse man sich aussprechen, zumal er Winterbergs vorläufige Antwort "als mit christlicher Liebe unvereinbar empfinden" müsse. Der Lehrer und Beamte war vermutlich auf der Hut. Die Episode fiel in die aufgeregte Anfangsphase des ,Kirchenkampfs`, den das neue Regime anzettelte und nach sich zog. Neuerliche, starke ,Selbstgleichschaltungstendenzen` in der Kirche und der allseitige Druck, Partei zu ergreifen, komplizierten den Umgang miteinander. Wahrscheinlich hat die Aussprache Ende Juli schließlich - nach den Kirchenwahlen (s.u.) - stattgefunden, in der Sache wird man sich kaum geeinigt haben, der Streit wurde jedoch nicht fortgesetzt.

* * *

Am 25. April 1933 hatte der Reichskanzler einen Exponenten der deutschchristlichen[10] Glaubensbewegung (DC), den Königsberger Militärpfarrer Ludwig Müller (1883-1945), zu seinem ,Bevollmächtigten für Fragen der evangelischen Kirchen` ernannt. Bis 1918 war die protestantische Kirche in Preußen Staatskirche gewesen. Der preußische König war ihr oberster Bischof. Seit den 1870er Jahren war das eine konstitutionelles Regime, es gab eine Kirchenverfassung. Nach der Revolution wurde die Kirche eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und von 1922 datierte die neue Kirchenverfassung der altpreußischen Union. 1922 konstituierte sich auch ein föderaler Deutscher Evangelischer Kirchenbund der 28 Landeskirchen mit dem Zweck "einen engen und dauernden Zusammenschluß herbeizuführen, das Gesamtbewußtsein des deutschen Protestantismus zu pflegen." etc.. Die Ernennung Ludwig Müllers zum Bevollmächtigten Hitlers kündigte den Durchgriff der Diktatur im kirchlichen Leben an. Im Mai 1933 kam es in Loccum zu einem Treffen der Vertreter der drei protestantischen ,Amtskirchen`, der preußisch unierten, der lutherischen und der reformierten, mit Müller zur Beratung über die Verfassung einer ,Reichskirche`. Dem Kandidaten Müller der ,Deutschen Christen` für das Amt eines ,Reichsbischofs` stellte die ,jungreformatorische Bewegung`, die trotz Sympathien für die "Nationale Erneuerung" die Kirchenmacht nicht Hitler überlassen wollte, Friedrich Bodelschwingh als ihren Kandidaten auf. Die Kirchenführer wählten Bodelschwingh, der aber schon am 24 Juni angesichts der Uneinigkeit in Gemeinden und Synoden und der Einsetzung eines Staatskommissars (der Jurist Jäger) zurücktrat. Unter dem 30. Juni forderte Hindenburg den Reichskanzler auf, für einen Kompromiß zu sorgen. Am 11. Juli wurde eine neue Kirchenverfassung verabschiedet:

"In der Stunde, da Gott unser deutsches Volk eine große geschichtliche Wende erleben läßt, verbinden sich die deutschen evangelischen Kirchen in Fortführung und Vollendung der durch den Deutschen Evangelischen Kirchenbund eingeleiteten Einigung zu einer einigen Deutschen Evangelischen Kirche."

Die Kirchenverfassung der neuen DEK entsprach weitgehend dem ,Führerprinzip` noch bevor es in anderen Körperschaften durchgesetzt wurde:

"An der Spitze der Kirche steht der lutherische Reichsbischof ... Er vollzieht die Ernennung und Entlassung der Beamten der DEK ... der Reichsbischof wird der Nationalsynode von den im leitenden Amt stehenden Führern der Landeskirchen in Gemeinschaft mit dem Geistlichen Ministerium vorgeschlagen und von der Nationalsynode im Bischofsamt berufen ... Die DEK kann den Landeskirchen für ihre Verfassung, soweit diese nicht bekenntnismäßig gebunden ist, durch Gesetz einheitliche Richtlinien geben...Eine Berufung führender Amtsträger der Landeskirchen erfolgt nach Fühlungnahme mit der DEK"

Bei den am 23. Juli folgenden, alles andere als freien Kirchenwahlen (in nur 41 von 642 rheinischen Kirchengemeinden gab es mehr als eine Liste), siegte die DC haushoch. Müller wurde unter schriftlichem Protest von 2000 Pfarrern am 27. September von der Nationalsynode zum Reichsbischof gewählt. Die Einheit war nicht erreicht, Reichskirche und Reichsbischof blieben umstritten und der Triumph der DC sollte nicht lange dauern.

Martin Niemöller, Pfarrer in Berlin-Dahlem, politisch ein Nationalkonservativer (der 1934 über seine Zeit als U-boot-Kommandant und Freikorpskämpfer - aus welchen Gründen auch immer - ein unkritisches Buch herausbrachte) rief im September 1933 den ,Pfarrernotbund` ins Leben, der Ende des Jahres 6000 Mitglieder zählte. Zwar sagte die Verplichtungserklärung des Notbundes eindeutig:

"In solcher Verpflichtung bezeuge ich, daß eine Verletzung des Bekenntnisstandes mit der Anwendung des Arierparagraphen im Rahmen der Kirche geschaffen ist"

aber es wäre verfehlt, allgemein aus der kirchenpolitischen auf die politische Haltung zu schließen. Viele DC-Gegner waren nicht auch Gegner des Nationalsozialismus. Unter dem 15. Oktober 1933 begegnete Niemöller einer solchen Unterstellung von DC-Führern mit einer Ergebenheitsadresse an Hitler im Namen von 2500 Pfarrern, die nicht der DC angehörten (im November wurde ihm dessen ungeachtet die Amtsausübung untersagt). Uneinig waren die Amtsträger und Theologen[11] auch über die Einführung der rassistischen Diskriminierung in der Kirche (,Arierparagraph`). Am Antisemitismus der einen Seite stieß sich die andere, und wenn nicht am Antisemitismus, dann an dem weiteren Schritt zur Gleichschaltung[12]. Maßgebliche Männer der DC formulierten im Oktober 1933 ,Rengsdorfer Thesen` zu einem ,im Deutschtum verwurzelten Christentum`. Die Schöpfung fordere zur Tat auf. Vorbehaltlose Stellung zum Evangelium und eine ebensolche zum Volkstum sei kein Gegensatz. Kirche und Staat seien beides gottgewollte Ordnungen. Die Bonner Theologen Karl Barth und Hans Emil Weber antworteten mit den Gegenthesen: vorrangig sei der Offenbarungs-, nicht der Schöpfungsglaube. Volkstum und Christentum seien unvereinbar, Kirche und Staat seien nicht gleichermaßen gottgewollt. Die Opposition konstituierte sich in regionalen "Bruderräten" und mit der Barmer Erklärung ihrer Synode Ende Mai 1934 erklärten die Anhänger einer ,Bekennenden Kirche` (BK) der Reichskirche die Gegnerschaft. Einigungsbemühungen, auch seitens der DC, fehlten nicht, führten aber nicht zum Ziel.

Ende 1934 waren die DC-Führer in der Kirche am Ende ihrer Macht. Einer ihrer Organisatoren, Landesleiter und Bevollmächtigter des Staatskommissars in der rheinischen und westfälischen Kirche, der Jurist Gottfried Adolf Krummacher (1892-1954)[12a], Parteigenosse und Landrat in Gummersbach, legte seinen Vorsitz nieder, nachdem seine Rettungsversuche nicht gelungen waren. Im Dezember 1934 beschwor Krummacher noch einmal seine ,Vision` und als neuen gemeinsamen Feind aller Christen Alfred Rosenberg (aus einer nach Betzdorf gelangten Abschrift des Briefes ist der Adressat nicht ersichtlich):

"Alsdann wäre aus den Gemeinden, Synoden und Gebietskirchen allmählich das neue Kirchenregiment von unten her zu fundieren und dann aufzubauen. Bis dahin würde sich wohl die Führungspersönlichkeit finden, die geeignet ist, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Selbst wenn man solange Ludwig Müller als Reichsbischof repräsentieren läßt, so könnte man sicher sein, daß er Schritt für Schritt zurückweicht und alles mit sich machen läßt. / Es ist auch selbstverständlich, daß wir in Zukunft bei dem Aufbau der Gemeinden nicht mehr irgendwelche Prärogation für die DC in Anspruch nehmen, sondern uns einfach ehrlich alle miteinander zu dem Bekenntnis der Reformation und seiner Mahnung gegenüber Gefahren der Zeit zusammenfinden. Der Fortbestand der Organisation der DC hätte nur den Zweck, die Anhänger der DC über die Notwendigkeit dieser Wendung aufzuklären und alsdann in vorderster Front gegenüber dem Germanentum für die christliche Glaubenslehre einzustehen. Dabei wird sich dann herausstellen, ob eine Sonderorganisation dann noch nötig ist, wenn die Kirche wieder eine einheitliche Kirche wird. Nach meinem Gefühl würde es dann möglich sein, beides, DC wie Pfarrernotbund und angegliederte Organisationsformen aufzulösen... / Den Entwurf eines Aufrufs, den ich Pfarrer Wilm zur Veröffentlichung zuleitete, füge ich bei. Jedenfalls muß die Kirchenspaltung vermieden werden. Ich rechne damit, daß einige Unentwegte abgehen, sowohl von den DC wie von der Bekenntnisfront, aber ich glaube, daß wir viele lebendige, gutwillige Kreise erfassen können, und daß der Augenblick zur geistigen Auseinandersetzung mit Rosenberg, wie sie beispielsweise Pfarrer Grünagel von uns in seiner Broschüre "Luther - Rosenberg" begonnen hat, ein denkbar günstiger ist und im Volke den größten Beifall finden wird."

Für die Bekennende Kirche resultierte aus politisch konservativer Haltung und aus dem Bemühen, den kirchlichen Einfluß im Staat nicht zu verlieren ein bis zuletzt ambivalentes Verhältnis zum Regime[13]. Die BK konstituierte sich in erster Linie als ein Machtfaktor, als Lobby, hinter der eine große Zahl der Pfarrer stand, und die sich um Anerkennung durch den Staat bemühte[14]. Das Regime versuchte an Ludwig Müller festzuhalten, der zwar zu ,fanatischen` Kreisen der DC auf Distanz ging, doch mit den Vertretern der BK sich nicht einigen konnte und seinen Einfluß in der Kirche einbüßte. Andererseits war die "Vorläufige Kirchenleitung" der Bruderräte ständigen Repressionen ausgesetzt und trat am 12.2.1937 zurück. Hitler desavouierte seinen ,Kirchenaufsichtsminister` Kerrl indem er offiziell den Kirchen die Regelung ihrer inneren Angelegenheit überließ. Um so wirksamer sorgten die Agenten Heinrich Himmlers für den Durchgriff der Diktatur. Der Kanzler ordnete 1937 Wahlen zu einer verfassungsgebende Generalsynode an, aber schon zur Wahlordnung gab es keine Einigung. In dem Bemühen um einen ,Minimalkonsens` erinnerte Wilhelm Schubring in Berlin, der Herausgeber des ,Protestantenblattes` damals seine Leser, wie Paul Althaus (s.u.) die ,deutschbewußten Männer`, die die Weimarer Verfassung und die republikanische Regierung als vorläufigen Notbau anerkannt hätten, in ihrer Haltung seinerzeit bestärkt hatte. Althaus hatte dazu gerade geschrieben:

"Das Ja trug alle Vorläufigkeit und allen Vorbehalt in sich. Es zielte auf dem Boden des damaligen Staates über ihn hinaus - um des deutschen Volkes willen war es ein Ja, und um des deutschen Volkes willen ein vorläufiges Ja."[15]

Und Schubring meinte:

"Sollte das nicht genau so auf die evangelische Kirche passen? Sollten nicht auch die stramm kirchlich gesinnten Männer mitarbeiten an und in der Notlösung, in der wir die Kirche bekommen werde? Sollte das nicht richtiger sein, als dem Traum einer Idealkirche nachzugehen? Nicht nur praktisch richtiger, sondern auch richtiger nach lutherischen Grundsätzen!"[16]

Der ,Reichsbund der Deutschen Evangelischen Pfarrervereine` rief seine 16000 Mitglieder in der Wahlvorbereitung zu ,Geschlossenheit und einheitlichem Wollen` auf und das ,Protestantenblatt` stellte sich hinter einen Berliner Aufruf, in dem es hieß:

"Besonders Wertvolles hat im Kampf gegen Irrlehre die Bekennende Kirche gewirkt. Indessen ist es ihr nicht gelungen, das Vertrauen aller derer zu erwerben, die mit ihr auf dem gleichen Grund des Evangeliums und der Bekenntnisse stehen. Für die gegenwärtige Stunde ist Sammlung nötig, Sammlung all derer, die mit Artikel 1 der vom Führer anerkannten Verfassung der DEK sich auf das Evangelium von Jesus Christus gründen, das Wort Gottes als die alleinige Quelle kirchlicher Verkündigung anerkennen und ihr Leben unter das Gebot stellen: Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen."[17]

Man ahnt vielleicht, daß 1937 bei den vorläufig letzten und vergeblichen Anstrengungen zur kirchlichen Selbstverwaltung, längst nicht alle Gegner der DC in der BK aufgingen und dort allein auch nicht die (kirchen-)politische Vernunft zu finden war. Bis dahin mochte lokal im übrigen auch im damals noch sehr ,ländlichen` Betzdorf zutreffen, was nach 1933 im Allgemeinen beobachtet wurde:

"Die bäuerliche Bevölkerung erfuhr den Machtwechsel im Staat und auch in der Kirche zu einem großen Teil ohne Erschütterungen und Brüche, weil das Milieu erhalten blieb, weil sich nicht viel zu verändern schien. Der scharfe Kampf spielte sich, wenn überhaupt, vorwiegend in den städtischen Gemeinden ab. Hier lag der größte Erfolg der DC."[18]

* * *

Der Amerikaner Robert P. Ericksen hat 1985 drei maßgebliche deutsche Theologen als ,Theologen unter Hitler` vorgestellt[19]: Gerhard Kittel (1888-1948), Paul Althaus (1888-1966) und Emanuel Hirsch (1888-1972). Der Göttinger Kirchengeschichtler und Systematiker Hirsch, ehemals ein Freund, wenn auch theologisch bald ein Gegner des religiösen Sozialisten Paul Tillich, hatte sich als Luther- und Kierkegaardspezialist einen Namen gemacht. Er war seit 1931 so gut wie blind. Der Frankfurter Professor Tillich ging 1933 ins Exil. Hirsch war Anhänger des deutschnationalen Parteiführers Alfred Hugenberg und in der Erwartung einer nationalen ,Wiedergeburt` bald nach dessen Amtsantritt von Hitler überzeugt:

"Kein einziges Volk der Welt hat so wie das unsere einen Staatsmann, dem es so ernst um das Christliche ist; als Adolf Hitler am 1. Mai seine große Rede mit einem Gebet schloß, hat die ganze Welt die wunderbare Aufrichtigkeit darin gespürt".[20]

Alle drei Theologen hielten 1933 antisemitische Haltung für begründbar und gerechtfertigt. Hirsch hatte sich gleich zu Anfang Ludwig Müller als Berater zur Seite gestellt. Ihm schien die Zeit 1933 reif für eine Volkskirche[21] im nationalen ,Volksstaat`. Seine Laufbahn als Universitätslehrer war 1945 beendet, als publizierender Theologe und Schriftsteller wirkte er weiter. Sein Freund Althaus ging zwar spät, aber schließlich doch deutlich auf Abstand zum Nationalsozialismus und konnte in Erlangen weiter lehren. Kittel publizierte noch im August 1944 einen im politischen Zusammenhang nicht anders als antisemitisch zu lesenden Text[22]. Er wurde von der französischen Militärverwaltung abgesetzt, 17 Monate inhaftiert, dann zwar rehabilitiert, starb jedoch bevor er sein Amt hätte wieder aumfnehmen können.

Ericksen hat den Unterschied der drei Theologen auf den Punkt gebracht: Kittel lehnte Rationalismus und das intellektuelle und kulturelle Erbe der Aufklärung ab. Althaus akzeptierte aufklärerisches Erbe und Denken, soweit es nicht radikal war. Hirsch war begeistert vom rationalen Erbe, vom intellektuellen Modernismus, während ihn die politische, soziale und kulturelle Modernität entsetzte und ihm als klare intellektuelle Herausforderung für christliches Denken erschien. Ericksen hat gute Gründe für die These, daß der Theologe Hirsch sich dieser Herausforderung ganz besonders gewachsen zeigte, und daß das Fehlurteil über den ,Neuen Staat`, mit dem er sich zum ,Naziintellektuellen` machte, auf der Linie seiner Wahrheitssuche lag. Niemand sei wie Hirsch der Frage, wie christliche Überzeugung und moderne, staatliche Ordnung des Zusammenlebens zueinander stehen, auf den Grund gegangen. Auch das Handeln in Gerechtigkeit und Menschlichkeit in liberaler, demokratischer Tradition und nach der Maßgabe, Entscheidungen mit historischem Wissen zu prüfen, meinte Ericksen, beruhe auf einem existentialen Urteil und damit auf einem ,Glaubenssprung`, gehe also, um Kierkegaard zu zitieren, mit ,Angst und Zittern` einher:

"Wie Hirsch erkannte, erlaubt ein Glaubenssprung kühne Handlungen, was gut ist, aber immer die Möglichkeit des Irrtums in sich trägt. Mit Hirschs Beispiel vor Augen wissen wir jetzt mehr denn je: Wir müssen handeln, aber wir können es nur mit Angst und Zittern tun."[23]

Für Hirsch folgte die Unumgänglichkeit staatsbürgerlichen Handelns aus theologischer Überlegung, war aus der Theologie nicht wegzudenken. Ganz ebenso auch ein Wissen um das politische und existentielle Risiko. Er traf die falsche Entscheidung, als er sich und seine Theologie Hitler und der ,Reichskirche` antrug. Die Fragen, die er mit seiner Theologie aufwarf, waren angesichts ihrer Instrumentalisierung und der Repression der Staats- und Parteimacht zunächst nicht frei zu diskutieren und als die Diktatur fiel, erschwerten kirchliche Machtinteressen die Diskussion. Obendrein diskreditierte Hirschs Haltung im Dritten Reich seine Ergebnisse, um so mehr vielleicht als die Haltung mancher seiner Gegner in der BK damit nachträglich an regimekritischem Potential gewinnen konnte.

* * *

Der Religionslehrer Paul Schlüpmann engagierte sich ,kirchenpolitisch` nicht. Die religionspädagogischen Vorstellungen (und die theologischen der ,Barmer Erklärung`), die in der Bekennenden Kirche unter repressiven äußeren Umständen zum Tragen kamen, und die nach der Befreiung unverändert in der ,Evangelischen Unterweisung`[24] in den Schulen Eingang fanden, sagten ihm aus letztlich politischen Gründen (autoritäre Tendenz) nicht zu. Sympathien für die DC konnten angesichts ihrer Richtlinien in der aktuellen politischen Situation bei ihm wohl kaum aufkommen. Religionspädagogisch blieb er den ,liberalen` Konzepten der zwanziger Jahre verpflichtet, theologisch galt sein Interesse aber auch der ,formkritischen` Methode seines Lehrers Bultmann. Und ganz sicher sah er sein ,Hauptengagement` in der ,Selbsterhaltung` als Religionslehrer, der sich ,vor Ort` unter den gegebenen politischen Umständen so lange wie möglich so frei wie möglich bewegen wollte.

Vom 26. November bis zum 16. Dezember 1933 wurde Schlüpmann zu einem ,Geländesportlehrgang` in die Wahner Heide beordert. Zum Abschluß erhielt er ein ,Prüfungsbuch` mit Paßbild, daß ihn mit Mütze, quer über die Schulter gelegter Mantelrolle und Hakenkreuzarmbinde darstellt. Eingetragen wurden Ergebnisse einzelner Leistungen, aufgrund derer dann ein ,Schein` erteilt wurde, im gegebenen Fall ein ,T-Schein`. Der Kommentar des Geländesportlers ließ keinen Zweifel am militärischen (internationale Verpflichtungen mißachtenden) Charakter der Veranstaltung im Rahmen der anfänglichen Rüstungspolitik des neuen Regimes:

"Denn ein richtiger Soldat, das bin ich. Comme il faut! Kann Dir sagen, eine glänzende Uniform, damit könnte ich in Betzdorf Furore machen. Links- und rechts-um habe ich schon gelernt, ebenso das Strammstehen, jedenfalls geht das auch hin."

Der neue ,Machtstaat` verleitete zu neuartigen Ansprüchen auch im Schulbetrieb. Ende März 1934 schrieb der Direktor an Schlüpmann:

"Der abgegangene Schüler Ihrer Klasse F. beanstandet nunmehr auch noch schriftlich den Fall seiner Nichtversetzung. Er beruft sich einmal auf seine besonders stark gewesene Inanspruchnahme durch den SA-Dienst; er macht aber weiterhin geltend, daß er in den Fächern Deutsch, Latein und Französisch wohl bessere Prädikate verdient hätte. Ich muß nun damit rechnen, daß ich unter Umständen seine Nichtversetzung höheren Ortes zu rechtfertigen haben werde und muß deshalb die einzelnen Fachlehrer noch einmal mit der Angelegenheit behelligen.... Sollten Sie allerdings mit Rücksichtnahme auf die erwiesene besonders starke Inanspruchnahme des F. in der SA in der Lage sein, sein Prädikat zu heben, so sollte mich dies freuen."

Der Schüler F. fühlte sich im Vergleich zum Schüler B. ungerecht behandelt. Schlüpmann schrieb an Lake:

"In der Vorbesprechung wie in der Versetzungskonferenz habe ich ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ich auch solche Leistungen (die von B. KS) unter normalen Verhältnissen mit "mangelhaft" bezeichnet haben würde. B. erhielt sein besseres Prädikat unter größten Bedenken meinerseits nur mit der anempfohlenen Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse des verflossenen Schuljahrs (auch B. steht in der Bewegung). Für F. reichte die gleiche Rücksicht nicht aus, sein Prädikat zu heben.... Da sich sachlich nichts Neues ergeben hat, kann ich sein Prädikat nicht ändern. Von beiden füge ich ein Aufsatzheft bei. Heil Hitler!"

Anfang November 1933 hatte ein Vater die Reifeprüfungen 1932 und 1933, die sein Sohn, der auch "in der Bewegung stand" offenbar nicht bestanden hatte, bei der Schulbehörde in Frage gestellt und dabei (angebliche) Vorkommnisse aus der Schule angeführt, und speziell Schlüpmann unterstellt, die Regierung beleidigt zu haben. Der ministerielle Entscheid gegen den Beschwerdeführer kam sechs Wochen später aus Berlin:

"...Somit muß ich auch Ihre Vorwürfe, die sich gegen mehrere Herren der Prüfungskommission und der Anstalt richten, mit aller Entschiedenheit zurückweisen."

Beschwerden, die im Rechtsstaat jeder Grundlage entbehrt hätten, wurden in diesen Fällen erst abgewiesen, nachdem den Beamten problematische Stellungnahmen abverlangt worden waren.

Eine neue Zumutung war die rassistische Kontrolle der Lebenspartner für Beamte. Am 6. August 1934 teilte der Oberpräsident der Rheinprovinz als zuständige Behörde auf die mit Dokumenten ausgestattete Heiratsanzeige vom 30. Juli mit:

"Ich habe wegen der arischen Abstammung Ihrer zukünftigen Ehegattin Bedenken nicht geltend zu machen..."

Die Trauung hatte inzwischen stattgefunden (die kirchliche - des Religionslehrers - nicht durch Gottfried Winterberg, sondern, im Einvernehmen mit ihm, durch den befreundeten Pfarrer Becker/Köln). Kopien der Abstammungsnachweise gingen zu den Akten. Als ,Familienvater` trat Paul Schlüpmann zum 1. September 1934 der NS-Volkswohlfahrt (NSV) bei, vom gleichen Jahr datiert seine Mitgliedschaft im Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA). Die VDA-Mitgliedsbeiträge waren niedrig (RM 2.- pro Jahr) während die NSV mit größeren Beträgen zur Kasse bat (RM 10.- pro Monat)

Unter dem 1. April 1935 erschienen "Richtlinien für die nationalpolitischen Lehrgänge für Lehrer (innen)" des "Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Abteilung für höheres Schulwesen". Das Dokument ist von eben dem Herrn Jungbluth unterzeichnet, auf dessen Loyalität Alfred Dinkelacker 1933 Hofmfnungen gesetzt hatte.

"In dem grundlegenden Ministerialerlaß vom 15. Dezember 1933... inhaltlich mitgeteilt durch meinen Erlaß vom 4. Januar 1934 ... , über Lehrgänge in Vererbungslehre, Rassenkunde usw. ist davon ausgegangen, daß die Lehrkräfte aller Schulen sich in Lehrgängen in Arbeitsgemeinschaften über die Grundlagen der Vererbungslehre, Rassenkunde, Rassenhygiene, Familienkunde und Bevölkerungspolitik sowie über deren Anwendung auf die verschiedenen Erziehungs- und Unterrichtsgebiete klar werden. Wenn also hierdurch Wissenschaftsgebiete, die für den heutigen Staat von besonderer Bedeutung sind, in den Vordergrund gerückt werden, so bedeuten diese Lehrgänge zunächst nach der Seite der Fachausbildung etwas grundsätzlich Neues insofern, als es sich hier nicht darum handeln darf, etwa nur biologische Tatsachen in den Vordergrund zu rücken, sondern alle Einzelgebiete, die hier in Frage kommen, weltanschaulich im Sinne der nationalsozialistischen Bewegung zu durchdringen. Schon insofern unterscheiden sich also diese Lehrgänge von den früheren Fortbildungskursen, als das Schwergewicht auf das Weltanschauliche zu legen ist und alle verschiedenen Gebiete nur unter diesem einen Gesichtspunkt zu behandeln sind. Es wird also infolgedessen die Aufgabe des Leiters sein, sämtliche Vorträge unter diesen leitenden Gesichtspunkt zu stellen.Die Hauptaufgabe dieser nationalpolitischen Lehrgänge für die Lehrer(innen) ist genau wie bei den entsprechenden Lehrgängen für die Schüler die Pflege des Gemeinschaftsgedankens. Dem Lehrer im heutigen Staate erwachsen aus dem Gedanken der Volksgemeinschaft heraus weit größere Verpflichtungen als die rein unterrichtlicher und erzieherischer Art. Nur der Lehrer wird in Zukunft zur Jugendführung berufen sein und als solcher anerkannt werden, der selbst in den großen Gemeinschaftsgedanken hineingewachsen ist und der es gelernt hat, sich in den Zwang einer solchen Gemeinschaft einzugliedern. Nicht alle haben das Erlebnis der Frontgeneration mitgemacht, und dieses zu neuem Geiste zu erwecken, soll eine der Aufgaben dieser nationalpolitischen Lehrgänge für Lehrer sein. Aus diesem Grunde muß also der Lehrgang den Charakter eines Gemeinschaftslagers tragen, d.h. ein jeder muß sich in die militärisch-straffe Zucht und die absichtlich einfach gehaltene Lebensweise eingliedern. -Dem Führer erwächst daraus die Aufgabe, in straffer Zucht sämtliche Teilnehmer des Lehrgangs zu einer wahren Kameradschaft zusammenzufassen. Dazu soll ihm vor allen Dingen der Geländesport dienen; deshalb wird jedem Führer, soweit er nicht selbst auch Leiter des Geländesports ist, eine Lehrkraft beigegeben, die in der Lage ist, diese Aufgabe zu erfüllen. Es muß darauf Gewicht gelegt werden, daß diese Lehrgänge nicht zu stark mit wissenschaftlichen Dingen überlastet werden. Es sind vielmehr außer Geländesport noch Gebiete heranzuziehen, die dazu dienen, das Leben der Gemeinschaft zu fördern (Plege des Liedes, gemeinsame Wanderungen, in denen die betreffende Landschaft volkstümlich erschlossen wird, Fühlungnahme mit den Ortsgruppen der NSDAP u.ä.) Wie bei den nationalpolitischen Lehrgängen für Schüler verzichte ich darauf, zunächst bindende Einzelrichtlinien zu geben; die Ausgestaltung im einzelnen soll dem Führer überlassen bleiben."

Vom 4. bis 21. Juli 1935 wurde Paul Schlüpmann zum nationalpolitischen Lehrgang in der Jugendherberge Manderscheid ,einberufen`. Die Anweisung kam unter dem 22. Juni auf vorgedrucktem Formular der Koblenzer Behörde mit der Unterschrift Heinrich Lakes.

Am 24. Mai 1935 hatte der Kreisamtsleiter des ,Amtes für Erziehung` der NSDAP unter dem Briefkopf der Partei an Paul Schlüpmann geschrieben:

"Ich habe Ihren Antrag um Aumfnahme in den N.S.L.B. entgegengenommen. Obwohl Sie sich reichlich spät zur Einheitsfront der deutschen Erzieher bekennen, will ich Ihrem Eintritt im Sinne der Einigungsbestrebungen des Führers keine Hindernisse in den Weg legen. Ich erwarte aber als der politische Führer der Lehrerschaft des Kreises von Ihnen, daß Sie sich nunmehr mit größtem Eifer bei allen Gelegenheiten für den Dienst in der Bewegung und damit am Volksganzen einsetzen, um damit ein tätiges Mitglied in der N.S.L.B. geeinigten Erzieherschaft zu werden."

Im Januar 1935 hatte der ,Deutsche Philologenverband`, dem Schlüpmann angehörte, mitgeteilt, daß es ihm nicht gelungen sei, mit dem NSLB zu einer Einigung zu kommen, der habe vielmehr das Gespräch abgebrochen und bestehende regionale Beschlüsse gegen eine Doppelmitgliedschaft nicht zurückgenommen. Wohl gemerkt: die ,Verbandsphilologen` verstanden sich als gute Nationalsozialisten.

Am 23. Juli 1935 sah sich der neuaufgenommene NS-Lehrer veranlaßt, eine schriftliche Erklärung abzugeben, nähere Umstände und Adressat sind nicht ersichtlich, offenbar lag eine Beschwerde vor.

"Den 1. Mai habe ich in meiner Wohnung mit Zahnschmerzen verbracht, die durch einen abgestorbenen Zahn der rechten Seite des Unterkiefers verursacht wurden. Da ich, soweit ich orientiert war, zur Teilnahme an den Veranstaltungen dieses Tages in keiner Weise gezwungen war, hatte ich keine Möglichkeit, mich vorher oder nachher ordnungsgemäß zu entschuldigen. Das Kollegium hat als solches an den Veranstaltungen nicht teilgenommen."

Unter dem 31 Juli 1935 schrieben Kreisleiter Venter und Kreisfrauenschaftsleiterin Alfrida Eubell an Lore Dinkelacker-Schlüpmann:

"Wie uns bekannt geworden, sind Sie noch nicht Mitglied der N.S. Frauenschaft. Jede deutsche Frau muß es als ihre Pflicht betrachten, an dem großen Aufbauwerk unseres Führers mitzuhelfen. Besonders diejenigen, die selber oder deren Männer in Staatsstellen sind. Hiermit ergeht an Sie noch einmal die Mahnung, Ihre Kraft in den Dienst der deutschen Sache zu stellen und Mitglied der N.S.-Frauenschaft zu werden"

Einen Monat später ließ derselbe Amtsleiter des Amtes für Erzieher, der die Aumfnahme in den NSLB entgegengenommen hatte, von sich hören:

"Am 31. Juli ging Ihnen vorstehende Aufforderung des Kreisleiters zu, in die NS-Frauenschaft einzutreten. Bisher liegt uns keine Nachricht vor, daß Sie Ihren Eintritt vollzogen haben. In den nächsten Wochen beginnt die große Werbeaktion für die NS-Frauenschaft. Es ist wünschenswert, daß Namen von deutschen Erzieherinnen und Lehrersfrauen nicht genannt werden unter denen, die der einheitlichen Front der Frauen im Dritten Reich noch fernstehen. Stellen Sie daher alle Bedenken zurück und treten Sie ein in die NS-Frauenschaft. Da ich der Kreisleitung und der Gauamtsleitung diesbezügliche Mitteilungen machen muß, bitte ich Sie mir gegebenenfalls Ihre Gründe anzugeben, die Ihrem Eintritt entgegen stehen."

Lore Schlüpmann erinnert sich heute (2002) nicht, ob sie je Mitglied wurde. Eher nicht, denn an den kaum zu umgehenden Veranstaltungen (Umzüge) hat sie nie teilgenommen. Eine entsprechende ,politische` Entscheidung wäre mit Mann und Eltern in Abwägung der Konsequenzen getroffen worden. Sie selbst genoß in diesen ,politischen` Dingen den Schutz, den ihr die Familie gegenüber der Öffentlichkeit bot, auch hatte sie gerade ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Sie ließ sich später in die Reichskulturkammer aumfnehmen, als Materialien für Aquarellmalerei nur noch für Mitglieder zu haben waren.

Von der unter Nationalsozialisten als Alternative zu christlicher Religiosität propagierten ,Gottgläubigkeit` blieb der Religionslehrer vermutlich nicht ganz unberührt. Einen Hinweis bietet ein Schreiben an die Eltern eines Quartaners, Anhänger des ,weltanschaulichen` Kreises Ludendorff[25] im Oktober 36 :

"...befindet sich Ihr Sohn in einer Lage, die pädagogisch so schwierig ist, daß sie eine Beprechung zwischen Ihnen und mir erfordert. Die religiösen Auffassungen des Hauses Ludendorff sind, wie Sie wissen werden, von denen sehr verschieden, die ich in Übereinstimmung mit meiner persönlichen Überzeugung amtlich im evangelischen Religionsunterricht der Schule zu vertreten habe. Wir dürfen Ihren Sohn nicht hin- und herzerren... So fern es mir liegt und liegen muß, Ihrem Sohn meinen Unterricht zu verwehren, so halte ich es indes für meine Pflicht, Sie bei dieser Gelegenheit auf die Möglichkeit hinzuweisen, Ihren Sohn vom evangelischen Religionsunterricht abzumelden."

Vermutlich 1937 verlangte der NSLB von Schlüpmann per Formular eine ,NLSB-Ahnentafel`, in der Raum bis zum 128ten der ,64-Ahnen` vorgesehen war. Es scheint, daß der Nachkomme nicht über die schon 1933 verlangten Angaben hinausgegangen ist. Im Oktober 1937 wurde ,Zur Ergänzung der Personalakten` nach ,Zugehörigkeit zu und Beteiligung in der NSDAP und ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden` gefragt. Schlüpmann gehörte zu dieser Zeit außer den genannten Organisationen (NSV, NSLB, VDA) noch dem ;Deutschen Kolonialbund` seit dem 1. August 1935 und dem Reichsluftschutzbund an. Es blieb dabei bis 1945.

Wie dichtete Berthold Brecht 1937/38 zur 18ten seiner bekannten 27 Szenen aus dem Dritten Reich:

"Die Winterhelfer treten / Mit Fahnen und Trompeten / Auch in das ärmste Haus. / Sie schleppen stolz erpreßte / Lumpen und Speisereste / für die armen Nachbarn heraus. // Die Hand, die ihren Bruder erschlagen / Reicht, daß sie sich nicht beklagen / Eine milde Gabe in Eil / Es bleiben die Almosenwecken / Ihnen im Halse stecken / Und auch das Hitlerheil."[26]

Unter dem 7. November 1938 (d.h. zwei Tage vor der Pogromnacht von 1938) schickte der Kreisbeauftragte Bender des Winterhilfswerks[27] (WHV) ein hektographiertes Schreiben:

"Bei Durchprüfung der Eintopflisten mußte ich feststellen, daß Sie bei der 1. Eintopfsammlung am 9. 10. 1938 nur 1.- M (entsprechender Wert heute etwa 5 EUR KS) gespendet haben. / Der Führer hat durch seine geschichtliche Großtat den Weltfrieden gerettet und auch unsere Heimat vor unsäglichem Leid und Elend bewahrt. Dafür gebührt ihm größter Dank. Der Führer erwartet, daß sich das Winterhilfswerk der geschichtlichen Größe der Zeit anpaßt. / Eine solch geringe Spende aber ist eine Beleidigung für den Führer. / Ich hoffe, daß meine wohlgemeinten Zeilen Sie veranlassen werden bei weiteren Sammlungen Ihren Verhältnissen entsprechend Ihre Gabe zu bemessen. / Ich werde die Listen auch weiterhin einer Durchsicht unterziehen. / Opfern, nicht bloß spenden, muß unsere Parole bleiben."

Der ,freiwillige` Spender wurde mit Drohungen unter Druck gesetzt. Beleidigung ist auch heute grundsätzlich strafbar (§185 StGB), mit potentiell höherem Strafmaß auch die ,Verunglimpfung` des Staatsoberhauptes (§90 StGB). Was eine ,Beleidigung des Führers` in der Diktatur, zumal durch einen Beamten, bedeuten konnte, läßt sich denken. Schlüpmann sah sich veranlaßt, eine ,Selbstanzeige` auf dem Dienstweg abzugeben. Wenn er den Führer beleidigt habe, sei er als Beamter zur Anzeige verpflichtet. Aus Gründen, die seinem ,Protokoll` der Angelegenheit zu entnehmen sind, erklärte er außerdem:

"Meinen Ehrenstandpunkt wahre ich um jeden Preis. Ich bemühe mich, darin ein guter Nationalsozialist zu sein. Ich kann mein Handeln in diesem Punkt nicht davon abhängig machen, ob es mir im Konfliktfalle im Hinblick auf das über mich abzugebende politische Gutachten schaden könnte. Das Ansinnen (das Handeln abhängig zu machen KS) ist an mich gestellt worden. Das abzugebende Gutachten kann nach meiner Auffassung nur gut ausfallen, da ich mir keines politischen Vergehens bewußt bin. Um diese Grundhaltung geht es mir weiterhin ganz allein."

Es handelte sich eher nicht um den Versuch, der Willkür kleiner und großer Machthaber mit Rechtsansprüchen zu begegnen - Aussichtslosigkeit wäre da vermutlich noch die harmloseste Perspektive gewesen - , als darum, den ,moralischen` Erpressungsversuchen mit einer (konservativen) Ethik zu begegnen, von der die Gegner vorgaben, daß sie ihr Handeln bestimme, und die Teil ihrer Propaganda war. Die Anwort der Schulbehörde (Jungbluth) kam unter dem 24. November:

"Ich kann in dem Satz "eine solche Spende ist eine Beleidigung für den Führer" keine Ehrenkränkung sehen. Tatsächlich hat der Führer verlangt, daß in diesem Winter die Spenden für das Winterhilfswerk der Größe der politischen Erfolge entsprechen und besonders hoch ausfallen müssen, damit für das notleidende Sudetendeutschentum gesorgt werden kann. Der Betrag von 1.- RM bei der ersten Eintopfsammlung ist ohne Zweifel für einen Studienrat kein wirkliches Opfer. Ich erwarte daher, daß Sie in Zukunft eine größere Opferwilligkeit beweisen. Ihre in der Anlage 2 eingereichte Erklärung ist mir nicht recht verständlich."

Der Dienstvorgesetzte hielt es nicht für nötig festzustellen, daß der Beamte das Staatsoberhaupt nicht beleidigt hatte und hielt die parteiamtliche Unterstellung für nicht ehrenrührig, geschweige denn für eine strafbare Handlung. Die Erpressung durch leichtfertige Unterstellung wurde gutgeheißen. Was hatte Schlüpmann dazu gebracht, Kollegen und Dienstvorgesetze mit Rechtssystem und Sittengesetz (Ehrenkodex) zu konfrontieren? War die zeitliche Koinzidenz der WHV-Mahnung mit den Rechtsbrüchen der Pogromnacht rein zufällig? Vielleicht nicht ganz insofern, als die Abgrenzung der ,Volksgemeinschaft` durch Partei und Staat und das Mißtrauen innerhalb derselben sich zweifellos verschärften, und er wohl mit Recht glaubte, einer Gefährdung seiner Familie offensiv entgegentreten zu können, während ,Nichtvolksgenossen` diese Chance einfach nicht hatten. In einer Art künstlicher Transparenz seiner Motive und Handlungen sah er einen Schutz. Daher auch wurde für alle Fälle ein umständliches ,Protokoll` der kleinen Schritte angelegt:

"Am 10. November erhielt ich zwischen 10 und 11 Uhr das bei der Anzeige in Abschrift vorgelegte Schreiben. Unmittelbar darauf wandte ich mich mit dem Schreiben an Herrn Kollegen Rittershaus als den Vertreter des Kollegiums und bat ihn um seine Meinung, ob eine ,Beleidigung für den Führer` vorliege. Herr Kollege Brauneck gesellte sich hinzu. Beide verneinten den Tatbestand einer Beleidigung. Herr Kollege Rittershaus riet mir, den Herrn Kreisbeauftragten für das Winterhilfswerk des deutschen Volkes aufzusuchen. / Nachmittags desselben Tages suchte meine Schwiegermutter, Frau Dinkelacker, in eigener Angelegenheit wegen eines gleichen Schreibens den Herrn Kreisbeauftragten auf. Dabei zog der Herr Kreisbeauftragte von sich aus meinen Namen ins Gespräch, offenbar ohne zu wissen, daß wir verwandt sind, da ihn meine Schwiegermutter erst davon unterrichten mußte. Im weiteren Verlauf betonte der Herr Kreisbeauftragte nach den Aussagen meiner Schwiegermutter noch einmal, daß eine Spende, wie ich sie gegeben hatte, eine ,Beleidigung für den Führer` sei. / Am folgenden Tag, dem 11. November, um ½ 10 Uhr, um die Ehrenfrist von 24 Stunden nicht verstreichen zu lassen, zeigte ich mich bei Herrn Oberstudiendirektor Lake unter Vorlage von 2 Abschriften jenes Schreibens an. Er fragte mich, ob er die Anzeige weiter geben solle. Ich vertrat den Standpunkt, daß er das zu entscheiden habe. Daraufhin entschied sich Herr Oberstudiendirektor Lake für die Weitergabe. / Am 12. November, in einer der ersten Pausen, teilte mir Herr Direktor Lake mit, daß er inzwischen das gleiche Schreiben bekommen habe; darauf fragte ich natürlich, ob meine Selbstanzeige schon weiter gegangen sei; er verneinte das. Nunmehr mußte ich von mir aus darauf bestehen, da ja gegen Herrn Direktor Lake dieselbe Beschuldigung vorlag. / In der nächsten Pause teilte mir Herr Direktor Lake mit, daß Herr Kollege Rittershaus ihn gebeten habe, auf mich einzuwirken, daß ich von einer Weitergabe der Selbstanzeige abstände, ich könnte mir schaden, da ja gegebenenfalls auch ein politisches Gutachten über mich abzugeben sei. Aufs tiefste empört über dieses Ansinnen, in einer Ehrensache irgendwelche anderen persönlichen Rücksichten überhaupt nur mitsprechen zu lassen, stellte ich Herrn Rittershaus in Gegenwart von Herrn Direktor Lake zur Rede. / Herr Kollege Rittershaus bemängelte, daß ich seinem Rat, den Herrn Kreisbeauftragten aufzusuchen, nicht gefolgt sei. Ich erklärte ihm, daß ich mich nach jener Unterredung meiner Schwiegermutter nicht mehr dazu habe entschließen können. Weiterhin bemängelte Herr Kollege Rittershaus, daß ich ihn nicht vor dem Schritt der Selbstanzeige erst gefragt habe. Daraufhin erwiderte ich, daß ich keinen anderen Weg gesehen habe, z.B. habe auch Herr Kollege Brauneck ganz unabhängig von mir diesen Weg für notwendig erachtet. Da er der Ansicht gewesen sei, daß meine Spende keine ,Beleidigung für den Führer` darstelle, würde ich im umgekehrten Falle von mir aus für den angegriffenen Kollegen eingetreten sein. Herr Kollege Rittershaus vertrat den Standpunkt, ich hätte ihn erst darum bitten müssen. Im Verlauf der Gespräche vertrat Herr Kollege Rittershaus weiterhin den Standpunkt, daß das Schreiben von einem einfachen Mann aus dem Volke abgefaßt sei, vielen zugeschickt sei und nicht ehrenrührig sei. Ich wies demgegenüber auf meine Beamtenpflicht zur Selbstanzeige hin. Ich könne nicht überschauen, welche Folgen es haben könnte, wenn später einmal auf die Beschuldigung zurückgegriffen würde. Nach Unterbrechung der Verhandlung, da Herr Direktor Lake und Herr Kollege Rittershaus wegen Unterrichts verhindert waren, legte ich zu Beginn der Weiterführung der Verhandlung die von Herrn Direktor Lake weitergereichte Erklärung ab. Herr Kollege Rittershaus blieb schließlich bei dem Vorschlag, ich möchte mich, anstatt auf der Weitergabe der Selbstanzeige zu bestehen, mit dem Herrn Kreisamtsleiter des NSLB in Verbindung setzen. Ich konnte mich dazu nicht entschließen, da ich mich ja bereits angezeigt hatte."

Die Niederschrift spiegelt exakt die Pedanterie, mit der Partei- und Staatsstellen vorgingen, um Menschen in die Enge zu treiben und mit Unterstellungen anzuklagen.

Es ist nicht klar, wie weit sich Fritz Rittershaus für die neue Repressionswelle der Parteiorgane im Bereich der Schule instrumentalisieren ließ, oder sich voreilig gelegentlich selbst als Kämpfer der Bewegung investierte. Seit Alfred Dinkelacker 1933 ,abgebaut` worden war, lebte die Familie mit finanziellen Einschränkungen. Die wurden zum Teil dadurch aufgefangen, daß Paul Schlüpmann mit seiner Familie im Haus der Schwiegereltern wohnte, und daß Alfred Dinkelacker sein Einkommen um etwa ein Fünftel durch Privatunterricht aufbessern konnte. Sohn Eberhard sah für 1939 seinem Abitur entgegen, war ein begeisterter Segelflieger und ,Scharführer` der Flieger-Hitlerjugend. Seit Beginn des Schuljahrs 1938 (April) hatten seine Eltern Karl Grüter, einen etwa gleichaltrigen Schüler, als zahlenden Gast aufgenommen. Wie sich später herausstellte, gab es von vornherein Einwände gegen Grüters Aufenthalt bei Dinkelackers. Aus einem Bericht, den Otto Blosen am 20.Januar 1939 verfaßte, ist näheres ersichtlich. Blosen hatte am 5. Januar 1939 eine Auseinandersetzung mit Fritz Rittershaus, in der offenbar relativ scharfe Sätze fielen:

"Wenn es Ihnen Freude macht, den Schwiegervater eines Herrn, den Sie hier Ihren Kameraden nennen, wirtschaftlich zu schädigen, dann weiß ich, wie ich mich in Zukunft Ihnen gegenüber einzustellen habe..." - "Ich könnte mir sehr wohl vorstellen, daß ein Schüler sich bei Familie Dinkelacker nicht wohlfühlt." - "Ich kenne Famlie Dinkelacker besser als Sie und weiss, daß Grüter sich da sehr wohl gefühlt hat."

Am 20. Januar wurde Otto Blosen vom Kollegen Johannes Kaspar Blom angesprochen und schrieb das Gespräch und aus der Erinnerung auch die vorstehenden Sätze auf:

"Heute, am 20.1.1939, redete mich Herr Stud.-Rat Blom an, um mir folgendes mitzuteilen: Herr Stud.-Rat Rittershaus habe ihm erklärt, er (Herr Blom) sei doch mit mir befreundet, darum möchte er (Herr Rittershaus) ihm (Herrn Blom) den Sachverhalt in der Angelegenheit Grüter-Dinkelacker mitteilen, er (Herr Rittershaus) stelle ihm (Herrn Blom) frei, das mir mitzuteilen:Er (Herr Rittershaus) habe nie gegen Familie Dinkelacker etwas unternommen, er sei nie irgendwie unkameradschaftlich gewesen. Er habe Grüter früher einmal darauf aufmerksam gemacht, daß bei oder von Familie Dinkelacker nie mit Heil Hitler gegrüßt würde, er (Grüter) habe die Pflicht, Familie Dinkelacker mit Heil Hitler zu grüßen. / Das Ganze sei erst verursacht worden durch die geringe Spende zum Eintopf, Herr Bender sei sehr aufgeregt zu ihm gekommen und habe ihn (Herrn Rittershaus) darauf aufmerksam gemacht. Dann habe der Herr Kreisleiter ihn nach Familie Dinkelacker befragt. Er (Herr Rittershaus) habe darauf erklärt, daß Herr Dinkelacker wegen politischer Unzuverlässigkeit abgebaut sei. Über die Angelegenheit mit Herrn Direktor Stenger könne er nicht Näheres sagen, da er damals noch nicht hier gewesen sei. Dann habe Herr Kreisleiter nach dem Einkommen des Herrn Dr. Dinkelacker gefragt, und er habe erwidert, daß er einen Teil der vollen Pension bezöge und einen Pensionär habe. Da habe der Herr Kreisleiter erklärt, das müsse anders werden. / Jetzt sei Grüter vor den Weihnachtsferien zu dem Herrn Direktor gegangen und habe erklärt, er wolle ausziehen. Der Herr Direktor habe sich dann nach Wohnungen umgesehen, und zwar in irgendeinem anderen als Grüters oder seiner Angehörigen Auftrage, und dabei habe der Herr Direktor auch bei Herrn Stud.-Rat Elfering und bei Frau Prof. Markus angefragt..."

Otto Blosen hatte allerdings den Eindruck, daß Fritz Rittershaus seine Rolle in der Sache habe herunterspielen wollen. Nach Karl Grüters Aussage hatte nämlich sein Mathematik- und Klassenlehrer Rittershaus längst vor der Eintopfspende und danach verschärft Bedenken gegen die Familie Dinkelacker geäußert, die nur als Aufforderung, dort auszuziehen, zu verstehen waren. Anfang November hatte Rittershaus dem Vormund und Onkel Grüters geschrieben, er sehe die Versetzung von Karl gefährdet. Dem stand eine briefliche Anwort Alfred Dinkelackers an Karls Onkel in Berlin entgegen, in der sich Dinkelacker sehr positiv über Karls schulische Arbeiten und Motivation geäußert hatte und mitgeteilt hatte, daß er nach Rücksprache mit Heinrich Lake (der war Karls Englischlehrer) (und Fritz Rittershaus s.u.) die Gefährdung für sehr gering hielte. Veranlaßt durch Rittershaus hatte Lake vor Weihnachten ein Gespräch mit Grüter, und dabei erfahren, daß der Klassenleiter den Schüler drängte, ,etwas zu unternehmen`. Alfred Dinkelacker schrieb am 21. Dezember an den Onkel:

"Ihr Mündel Karl Grüter überraschte uns heute morgen, kurz vor seiner Abreise - er hat uns offenbar bisher nicht damit behelligen mögen- , mit der Mitteilung, daß sein Klassenleiter, Herr Studienrat Rittershaus, wiederholt - seit den ersten Wochen des Schuljahrs und auch schon vor Ihrem Besuche hier in Betzdorf - aus politischen Gründen heraus auf ihn eingewirkt habe, von uns fortzuziehen. Daß solche Bedenken geltend gemacht würden, konnte ich um so weniger ahnen, als Herr Oberstudiendirektor Lake ohne unser Zutun von sich aus Frau Pfeiffer (Karls Großmutter KS) zu uns gewiesen hatte, als sie vor Beginn des Schuljahres für Karl ein Heim suchte. Er sagte nun zwar, daß Herr Rittershaus Ihnen gegenüber diese Bedenken bisher nicht geäußert habe, ob es dem Direktor gegenüber geschehen ist, ist uns aus Karls Äusserungen in der Eile nicht klar geworden. Übrigens hat Herr Rittershaus auch mir gegenüber sie nie angedeutet, obwohl ich ihn vor ein paar Wochen sogar persönlich um Ihres Mündels willen in seiner Wohnung aufgesucht habe. Bei dieser Sachlage fühle ich mich um so mehr verpflichtet, Sie umgehend davon in Kenntnis zu setzen, und Sie zugleich wissen zu lassen, daß es uns unangenehm wäre, wenn Ihrem Mündel aus seinem Aufenthalt in unserem Hause irgendeine Schwierigkeit erwachsen würde. / Wir haben es mit Karl ebenso gehalten wie mit unserem eigenen Sohn, der Scharführer bei der Flieger-HJ ist: wir haben ihn wie in der Schule, so auch zum Dienst in der HJ stets angehalten und wenn es nötig gewesen wäre, würden wir ihn selbstverständlich auch darüber hinaus zu allen Pflichten gegenüber dem nationalsozialistischen Staat angehalten haben. Dementsprechend hat Karl, wie er sagt, die Bedenken seines Klassenleiters vor diesem selbst von sich aus zu zerstreuen versucht. Mir ist auch nichts bekannt geworden, daß Karls Verhalten in politischer Hinsicht zu irgendwelchen Beanstandungen Veranlassung gegeben hat. Im übrigen darf ich bei dieser Gelegenheit noch anmerken, daß ich seit Anfang Oktober d. Js. als Luftschutzblockwart auf den Führer vereidigt bin..."

Anfang Januar hatte Heinrich Lake bei einer Begegnung mit Alfred Dinkelacker auf der Straße sein Bedauern geäußert, daß von Karl verlangt werde, auszuziehen. Als dann ein anderer Onkel, Finanzpräsident in München, einen Besuch in Betzdorf ankündigte, und Karl wohl gemeint hatte, der müsse über die Auseinandersetzungen mit den Parteistellen informiert werden, schickte ihm Alfred Dinkelacker entsprechende Unterlagen und schrieb zur Situation und zu den Vorwürfen:

"Im außerfamiliären Verkehr ist bei uns der "deutsche Gruß" die Regel. Daneben sind bei uns im unmittelbaren familiären Verkehr zur Wahrung des besonderen Charakters des deutschen Grußes die Grußformeln "Grüß Gott", "Guten Morgen", "Gute Nacht", "Guten Tag", "Gesegnete Mahlzeit" u. dergl. üblich. / Mein Ruhegehalt beträgt 52% des Vollgehaltes, das ich bei meiner Entlassung bezog, sodaß ich auf fremde Beihilfe zum Studium meiner Tochter, auf weitestgehende Vermietung meines Hauses und eine meiner Ausbildung nicht entsprechende Nebenbeschäftigung angewiesen bin, deren Einnahmen sich immer in bescheidenem Rahmen hielten und halten werden... / Abgesehen von unserem Lebensunterhalt habe ich monatlich durchschnittlich 180-190 M für mein Haus an Zinsen, Tilgung, Steuern, Unterhaltskosten usw. aufzubringen. Mein Sohn steht vor dem Abitur, so daß´mir die Kosten für seine Berufsausbildung noch bevorstehen..../ Meine Frau und ich sind Mitglied der NSV. Die üblichen 10% der Lohnsteuer habe ich stets an das WHW überwiesen; bei ,Pfundsammlungen` haben wir uns stets in durchaus angemessener Weise beteiligt, ebenso an allen anderen Sammlungen. Bei der 1. Eintopfsammlung dieses Winters gab meine Frau 40 Pf. gemäß der früheren Handhabung, die bisher zu keiner Beanstandung Anlass gegeben hatte. Darauf erhielt ich, wie sehr viele andere aus Betzdorf, von dem Herrn Kreisbeauftragten des WHW Bender das in der Anlage beigefügte Schreiben. Da meine Frau diese Spende von ihrem Wirtschaftsgeld bestreitet, begab sie sich zu dem Herrn Kreisbeauftragten, um ihn über unsere wirtschaftliche Lage aufzuklären. Dieser war aber so erregt, daß ihr dies nur zum geringen Teil gelang. Doch verabschiedete Herr Bender meine Frau mit Händedruck und der Zusicherung, daß die Sache respektiert würde. Damit erschien uns der Fall erledigt..."

Wenn der Münchener Finanzrat je vorgehabt hatte, sich mit den örtlichen Parteistellen auseinanderzusetzen, konnte Dinkelackers ,Dokumentation` ihn wohl nur abschrecken, er schickte sie postwendend zurück, er wolle einzig und allein mit den Lehrern und dem Schuldirektor ,auf ein glückliches Jahresergebnis für Karl hinwirken`. Karl Grüter zog, nicht ohne sein Bedauern und das seiner Angehörigen, zum 1. Februar bei Dinkelackers aus und bestand im Jahr darauf sein Abitur. Ende gut, alles gut?

Vom 14. bis 25. Juni 1939 besuchte Paul Schlüpmann in der ,Schulungsstätte` des Deutschen Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht in Kettwig/Ruhr einen ,Lehrgang für Deutsch`. Im Oktober 1939 wurde er zur Erntehilfe nach Hohensayn ,kommandiert`. Erfuhr jedoch, dort angekommen, daß zwar der Ortsbauernführer einmal Hilfe angekündigt hatte, inzwischen aber die Ernte so gut wie eingebracht sei und Hilfe nicht mehr vonnöten.

"Wenn Sie nicht anders verfügen, werde ich also morgen meinen gewohnten Dienst wieder aumfnehmen"

schrieb Schlüpmann am 2. Oktober an seinen Dienstvorgesetzen.

Mit den deutschen Kriegszügen erreichte die ,Opfer`-Propaganda` neue Dimensionen. Am 17. Juni 1940 schickte der Ortsgruppenleiter der NSDAP ein hektographiertes Schreiben:

"Am 22. u. 23. ds. Mts. findet die 4. Sammlung für das Kriegshilfswerk des Deutschen Roten Kreuzes statt. / Dein Kamerad, Dein Mann, Dein Vater, Dein Sohn, Dein Bruder - sie kämpfen, bluten und siegen für Dich! Was Du dem Kriegshilfswerk für das Deutsche Rote Kreuz gibst, das gibst Du für sie. Du gibst es für den Sieg und die Zukunft Deutschlands! Du gibst es für Dich und Deine Kinder!!! / Das Ergebnis Ihrer bisherigen Zeichnungen gibt mir Veranlassung, Sie zu bitten, sich ernstlich zu prüfen, ob Ihre Spende in Einklang zu bringen ist mit den einzig dastehenden Taten unserer Frontsoldaten. Haben Sie die Parole des Führers richtig verstanden? Kennen Sie den Mahnruf, der allabendlich durch den Rundfunk geht: Gebt nicht doppelt, sondern gebt ein Vielfaches! Beweisen Sie durch Ihre Spende am 22/23. 6. 40, daß Sie ein treuer Gefolgsmann des Führers sind, damit auch Sie nach dem endgültigen Siege den heimkehrenden Soldaten ohne Schamempfinden ins Auge schauen können."

Wie vielerorts, scheinen die ersten Kriegsjahre auch in Betzdorf das Leben kaum zu verändern. Im Nachhinein ist der Mangel in der schulischen und der familiären Überlieferung an Äußerungen zu und Hinweisen auf die mit dem Krieg hereinbrechenden Katastrophen - ganz zu schweigen von den unter dem Deckmantel des Krieges begangenen Verbrechen - bedrückend. Allerdings ist die Nachfrage nach den Angehörigen ,im Feld` ein ständiger Bestandteil des Briefverkehrs, und die Trauernachrichten lassen, so sie eintreffen, den Krieg bestimmt nicht vergessen. Familie Lake verlor zwei Söhne und den Schwiegersohn im Krieg. Eberhard Dinkelacker kam als Funker und Flieger nach Frankreich und Rußland; der gerade 24 jährige Oberleutnant verlor sein Leben im Januar 1945. Todesanzeigen mit dem ,Eisernen Kreuz` wurden den Zeitungslesern zur Gewohnheit. 1941, bevor die letzte, die Genozidphase des Regimes einsetzte, konnten sich Deutsche auf dem Höhepunkt ihrer ,Welt-`Macht sehen. Als könne sie bestätigen, daß der Krieg sich gelohnt hatte, oder als müsse sie sich ihrer Beamtenschaft noch einmal besonders erkenntlich zeigen, zahlte die Diktatur zum 1. August den noch in der Republik (,Brüningsche Notverordnung`) abverlangten Notgroschen, "die in der Zeit vom 1.7.32 bis 31.5.35 von den Dienst-pp-Bezügen einbehaltenen Beträge" aus. Unter dem 5. Juli 1941 bat Direktor Lake die Kollegen um die entsprechenden Belege.

Paul Schlüpmann wurde im Mai 1943 eingezogen, kam zur allgemeinen Ausbildung nach Trier, zur Ausbildung als Kraftfahrer nach Würzburg und Ende Dezember 1943 nach Osten zu einer Kraftwagen Transport Abteilung (607). Er wurde im August 1944 zum ,Oberkraftfahrer` und noch am 1. April 1945, als in Betzdorf der Krieg schon vorbei war, zum ,Gefreiten` befördert, gehörte dann zum Grenadier Ersatz- und Ausbildungsbataillon 14. Er schrieb häufig, fast ausschließlich an Frau und Kinder, meist von ,Heimweh` bestimmte, für dritte belanglose Sätze. Nach dem ersten Monat ,im Einsatz` kam unter dem 30 Januar, ausdrücklich zum ,Tag der Machtergreifung` der wahrscheinlich einzige Brief mit deutlich anderem Inhalt, konzipiert als ,Sandwich `. Zunächst eine wohl absichtlich einfältige Niederschrift von klischeehaft-einfachen ,persönlichen Beobachtungen`, die jedenfalls vermitteln konnten oder sollten, daß von der Ukraine die Rede war. Dann längere Ausführungen und Gedanken zur eigenen Gemütslage einigermaßen im Klartext, und zum Schluß ein Salat aus abstrus anmutenden Phrasen zur politischen und Kriegslage - herauszudeuten wäre oder war: der Krieg kann noch länger dauern, aber die Sowjets werden siegen. Hoffentlich greifen England und Amerika an, noch könnten wir vor sowjetischer Herrschaft bewahrt bleiben.

"Ich sah die Dorfinsassen heute aus der Kirche kommen in ihren sonntäglichen Kleidern. Das heißt, sie sind heute genau so schmutzig in ihren braunen Schafsfellkitteln wie sonst. Trotzdem bin ich nun schon ,lange` genug hier, um ihre Sonntagskleidung und -haltung von der des Alltags unterscheiden zu können. Auch die Sonntagshaltung ist anders bei ihnen als wochentags, obwohl sie wochentags auch nicht arbeiten. Ihre Bewegungen, ihre Gesichter drücken irgendwie auf primitive Weise aus, daß sie um den Feiertag wissen, das ist so ungefähr das einzige für mich Wahrnehmbare, was sie übers Tier erhebt, sie leben ja sonst wie das liebe Vieh, das sie nur ganz notdürftig versorgen, wiewohl sie das junge Kalb liebevoll mit in ihre Schlafkajüte nehmen. Sie schlafen, wenn's ihnen gefällt, wenn's dunkel wird, um 4 Uhr schon mal, und stehen auf, wie's ihnen gefällt, mitten in der Nacht. Neulich hatte sich der noch nicht mal halbwüchsige Junge zum Gaudium der ganzen Familie total besoffen im Kuhstall neben die Kuh schlafen gelegt. Der Alkohol spielt hier überhaupt eine große Rolle bei Eingesessenen wie bei den Landsern, die ja mit den Eingesessenen aufs engste zusammenleben; denn die Eingesessenen tun ja eingedenk der bolschewistischen Schreckensherrschaft sehr deutschfreundlich, da wir ihnen die Kirche lassen. Mit dem Popen, der in der bolschewistischen Ära nach Polen geflüchtet war, habe ich auch schon "Bekanntschaft" gemacht. Es geht mir, wie gesagt, augenblicklich sehr gut, wenn nur die leidigen Wachen nicht wären, mit denen wir ziemlich stark behelligt werden. Die letzte Nacht hatte ich wieder Wache, den Mangel an Schlaf spüre ich. - Gestern abend habe ich den Anfang von ,Bergkristall` gelesen, nur die Schilderung der Örtlichkeit, viel kann man ja nicht lesen, da es immer dunkel ist. Ich liege dann auf meinem Strohlager - das Stroh wird nicht ausgewechselt und bei Tage trottet man mit Mistschuhen drauf herum - auf dem Erdboden an der Wand, an der eine Bank entlang läuft. Darauf steht dann mein spärliches Hindenburglicht. Aber ich habe gestern abend das starke Bedürmfnis gehabt, die Stelle laut zu lesen und all die feinen Gemütsregungen im Widerspiel mit der Gesetztheit, hörbar zu machen. Es ist mir gestern abend wie nie zuvor aufgegangen, wie fein und in den Gemütsregungen mannigfaltig und bunt wie ein Kaleidoskop die Stelle ist. Lies sie daraufhin doch auch noch mal in meiner Ausgabe. Oder hast Du sie schon so in Erinnerung? Für mich war es gestern ein kleines Erlebnis, und das gehört auch zu dem was mir gut tut, denn das merke ich doch immer mehr, ... das Soldatsein zerrt doch auch innerlich an mir gewaltig herum. Dabei bin ich in meinen Ansprüchen für die Zukunft nicht im geringsten bescheiden. Ich wünsche so sehnlichst, daß meine junge Mama und meine kleinen Kinder einen innerlich ungebrochenen Papa wiederkriegen. Ihr habt von mir ja noch so herzlich wenig gehabt. Wenn's gelingt, dann bin ich zwar an Verstandeserfahrungen nicht - denn dem Verstand lagen die Dinge, die ich hier erfahre, wirklich schon vorher klar - aber an Gemütserfahrungen reicher. Es ist eben, was ich vorher auch wohl schon gewußt habe, eine andere Sache, etwas denkend zu wissen und etwas mit allen Fasern durchlebt zu haben. Lange wird der Krieg nicht mehr dauern. Eben haben wir, soweit wir bei der Kompanie sind, die Führerrede (zum Jahrestag der ,Machtergreifung` KS) gehört. Ihr auch? Sie war kurz und ohne wesentliche Invektiven, im Wesentlichen enthielt sie eine freundliche Warnung an England vor dem Bolschewismus, fünf Minuten vor zwölf. Würde Rußland siegen, wäre England nicht Amerika, sondern dem furchtbaren Bolschewismus ausgeliefert, vor dem es noch bewahrt bleiben kann..."

Stifter beschrieb sein Dorf Gschaid im Gebirge, die umgebende Natur in den Jahreszeiten, ,sie`, die Bewohner in ihrem festen Lebenshorizont mit dem Blick des Beobachters am Fernrohr. Weniger eine idyllische, als doch eine friedliche Welt, insofern vielleicht ein Fluchtpunkt für den Soldaten.

Mit seiner Neujahrsrede 1944 hatte Hitler den ,Kampf bis zur letzten Konsequenz` (Titel der Siegener Zeitung vom 3. Januar) beschworen. Wie man in Betzdorf über die Kampfparolen des Führers dachte, geht aus Alfred Dinkelackers unbekümmerten Randnotizen hervor. Hitler:

"Das Ziel unseres Kampfes ist bekannt. Es ist kein anderes, als unserem Volke, das er (die Rede ist vom ,Herrgott` KS) selbst geschaffen hat, das Dasein zu erhalten"

Dinkelacker notierte am Zeitungsrand "Und die Juden?". Die Sätze zur ,Ausrottung` fehlten auch in dieser Hitler-Rede nicht.

Die generelle ,Kriegserfahrung`, auf den ,Feind` oder überhaupt einen anderen Menschen zu schießen, hat Paul Schlüpmann nicht gemacht. Im August 1944 war aus einem Brief auch zu schließen, daß er sich mit dem Kommandeur auf ,keine Karriere` habe einigen können. In Anbetracht der Gegend, in der seine Truppe operierte, läßt die Bezeichnung ,Transportabteilung` unwillkürlich den Gedanken an den Völkermord aufkommen, der ja 1944 andauerte. Es wäre im Zweifelsfall nachzuprüfen, welche Aufgaben seine Abteilung übernommen hat. Ihm selbst zufolge und allem Anschein nach, keine ,besonderen`. Das heißt nicht, daß er dem unmittelbaren Augenschein aller Greueltaten entgehen konnte. Unter dem 13 August 1944 hieß es in einem kurzen Brief:

"hatte ich erschütternd erhabene Bilder des totalsten Kriegseinsatzes vor mir. Es ist richtig, daß es so gemacht wird. Namentlich die Stabilisierung der Ostfront ist ja nach den Worten des Führers die vordringlichste Aufgabe. Viel Schlaf habe ich letzte Nacht wieder nicht bekommen, das ist ja an sich längst nicht das schlimmste, aber tatsächlich meine größte Leistung, daran kannst Du ermessen, daß insgesamt der Dienst nicht schwer ist."

Im Klartext bedeuteten die Sätze wohl, daß vor seinen Augen auf erschütternde, erniedrigende (,erhabene`) Weise gemordet und gebrandmarkt wurde und daß das ganz und gar nicht richtig war.

Einmal noch, im Oktober aus Javorzno bei Katowice, konnte er mit Betzdorf telephonieren, bis zum 9. Februar 1945 dauerte der Briefkontakt. Dann riß der ab, und das erste Lebenszeichen nach dem Krieg kam mit einer Postkarte des russischen Roten Kreuzes zu Ostern 1946. Nach seiner Heimkehr war zu erfahren, daß er im April 1945 unweit der Elbe gefangen genommen wurde und bis Ende September 1946 in der Nähe von Odessa zunächst im Lager, später im Lazarett gewesen war. Gefangenschaft und Begegnung mit ,den Russen` waren für ihn nicht oder nicht nur traumatische Erfahrungen. Heimgekehrt und wieder im Schuldienst, war es eines seiner ersten Anliegen, von den Texten eines Musiktheaterstücks, daß zwei Musiker und er im Lazarett erfunden und mit selbstgebauten Instrumenten aufgeführt hatten, ein Typoskript anzufertigen. Eine mit Gedicht- und Liedversen aus der Erinnerung komponierte ,Hungeroper` mit dem Titel "Hänsel und Gretel".

Als Schlüpmann im April 1949 - dann achtundvierzigjährig - von Betzdorf wegstrebte, bat er Freunde um ein Gutachten und schrieb rückblickend:

"Pg (Parteigenosse KS) war ich nicht, obwohl man es auch hier nicht, auch bei mir persönlich nicht, an Erpressungsversuchen hat fehlen lassen. Dem NSLB gehörte ich mit allen Kollegen als Mitglied an, nachdem der Kreisleiter auf einer Lehrerversammlung, zu deren Besuch ich dienstlich angewiesen war, mit völlig pensionsloser Entlassung aus dem Dienst gedroht hatte. Über seine diesbezüglichen Machtbefugnisse waren wir völlig im Unklaren gehalten. / Nach den Angaben des "Öffentlichen Klägers" mußte ich als Blockwart der NSV "amnestiert" werden. Ich habe das hingenommen. Gemäß Dienstanweisung habe ich im Dienst den Hitlergruß angewendet und meine Distanz zum Nationalsozialismus zugleich öffentliches Geheimnis werden lassen. / Ich habe meinen Dienst einem Martyrium vorgezogen, vielleicht mir zuliebe, sicher meiner Familie zuliebe, die mit zwei Dienstentlassenen (Schwiegervater und Schwager) bereits belastet war, und auch meinen Schülern zuliebe, die es vor falscher Erziehung möglichst zu bewahren galt. / Mit dem Religionsunterricht ging es mir wie mit den 9 kleinen Negerlein: Wir waren 4 Religionslehrer, der eine starb, da waren wir nur noch drei, der zweite legte seinen Religionsunterricht nieder, dar waren wir nur noch zwei, der dritte war eine Frau. Sie hätte damals so gern, wie sich jetzt herausgestellt hat, Religionsunterricht erteilt, aber sie mußte damals ausgerechnet zur Zeit des Religionsunterrichts Essen kochen und konnte darum nicht (Das ist kein Scherz), "da waren's nur noch eins", und das war ich. / Ich gehöre zu den Schulmeistern, für die die Pädagogik bei Pestalozzi sozusagen erst anfängt, aber auch wirklich anfängt. Solche Schulmeister wissen dann auch, daß es keine echte erzieherische Gesinnung ohne demokratische Gesinnung gibt. Mein Vaterland liebe ich nicht wie der Feldherr, sondern wie ich den Erdenfleck liebe, an dem ich hafte, meinen Wirkungs- und Lebenskreis und die großen Leute."

* * *

Querelen aus dem Alltag der Diktatur mögen zeigen, bis zu welchem Grad der öffentliche Widerspruch ins Absurde verdrängt war, mit welchem Verlust an Würde der Erhalt von Handlungsspielräumen und unter Umständen die Existenzgrundlage erkauft wurden, und wie mit einer ,Sklavensprache` Ergebenheit vorgetäuscht wurde. Ablehnung schien sich nur noch auf das Unmittelbare zu konzentrieren, auf die Schikanen, denen man sich persönlich ausgesetzt sah. Organisierter Widerstand, der sich vom Überblick über die kriminellen Handlungen des Regimes hätte leiten lassen oder leiten ließ, war unweigerlich mit Tarnung und zweckdienlicher Heuchelei verbunden. War daran in der Schule und mit heranwachsenden jungen Menschen auch nur zu denken? Dem Wissen um die Pädagogik entsprach wohl eher ein Bemühen, im engeren Wirkungskreis ,religiöse`(s.u. ,Religionspädagogik`) und erzieherische Einsichten so transparent wie möglich zu vermitteln. Da, wo das gelingen konnte, mußte zugleich klar werden, wie wenig damit praktisch gewonnen war, Selbstgerechtigkeit war nicht angebracht. Bei der gängigen Rechtspraxis und -theorie war ein konkretes Rechtsbewußtseins unwirklich, Unterrichts- und Lernziele konnten in Überlegungen zur Persönlichkeitsbildung, zur individuellen Ethik, in allerlei Ich-stärkenden Erfahrungen liegen. Eben darin, verkürzend gesagt, das faschistische ,Überich` zu schwächen - und auch nicht etwa durch ein alternatives, ebenso zur Selbstaufgabe aufforderndes, zu ersetzen. Speziell im Religionsunterricht lag eine Chance darin, der ,Eigenverantwortlichkeit` mit sozialethisch einsichtigen, nicht einfach und autoritär ,schriftbezogenen` Maßstäben gegen den Druck des Kollektivs aufzuhelfen.

So wenig wie das Machtgefüge einheitlich war - man spricht heute gern von einem ,Machtkartell` - , so wenig ließ die Diktatur andererseits Gegenöffentlichkeiten zu. Aber die Einschränkung der Versammlungsfreiheit und die Gleichschaltung und Veranstaltung der ,Kulturproduktion` waren nicht immer und überall gleichermaßen ,total`. Halböffentlich konnten im ,Haus Dinkelacker-Schlüpmann` in den anfänglichen Kriegsjahren ,Hauskonzerte` stattfinden. Das hektographierte, maschinegeschriebene Programmblatt, das im Bekanntenkreis zum fünften dieser Konzerte einlud, hat sich erhalten. Am Sonntag den 19. April 1942, 16 Uhr musizierten Heinz Wiechert, Violine, Grete Jordan, Violine, Gustav Siebenborn, Cello und Dr. Joachim Herrmann, Klavier. Das G-dur Quartett von Karl Philipp Emmanuel Bach, Joseph Haydens Duo für zwei Violinen in B-dur und das Beethoven Klaviertrio Es-dur bildeten die ,Vortragsfolge`. Die Musiker gastierten zum öffentlichen Konzert in Siegen, das Hauskonzert war ein ,Abstecher`. Der Kreis der Zuhörer war vermutlich nicht sehr groß, die Räumlichkeiten boten zwanzig bis dreißig Menschen reichlich Platz. Der Bekanntenkreis war durch die politische Diskriminierung seit 1933 entschieden eingeschränkt, umfaßte aber keineswegs nur Regimekritiker. Vermutlich war den Gastgebern nicht zuletzt daran gelegen, mit solchen kulturellen Treffen der sozialen Diskriminierung zu begegnen oder ihr vorzubeugen. Politik kam im engeren Kreis zur Sprache. Diesem Kreis galt Heinz Wiechert, der Violinist, der in Berlin zu hause war, als gut informiert und als regimekritisches ,Orakel`.

Paul Schlüpmann hatte bis 1933 etwa drei Meter an theologischer und mehr als zehn Meter an Werkausgaben und germanistischer Literatur zusammengetragen, dazu der ,republikanische Meyer`, die 6te, in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik erschienene, Auflage des großen Lexikons. Bis 1945 kam wenig hinzu, nur etwa Peter Gan, Die Windrose (Gedichte) 1935, Oskar Loerke, Der Wald der Welt (Lyrik), 1936, oder zwei Bände Reinhard Buchwald, Schiller 1938 und, wie oben gesagt, monatlich bis 1938 ,Die Neue Rundschau` (RM 20.- pro Jahr). Aber in der Familie wurden Neuerscheinungen von Rudolf Binding, Hans Carossa, Hermann Hesse, Ricarda Huch, Ernst Jünger gelesen und auch die ein oder andere Novelle von E.G. Kolbenheyer. Besonderes Interesse fanden, nach der Anzahl der vorhandenen Bände zu urteilen, die Bücher von Ernst Wiechert (1887-1950). In der 1936 bei Langen und Müller in München erschienenen autobiographischen Erzählung Wälder und Menschen liegt bis heute, irgendwo mit der Maschine abgetippt, das Manuskript der zweiten seiner damals bekannten Reden vor Münchener Studenten, Der Dichter und die Zeit, vom 16. April 1935:

"... Es ist vor einiger Zeit in einem vom Philologenverband herausgegebenen Buch ein Aufsatz eines Oberstudiendirektors über den kommenden Deutsch-Unterricht erschienen, in dem diese Absicht der Weltveränderung unverhüllt ausgesprochen ist. Es hat nämlich dieser wild gewordene Volkserneuerer in seinem Aufsatz gefordert, daß fortan die Jugend zu einem neuen Heldentum erzogen werden müsse. Und zwar sei es hinfort ganz gleichgültig, ob der Held einer Dichtung oder eines Lebenskreises edel oder unedel, böse oder gut handle, sondern es komme allein darauf an, daß er überhaupt handele. Und es sei ferner eine Forderung überwundener Zeiten, daß die Jugend zur Ehrfurcht vor sittlicher Größe geführt werde, weil die Jugend von heute auf der Schule bereits - von der Universität ganz zu schweigen - dahin zu führen sei, daß sie - ich zitiere - "mit kaltem Blick die Anarchie der amoralischen Welt bejahe" ... Wenn in mir ein Stück Gewissen der Nation lebt - und ich fühle schmerzlich genug, wie sehr es das tut - dann kann es mir nicht gleich sein, ob eine Jugend in "Goethescher Ehrfurcht" heranwächst, oder ob sie "mit kaltem Blick die Anarchie der amoralischen Welt" bejaht. Von "Helden" ist in aller Dichtung die Rede, aber daß gleich sei, ob sie edel oder unedel handeln, das kann wohl Fallada und sein Johannes Güntzschow behaupten (von anderen Beispielen zu schweigen), aber das hat keiner von denen behauptet, aus denen sich die deutsche Seele seit Jahrtausenden gespeist hat, weder der Dichter des Hildebrandliedes noch Adalbert Stifter (und dieser war doch sogar ein Schulrat) ... Ja, es kann wohl sein, daß sein Volk aufhört, Recht und Unrecht zu unterscheiden und daß jeder Kampf ihm "recht" ist, aber dieses Volk steht schon auf einer jäh sich neigenden Ebene und das Gesetz seines Untergangs ist ihm schon geschrieben. Es kann auch sein, daß es noch einen Gladiatorenruhm gewinnt und in Krämpfen ein Ethos aufrichtet, das wir ein Boxerethos nennen wollen. Aber die Waage ist schon aufgehoben über diesem Volk, und an jeder Wand wird die Hand erscheinen, die die Buchstaben von Feuer schreibt...."

Ernst Wiechert war in der Diktatur ein vielgelesener Autor. Er war 1914-1918 Soldat und Offizier und 20 Jahre lang Lehrer an höheren Schulen gewesen, als er 1933 diesen Beruf aus Gesundheitsgründen und zugunsten des Schreibens aufgab. Er wurde 1938, als er öffentlich gegen die Verschleppung Martin Niemöllers protestierte, zwei Monate in Buchenwald inhaftiert und erhielt Publikationsverbot. Seine Bücher wurden weiter verkauft und gelesen.


[1] Peter Brückner, Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945, Berlin, Wagenbach, 1980, S.44

[2] Der Abschnitt von einer A4-Seite ist handschriftlich an ,Elfriede Noeckel` adressiert, die ein häufiger, bei Erwachsenen und Kindern gern gesehener Gast in Betzdorf war.

[3] Hier nur ein Satz aus dieser Arbeit, der etwas von der Komplexität solcher Wissenschaft erkennen läßt: " So ist die synoptische Parabole (in griechischer Schrift KS) nichts anderes als eine Übersetzung des hebräischen Maschal (in hebräischer Schrift KS), und Jesus wie die Synoptiker werden die Parabeln Jesu in keine andere Kategorie eingeordnet haben als in die des jüdischen Maschal". Der Marburger Theologe Rudolf Bultmann beurteilte mit III und schrieb zusammenfassend: "Die Arbeit zeigt große Vorzüge und daneben manche Schwächen. Der Verfasser hat wohl die Aufgabe richtig erfaßt und die Probleme im wesentlichen erkannt. Er zeigt auch ein gesundes und selbständiges Urteil, aber er hat - von einzelnen Ungeschicklichkeiten der Darstellung abgesehen - seine Untersuchungen und Ergebnisse nicht zu einer rechten Einheit zusammenzufassen vermocht. Recht gut sind die Abschnitte über die Begriffsbestimmung, weniger klar ist seine Einsicht in die Geschichte der Überlieferung der synoptischen Gleichnisse. Die eigentliche Exegese zerfällt in glossatorische Bemerkungen und analytische und konstruktive Reflexionen, so daß die rechte Überzeugungskraft fehlt. Sehr ungeschickt ist die Einleitung." In seinen Begriffsbestimmungen hatte Schlüpmann geschrieben: "...kann sich die Allegorie um einen Schritt mehr als das Rätsel dem völlig Durchsichtigen nähern. Görres` "Athanasius" und David Strauß` "Julian" dürfte wohl niemand mißverstanden haben". Dazu die Fußnote:" Ich habe allerdings beide nicht gelesen". Prompt kommentierte Bultmann: "Dann hätte der Verfasser auch nicht so urteilen sollen."

[4] Gelegentlich verfaßte er kurze Berichte für Religionspädagogische Zeitschriften: "Religionspädagogische Tagung in Essen", (Gesellschaft für evangelische Pädagogik, 700 Teilnehmer) , Z.f.d. ev. Religionsunterricht 39, 1928, S.270-75, "Barth über David Friedrich Strauß" (Tagung der ev.ak.geb. Religionslehrer(innen) in Hamm), Monatsblätter für den ev. Religionsunterricht 1928, 7/8, S. 184-87, "Die Religiosität der Nachkriegsjugend", Ebendort, 1929, 7/8, S. 181-82. Auch einmal eine Theaterkritik: "Ein Volksspiel vom Helden Siegfried. Grundsätzliches zu der Krug'schen Bearbeitung von Hebbels Nibelungen-Drama für die Landesheimatspiele Witten", Nr. 139 eines (Dortmunder?) Lokalblatts vom Sonntag, 20.5.1928. Dem Manuskript der Keller-Arbeit gab er um 1950 den Titel: "Der weltanschauliche Gehalt der Lyrik Gottfried Kellers, im Zusammenhang der deutschen Lyrik unter gelegentlicher Berücksichtigung der Prosa untersucht."

[5] Zum Tod seines Freundes 1966 schrieb er: "Im Betzdorfer Gymnasium trafen wir einander nach den Osterferien des Jahres 1930. Er hatte hier bereits ein halbes Jahr zuvor seine ,Lebensstellung` erhalten. Ich trat meine jetzt erst an ... Wir waren jung, Junggesellen und beide voller Hofmfnungen in Bezug auf unser künftiges Berufswirken. Es war ja die Zeit, als eben ein neuer Schwung in die Pädagogik gekommen war, der uns jungen Pädagogen Auftrieb gab. Ich besuchte ihn bald außerhalb des Dienstes in seiner Wohnung. Ein Neues zeigte sich mir. Er bewohnte -abgelegen von unserem ,Kulturzentrum` in einem Neubau eine ganze Etage. Die Bilder und die Worpsweder Möbel verrieten seinen eigenen Geschmack, die überraschend umfangreiche, vielseitige Bibliothek, der Stutzflügel, der Plattenspieler, die Meerschweinchen und das Aquarium, Hund Ingo und die Mannigfaltigkeit der Zimmerpflanzen seine häuslichen Passionen. Es gab da nichts, was nicht zu ihm gehörte. In seiner Küche war er sein eigener Koch, dessen Künste wahrzunehmen, ich später noch häufig Gelegenheit haben sollte, als unser Verhältnis über das der Kollegialität hinausgewachsen war und sich mit anderen ein kleiner Zirkel gebildet hatte ... Er spielte Beethoven, Schuman (die ,Kinderszenen`) Chopin und Brahms. Er intonierte beste volkstümliche Lieder, eins nach dem anderen. Es ist mir, als hätte ich Musik nie so unmittelbar jubeln hören wie dann, wenn er ,Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit` erklingen ließ, und nicht die Meisterkonzerte im großen Konzertsaal, deren ich immerhin einige im meinem Leben gehört habe, sondern sein Spiel war mir später in schweren Augenblicken meines Lebens gegenwärtig."

[6] Tübingen 1921, S. 337

[7]Paulus " ...hat auch das Herrenmenschentum des Pneumatikers (Neoplatonikers KS) trotz gelegentlicher Ausbrüche überwunden oder wenigstens bewußt abgelehnt... Dennoch wären unsere Ausführungen unvollständig, wenn verschwiegen würde, daß auch Paulus die alten Werte noch nicht ganz überwunden hat. Natürlich kann es sich hier nicht darum handeln, ihn zu richten und seinen Selbstverteidigungen, zumal im 2. Korintherbrief, nachzuspüren, wie weit sie doch auf die Anerkennung seiner Person und Wirksamkeit und nicht bloß auf das Beste seiner Gemeinde und ihre Bestimmung zum Heil hinauslaufen. Wohl aber müssen seine Aussagen geprüft werden auf die Höhenlage ihrer Wertungen. Und da kann kein Zweifel sein, daß er ... die Ehre, auf die er bei den Menschen verzichtete, doch wieder bei Gott gesucht und den Ruhm, den er von Menschen nicht wollte 1 Kor. 1, 31; 3, 21, doch von Gott gewünscht und fast kindlich ersehnt hat 1 Kor. 9,15 ff. ... In den Verkehr mit Gott verweist er und dort billigt er auch ein mystisches Sichausleben, das den Menschen nicht dienen kann, 1.Kor 14,18 f. Und wenn ihm auch alle Zungenrede ,ohne Liebe` und in der Gemeinde ohne Auslegung ,nichts` ist, so hat er sich doch durch sie und alle seine wunderbaren Erlebnisse von Gott ausgezeichnet empfunden und frohlockend gesagt: "Ich danke Gott, daß ich mehr als ihr alle mit Zungen rede" 1.Kor 14, 18. All das zeigt, daß auch Paulus noch nicht ganz ,die Welt` überwunden hat."

[8] Heinrich Weinel hatte als Vorstandsmitglied der Hauptversammlung des Bundes für Reform des Religionsunterrichts in Dresden 1912 Leitsätze zur Reform vorgelegt und begründet. Die Anliegen waren damals unter anderem das Zusammenwirken mit der Kirche, aber die Aufhebung des rechtlichen Zwangs der ,Aufsicht`; eine pädagogische Ausrichtung des Unterrichts die den Unterschieden je nach Altersgruppen- und individueller Rezeptionsfähigkeit stärker Rechnung trug. Bei gleicher Gelegenheit hatte ein anderer Reformer, Friedrich Niebergall, zum Thema ,Religionsunterricht und Konfirmandenuntericht` die Losung ,unterscheiden und verbinden` ausgegeben.

[9]Der "Altfreundeverband" wurde in der Bundesrepublik zur "Evangelischen Akademikerschaft" Vgl. K.Kupisch, Studenten entdecken die Bibel. Die Geschichte des DCSV, Hamburg, 1964

[10]Nationalistische Protestantenvereine gab es schon lange. Seit 1931 existierte ein NS-Pfarrerbund. Seit 1929 nannten sich Thüringer Nationalprotestanten ,Deutsche Christen`. Zu den Kirchenwahlen im November 1932 (Altpreußische Union) traten die Deutschen Christen (DC) als Kirchenpartei an. Den Vorsitz hatte der ,Führer` des NS-Pfarrerbundes, Joachim Hossenfelder. In den Richtlinien der DC vom 26. Mai 1932 hieß es u.a. "Wir bekennen uns zu einem bejahenden, artgemäßen Christus-Glauben, wie er deutschen Luther-Geist und heldischer Frömmigkeit entspricht... Wir verlangen eine Abänderung des Kirchenvertrages (politische Klausel) und Kampf gegen den religions- und volksfeindlichen Marxismus und eine christlich-sozialen Schleppenträger aller Schattierungen...Wir sehen in Rasse, Volkstum und Nation uns von Gott geschenkte und anvertraute Lebensordnungen, für deren Erhaltung zu sorgen uns Gottes Gesetz ist. Daher ist der Rassenvermischung entgegenzutreten... In der Judenmission sehen wir eine schwere Gefahr für unser Volkstum. Sie ist das Eingangstor fremden Blutes in unseren Volkskörper...Wir lehnen die Judenmission in Deutschland ab, solange die Juden das Staatsbürgerrecht besitzen und damit die Gefahr der Rassenverschleierung und Bastadierung besteht. Die Heilige Schrift weiß auch etwas zu sagen von heiligem Zorn und versagender Liebe. Insbesondere ist die Eheschließung zwischen Deutschen und Juden zu verbieten."

[11]Die Marburger Fakultät wandte sich in einem Gutachten (mit 21 Unterschriften, Rudolf Bultmann war maßgeblich beteiligt) gegen die Diskriminierung: Rassengesichtspunkte seien für Christen bedeutungslos. Paul Althaus und Werner Elert in Erlangen verfaßten ein Gegengutachten: wenn aus einer Missionskirche eine Volkskirche entstünde, wähle man die Geistlichen ja auch aus den eigenen Reihen.

[12]Protest gegen die Verfolgung und später gegen den Völkermord und vor allem Hilfeleistungen blieben im wesentlichen Sache Einzelner, darunter manche Amtsträger (Dietrichs Bonhoeffers Text "Die Kirche vor der Judenfrage" vom April 1933, Theophil Wurms Proteste gegen Euthanasie, Verfolgung der Juden und Massenmord, Pfarrer Asmussens (Hamburg) Fluchthilfe). Allerdings beschloß die Synode der Altpreußischen Union am 5. März 1935 eine Kanzelerklärung gegen die Rassen- und ,neuheidnische` Ideologie. 700 Pfarrer wurden vorübergehend verhaftet. Vgl. auch: Friedrich Wilhelm Graf, "Wir konnten dem Rad nicht in die Speichen fallen. Liberaler Protestantismus und "Judenfrage" nach 1933" in: Jochen-Christoph Kaiser, Martin Greschat Hg., Der Holocaust und die Protestanten, Frankfurt, Athenäum 1988.

[12a] Krummacher, der schon 1933 mit einer Schrift "Weltwirtschaftskrise und Christentum" nicht hinreichend eindeutig der Parteilinie (Alfred Rosenbergs) gefolgt war (die Publikation wurde beschlagnamt), fiel in Berlin mit diesem Brief neuerlich auf. Ab Januar 1935 bekleidete er keine politischen Ämter mehr, wurde (straf-)versetzt, erst nach Hildesheim, bald darauf nach Schleswig. Der Weltkriegsoffizier, (Verwaltungs-) Jurist (Dr. jur et rer. pol.) trat 1930 in die NSDAP ein, bekleidete 1933-1935 mehrfach kurzfristig Parteiämter auf Reichsebene und war dort zugleich engagierter Synodaler der protestantischen Kirchen. Vom 20.September 1939 bis 11. Januar 1940 war er Kriegsverwaltungsjurist in Polen, anschließend Frontsoldat, letzteres, nach eigener Aussage wegen abzusehenden, mit seiner (christlichen) Überzeugung nicht zu vereinbarenden, "Amtspflichten" und obwohl Vater von fünf Kindern. (zuletzt geändert April 2012: ich danke Frau Dr. Hildegard Westhoff-Krummacher für ergänzende und den Hinweis auf falsche Angaben. (Persönliche Mitteilung Frühjahr 2012)

[13] Vgl. a. die Kritik an Wilhelm Niemöllers historischer Darstellung in Friedrich Baumgärtel, Wider die Kirchenkampflegenden, Neuendettelsau, Freimund, 1959

[14] Die ,Barmer Erklärung` der BK war (im Anschluß an Barths und Webers Gegenthesen zu den Rengsdorfer Thesen der DC) von der (,neoorthodoxen`) Offenbarungstheologie Karl Barths geprägt. Barth war 1933 politisch wie theologisch ein entschiedener Gegner der Nationalsozialisten und der Reichskirche. Gegenüber Jungreformatoren und Teilen der BK vertrat er einen entschiedenen Machtverzicht der Kirche. Der Bonner Professor verlor sein Amt Ende 1934 und ging nach Basel. Die Barmer Erklärung sprach von "die Kirche verwüstenden und damit auch die Einheit der DEK sprengenden Irrtümer der Deutschen Christen und der gegenwärtigen Reichskirchenregierung". Rasse, Volk, Nation wurden im Text mit Bedacht nicht benannt: "Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen ... Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde befohlenen Dienstes. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben oder geben lassen... Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen ..."

[15] Paul Althaus, Obrigkeit und Führertum. Wandlungen des evangelischen Staatsethos in Deutschland. Gütersloh, Bertelsmann, 1936

[16] W. Sch. "Die geglaubte und die verfaßte Kirche. Eine Vorfrage zur Wahl der verfassunggebenden Generalsynode", Protestantenblatt 70, 1937, Nr. 10, Sp.144

[17] Ebenda, Sp.145

[18]Günther van Norden Hg., Der Kirchenkampf im Rheinland, Köln 1984, S.52; an anderer Stelle dort auch, daß der damalige Superintendent des hiesigen Kirchenkreises, Pfarrer Heckenroth / Altenkirchen, im Frühjahr 1934 zwar nicht von der Kanzel gegen die ,Gleichschaltung` protestierte, aber der 43. rheinischen Synode fernblieb und ,wie 33 andere Pfarrer, dem Präses seine Bedenken gegen die Zerstörung der presbyterial-synodalen Ordnung durch die neue Leitung schriftlich mitteilte.

[19]Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München, Hanser, 1986 (Theologians under Hitler, New Haven London, Yale Univ. Press, 1985)

[20]Zitiert nach Robert P. Ericksen, loc.cit, S.203

[21] Zur Ambivalenz des Begriffs s. Martin Greschat, "Adolf Stoecker und der deutsche Protestantismus" in Günter Brakelmann, Martin Greschat, Werner Jochmann, Protestantismus und Politik. Werk und Wirken Adolf Stoeckers, Hamburg, Christians, 1984; der Begriff einer demokratischen Volkskirche, der vom oppositionellen Liberalismus im Kaisereich geprägt war, wurde überschattet vom nationalistischen, staatsfrommen Begriff in der Nachfolge Stoeckers, der in der Deutsch Nationalen Volkspartei (und noch, meinte Greschat, in der anfänglichen CDU) seine Rolle gespielt hat.

[22]Ericksen versuchte Kittel gerecht zu werden und konnte anführen, daß die wissenschaftlichen Arbeiten des Theologen nicht per se, wohl aber in dem gewählten Arbeitszusammenhang (Kittel war Mitbegründer von Walter Francks Institut) zum mörderischen Antisemitismus beitrugen. Kittel äußerte sich zum Pogrom von 1938 ablehnend und mit den Opfern mitfühlend. Zum Genozid hat er erst recht nicht beitragen wollen. Aber er distanzierte sich bis 1945 nicht vom Nationalsozialismus und sah sich bis zuletzt frei von persönlicher Schuld.

[23]Robert P. Ericksen, loc. cit., S.260

[24] Das Konzept der ,Evangelischen Unterweisung` ging auf eine Schrift Gerd Bohnes, Das Wort Gottes und der Unterricht, 1929, zurück

[25] Erich Ludendorff, kaiserlicher Feldherr im 1. Weltkrieg, hatte 1923 mit Hitler sympathisiert, dann seinen eigenen ,Tannenberg-Bund` gegründet, der unter dem Einfluß seiner Frau Mathilde mehr und mehr den Charakter einer religiösen Sekte annahm, die auf der Linie nationaler (und pantheistischer) ,Gottgläubigkeit` lag, wie sie von Teilen des NS-Establishments als religiöse Alternative propagiert wurde. Als eigenständige Organisation wurden die "Ludendorffianer" alsbald nicht mehr geduldet.

[26]Berthold Brecht, "18. Winterhilfe" in Furcht und Elend des Dritten Reiches, 27 Szenen, London, Malik 1938 (nicht erschienen) Gesammelte Werke, Stücke 4, Berlin Frankfurt, Aufbau Suhrkamp, 1988, S.418. Die Winterhilfe-Szene war die zweite der 8 in der Salle d'Iéna in Paris am 21. Mai 1938 unter dem Titel 99% (Wahlergebnis bei der voraufgegangenen Abstimmung zum Anschluß Österreichs) uraufgeführten ,Montage`. Brecht blieb in Dänemark, Helene Weigel reiste an und spielte mit. Die Aufführung war ein überraschender Erfolg.

[27]Kommentar der Brecht-Editoren zum WHW, loc. cit., S.536: "Das WHW war - seit 1933 - eine Sammelaktion (für Geld und Sachwerte) zur Unterstützung hilfebedürftiger Bürger. Seit 1936 wurde das WHW verstärkt dazu benutzt, zusätzliche Mittel für die Aufrüstung zu beschaffen (1937/38: fast 300 Mio RM 1937 und Sachspenden im Wert von über 100 Mio RM)".

 

Religion im Rechtsstaat

Die Laizität, der Gedanke, das Gemeinwesen müsse sich gänzlich unabhängig von religiösen Überzeugungen konstitutieren, hat sich bis heute nur bedingt durchsetzen lassen[1]. Otto Dibelius, damals Generalsuperintendent der Kurmark, später evangelischer Landesbischof Berlin, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Präsident des Weltkirchenrats[2], schrieb 1933 in der ,Neuen Rundschau`:

"Langsam erwächst im neunzehnten Jahrhundert eine gewisse Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat. Der religiös neutrale Staat von Weimar bringt diese Selbständigkeit der Kirche zu einem gewissen Höhepunkt. Aber er nimmt auch der Kirche die organische Verbindung mit dem staatlichen Leben und droht sie zu isolieren. Die nationale Revolution von 1933 wirft das Steuer herum. Die kirchliche Krisis der Gegenwart wird durch diesen Übergang bestimmt. Es wird der ernste Versuch gemacht, ein neues organisches Verhältnis zwischen Staat und Kirche zu schaffen..."

Wie hatte die ,religiöse Neutralität` des Weimarer Staates ausgesehen? Am 17. Juni 1927 schrieb der Abgeordnete, Missionarssohn, Schriftsteller und Oberstudiendirektor Theodor Bohner[3] aus dem Preußischen Landtag eine Postkarte an seinen Parteifreund Alfred Dinkelacker in Betzdorf:

"Sehr geehrter Herr Kollege, wenn man, wie ich, Religionsunterricht für Aufgabe der Religionsgemeinschaften hält, erwartet man doch vom Staat für den Religionslehrer keinen anderen Schutz gegenüber der Religionsgemeinschaft als für den Geistlichen. Ihnen schwebt immer vor, daß der Staat die Aufgabe des Religionsunterrichts hat."

Dinkelacker unterstrich ,Aufgabe der Religionsgemeinschaften` und schrieb dazu "und der Staat soll zahlen?!". Und den letzten Satz Bohners kommentierte er lakonisch mit "allerdings". Religionsunterricht als Aufgabe der staatlichen Schule. Innerhalb der ,Deutschen Demokratischen Partei`, die prominente protestantische Theologen wie Adolf Harnack und Ernst Troeltsch zu ihren Vordenkern zählte, und die sich einst um den Pfarrer Friedrich Naumann versammelt hatte, gab es keine Einigkeit über die Umsetzung der ,Neutralität`. Religiöse Gruppen, große und kleinere, waren (und sind) aus der Gesellschaft nicht wegzudenken, und im Gegensatz etwa zur marxistischen Linken erachteten die liberalen Demokraten Religion oder die Religionen auch perspektivisch als gesellschaftlich unverzichtbar[4]. Wie in der Gesellschaft, so auch in der Schule: sie waren für den Religionsunterricht in der Schule auch im ,neutralen Staat`. Nur daß die einen den Unterricht ,konfessionalisieren`, die anderen ihn möglichst entkonfessionalisieren wollten, die beiden Pole waren die ,konfessionelle Unterweisung` und der ,religionswissenschaftliche Unterricht`. Die Interessenlage und die jeweilige Argumentation der Kontrahenten lassen sich ausmalen. Während die einen die Kompetenz ausschließlich den Religionsgemeinschaften vorbehielten, rückten die anderen, getragen vom Mißtrauen in Sachen gegenseitiger ,Toleranz` der Religionsgemeinschaften, das Staatsinteresse der Erziehung zum friedlichen Zusammenleben in den Vordergrund. Im ersten Fall hatten Lehrer und jeweilige Religionsgemeinschaft zwangsläufig gleiche, im zweiten nicht notwendig gleiche Unterrichtsziele. Praktisch ging es wohl weniger um ein ,organisches` Verhältnis von Kirchen und Staat, als um ein abgewogenes und weitsichtig gesetzlich geregeltes.

Dibelius, wie viele kein Demokrat, hatte seit 1918 seine Hofnfnungen auf die Kirche als antirevolutionären Orientierungsfaktor im Staat gesetzt. Ganz im Gegensatz zu Karl Barth, dem damals neuen Stern am protestantisch-theologischen Himmel. Barth und seine ungleichen Mitstreiter für eine ,dialektische Theologie`, Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten und Paul Tillich waren sich nach 1918 einig, mit der ,orthodox-` konfessionalistischen Auffassung des Kaiserreichs auch der ,kulturprotestantisch-` liberalen ,Staatskirche`, ein Ende zu machen. Jetzt, nachdem die Monarchie, die ihre Untertanen "für Gott und Vaterland" in den Tod geschickt hatte, in der Revolution ihr Ende gefunden hatte[5]. Ihr Programm war eine ,Diastase` von Menschen und Gott, ein sich aus dem Neuen Testament offenbarendes, existentiell gelebtes Christentum, durchaus im Einklang mit einer laizistischen Ordnung der Republik. Allerdings blieb die Frage, ob und wie aus und mit der existentiellen Orientierung am Neuen Testament, einer in Offenbarung und Verkündigung autoritär angelegten Glaubensstruktur die demokratische Bürgerlichkeit im modernen Staat entstehen sollte, zunächst ungeklärt oder umstritten. Eine besonders für Schule und Erzieher brennende Frage, deren Lösung wohl nicht, in einer ,neuen organischen Verbindung der Kirche mit dem staatlichen Leben` liegen konnte, vielmehr in einem unorganischen Spannungsverhältnis liegen mußte.

Die nationalsozialistische Diktatur hat keine einhellige Haltung der protestantischen Kirchen gebracht und schon gar nicht die Lösung der praktisch-theologischen Frage nach der Staatsbürgerlichkeit (Citoyennität). Wohl aber ein Tauziehen um Macht und Einfluß mit Anpassung und Kompromissen und manchmal auch mutigem Widerstand gegen das mörderische Regime. Die Kirchenmacht war zunächst aufgeteilt zwischen dominierender ,Bekenntniskirche` und der ,Reichskirche`, einer Konstruktion des Regimes[6]. Das Kirchenvolk zerfiel in Gegner und Anhänger der Deutsch-Christlichen Glaubensbewegung und Kirchenpartei. Neben den Kirchen hatte, als ,germanische` Alternative zum Christentum, eine eklektische ,neuheidnische Gottgläubigkeit` zeitweilig Konjunktur. Das Ende der Diktatur, die Befreiung, brachte, von der amerikanischen Militärregierung unterstützt, eine Stärkung des Kircheneinflusses. Unter diesen Umständen wurde eine Lösung der Problematik ,Religion und demokratische Bürgerlichkeit` um so dringender, kam jedoch nicht in Sicht. Die wissenschaftliche Arbeit einzelner Theologen hätte zur allgemeinen Erörterung beitragen können. So mochte Emanuel Hirsch, dem niemand Unkenntnis der im zwanzigsten Jahrhundert neu zur Geltung gekommenen Texte von Luther und Kierkegaard vorwerfen konnte, die Frage ,Gott und Welt` einer aktuellen Lösung näher gebracht haben[7]. Diesem Autor und seinen Vorstellungen blieben Diskussion und praktische Anerkennung versagt. Seine überzeugte Zuarbeit für Kirchen- und Staatsführer der Nationalsozialisten waren alles andere als eine Empfehlung für seine Theologie[8]. Ungeachtet einzelner Theologen unterblieb die Diskussion vermutlich eher, weil sie den in der jungen, zunächst vor allem ,formalen`, Demokratie an Macht interessierten Kreisen in Kirche und Staat nicht opportun schien. Die Problematik wurde ausgeklammert. Schon bei der Gründungsversammlung des Rats der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EkiD), Ende August 1945 in Treysa wurde zum Beispiel beschlossen:

"Es besteht darüber Einmütigkeit, daß der evangelische Religionsunterricht (besser sollte statt dessen gesagt werden: christliche Unterweisung) auch innerhalb der Schule Sache der Kirche ist, die in der Verantwortung für ihre getauften Glieder handelt. Alle in der christlichen Unterweisung tätigen Lehrkräfte müssen einen kirchlichen Lehrauftrag haben. Die Unterweisung erfolgt nach kirchlichem Lehrplan. Die Aufsicht in der christlichen Unterweisung führen von der Kirche bestellte, fachlich vorgebildete Kräfte."[9]

Ein Beschluß, der mit seiner Ausrichtung auf die Bekenntnisschule die demokratisch-staatsbürgerliche Problematik dieser Schulform unterschlug. Allerdings waren bei dieser ersten freien Konferenz auch Gegensätze aufgetreten, mit denen hauptsächlich zwei innerkirchliche Gruppierungen, die Bekennende Kirche und der Lutherrat, in der Öffentlichkeit Profil gewannen.

"Beide Gruppen vertraten nicht nur in schulpolitischen, sondern auch in kirchen- und gesellschaftspolitischen Fragen kontroverse Auffassungen. Teile der Bekennenden Kirche um Niemöller und Karl Barth öfnfneten sich Forderungen nach Demokratisierung und Verzicht auf kirchliche Privilegien, während sich die Lutheraner um Wurm, Dibelius und Gerstenmaier und gegen Ende der vierziger Jahre auch der größte Teil der Bekennenden Kirche an der CDU orientierten und die Politik der Restauration mittrugen."[10]

* * *

Paul Schlüpmann (1901-1973) hatte nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft und nach ein paar Monaten teilweise klinischer Behandlung der Folgen von Unterernährung und nachdem die Schule in den Wintermonaten ausgefallen war, zu Ostern 1947 den Unterricht an der (unverändert so genannten) ,Westerwaldschule` in seinen Fächern Religion, Deutsch, Sport (Hebräisch gehörte nicht zum Lehrplan der Schule, aushilfsweise gab er auch Lateinunterricht) wieder aufgenommen, mußte ihn allerdings im Mai noch einmal für einen Monat unterbrechen. Anfang März war der Religionslehrer dem ,Evangelisch-Sozialen Kongress` [11]beigetreten, jener Organisation, in der sein Schwiegervater Alfred Dinkelacker vor der Revolution von 1918 seine politischen Verbindungen gehabt hatte. Wenn er gehofft hatte, der Kongress könne im gesamtdeutschen Wiederaufbau der Demokratie noch einmal eine bedeutende Rolle spielen, wurde er allerdings enttäuscht. Die Mitgliedschaft mag jedoch zeigen, daß ihm dieser Wiederaufbau nicht gleichgültig war, ebenso wenig wie die Strukturen, die sich dem persönlichen Engagement boten. Sein Freund Otto Blosen trat der Sozialdemokratischen Partei bei.

Unter dem 6. Juni 1947 erließ der Kontrollrat die Direktive Nr. 54, "Grundsätze für die Demokratisierung des Unterrichts in Deutschland". Da hieß es in Art. 5:

"Alle Schulen müssen es sich besonders angelegen sein lassen, den Sinn für staatsbürgerliche Verantwortlichkeit zu entwickeln und das Schwergewicht auf die demokratische Weltanschauung legen, und zwar durch die Auswahl der Schulbücherprogramme und des Unterrichtsmaterials, sowie durch die Schulorganisation selbst."

Ein Jahr vor der Währungsreform war der Mangel an vielen Dingen noch groß, so auch an Lehrmaterialien. Schlüpmann entschied, den Schülern einer Untersekunda - die Abschlußklasse für die ,mittlere Reife` - per Diktat einen von ihm verfaßten, sechs Seiten in Maschinenschrift umfassenden Text an die Hand zu geben. Thema: 1. Die Verpflichtung zur eigenen Urteilsbildung. 2. Die Verpflichtung zur Toleranz. Der Text ging von einem Lessing-Zitat aus:

"...Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: Wähle! ich fiele ihm in Demut in seine Linke und sagte: Vater, gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein..."

In der sich anschließenden ,Erklärung` wird über fast drei Seiten mit Zitaten aus dem Neuen und Alten Testament (Joh. 14,6; 1.Kor.13,9; Luc. 10,25ff; I. Kön.3,ff; Phil. 3,12) und weiteren Lessing-Zitaten der Wahrheitsbegriff erläutert[12]. So heißt es unter anderem:

"Von Zeit zu Zeit treten Menschen auf, mit dem Anspruch, unmittelbar von Gott eingegebene unumstößliche Teilwahrheiten (Paulus` "unser Wissen ist Stückwerk" findet sich zuvor zitiert KS) zu verkünden. Vielfach hat sich erwiesen, daß das "falsche Propheten" waren, vielfach widersprechen sich angeblich unumstößliche Teilwahrheiten, wie sich die Religionen der Menschheit in manchen Punkten auch widersprechen. Daß es uns zugängliche unumstößliche Teilwahrheiten - mögen sie nun von Gott unmittelbar eingegeben sein oder in mühevollem Suchen errungen werden - tatsächlich gibt, ist darum noch lange nicht ausgeschlossen. Die Christen glauben daran mit guten Gründen und unbedingter persönlicher Gewißheit, auch Lessing. Aber dieser Glaube hat trotz allem auch seine Gefahr. Wohl zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, für die das Besitzen mehr bedeutet als der Gegenstand des Besitzes: die Wahrheit..."

Die übrigen drei Seiten des Diktats handeln von der Verpflichtung zur Toleranz, erinnern sowohl an zahlreiche Beispiele von Intoleranz und Verfolgung aus der Kirchengeschichte wie auch an Ansätze zur ,Religionsfreiheit`. Zum Schluß heißt es:

"Das Frankfurter Parlament nahm 1848 die Religionsfreiheit in die ,Grundrechte des deutschen Volkes` auf. Auch die Weimarer Verfassung gab weitgehende Freiheit. Der Nationalsozialismus war unbeschadet bestehender Staatsgesetze grundsätzlich intolerant. Die Gegenwart verrät noch keine klare Stellung zur Toleranzfrage. / Die Päpste Gregor XVI (1831-1846) und Pius IX und andere katholische Stimmen verwerfen die Toleranz, wenigstens in bestimmten Formen, da man zwischen theologisch-dogmatischer, praktisch-bürgerlicher und staatlich-politischer Toleranz unterscheidet. Die erste gilt dem Katholizismus wegen der Alleinwahrheit des katholischen Glaubens für verwerflich, die praktisch-bürgerliche Toleranz als christliche Liebespflicht, seine Stellung zur staatlich-politischen Toleranz macht er von den jeweiligen Umständen abhängig. / In der deutschen Schweiz wurde die Toleranzfrage innerhalb der Kirche sogar durch Wegfall der Bekenntnisverpflichtung und grundsätzliche Gleichberechtigung der sogenannten "theologischen Richtungen" gelöst. /Abschließend läßt sich sagen, daß sich die Intoleranz im Laufe der Geschichte je und je dem Sieg der Wahrheit entgegengestemmt hat, daß ihr ungezählte Menschenleben zum Opfer gefallen sind und daß sie noch darüber hinaus den Menschen gänzlich unabwägbare Schäden an Leib und Seele zugefügt hat."

Völlig überraschend für ihn wurde der Religionslehrer am 2. August 1947 über den Dienstweg, das hieß auf Veranlassung des Ministeriums durch den Direktor, mit einem Schreiben des Superintendenten des Kirchenkreises (Pfarrer Groß in Freusburg) an das Rheinland-Pfälzische Kultusministerium (zu Händen Herrn Oberschulrat Lötschert), vom 16. Juli konfrontiert. Groß hatte geschrieben:

"Unter Bezugnahme auf meine persönliche Unterredung mit Ihnen am gestrigen Tage erlaube ich mir, noch einmal um eine Überprüfung des Religionsunterrichts zu bitten, den Herr Studienrat Schlüpmann beim Kreisgymnasium in Betzdorf erteilt. Es sind mir über diesen Religionsunterricht Beschwerden aus den Gemeinden Betzdorf und Kirchen eingereicht worden, in denen lebhaft darüber Klage geführt wird, daß der Religionsunterricht von Herrn Schlüpmann sich nicht im Rahmen der biblischen und kirchlichen Lehre hält. Die Schüler, die bei ihm den Religionsunterricht erhalten, berichten, daß er seit längerer Zeit schon als das Ziel seines Unterrichts die Aneignung Lessing-scher Glaubensanschauung betrieben habe. Ich bitte darum möglichst bald für die Abstellung eines solchen Mißbrauchs des evangelischen Religionsunterrichts an einer höheren Schule zu sorgen."

Nach wenigen Wochen der Wiederaunfnahme seines Dienstes kam ohne Vorwarnung eine formale Beschwerde gegen seinen Unterricht? Wer konnte sich so schnell ein Urteil erlauben? War er etwa von vornherein als Religionslehrer nicht erwünscht? Wurde ihm wieder, jetzt mit umgekehrtem Vorzeichen, ein nicht ,zeitgemäßer` Unterricht unterstellt? In diesen Notzeiten verhielt man sich eher weniger formell, gesellschaftliche Schranken hatten geringere Bedeutung und der Lehrer hatte im übrigen die Erfahrung, daß er Schülern und Eltern durchaus nicht unzugänglich erschien, und man miteinander ganz gut auskam. Sollte er sich so in sich selbst getäuscht haben, daß ihm weder Schüler noch Eltern die geringste Andeutung einer Beschwerde gemacht hatten? Die Vermutung lag nahe, daß die Begründung der Beschwerde nicht stimmte. In der Diktatur hatte man sich an Unterstellungen zwecks Amtsenthebung gewöhnen müssen. Unvorstellbar, daß damit nicht endgültig Schluß sein sollte. Mehr Klarheit war wünschenswert. Wer sollte in den Gemeinden Betzdorf und Kirchen Beschwerden geäußert haben? Sollten tatsächlich Eltern an dem Lehrer vorbei gehandelt haben? Mit dem Wunsch nach mehr demokratischer Transparenz konfrontierte Schlüpmann die Schulöffentlichkeit möglichst eindringlich mit seiner Empörung und Betroffenheit. Am 4. August las er im Beisein Heinrich Lakes der Klasse das anklagende Schreiben vor und gab dann eine ,feierliche` Erklärung ab:

"Das Schreiben als solches stellt einen sehr schwerwiegenden Schritt dar. Komme, was da mag, ich war aus innerstem Bedürnfnis bemüht und werde bemüht bleiben, selbst vor dem kleinsten Sextaner ehrlich und wahrhaftig zu sein. Trotzdem hat niemand vor diesem Schritt und auch danach bis heute noch nicht zu mir selber den Weg gefunden. So muß dieser Schritt irgendwo einen sehr schweren Vertrauensbruch enthalten. Darum bat ich Herrn Oberstudiendirektor Lake, mich bis zur Klärung der Angelegenheit vom Religionsunterricht zu befreien. Herr Oberstudiendirektor Lake hat auch dieser Bitte stattgegeben. In Anbetracht der sowieso schon schwierigen Schulverhältnisse habe ich diesen meinen Schritt nicht leichten Herzens getan. Darum stehe ich selbstverständlich jedem meiner Schüler und seiner Eltern außerdienstlich nach Kräften jederzeit zur Verfügung, wenn er irgendwas auf dem Herzen hat, was er mit mir besprechen möchte."

Vom 4. August datiert auch Schlüpmanns schriftliche, dem Dienstweg entsprechend zunächst an den Direktor gerichtete, sachliche Stellungnahme zu den Vorwürfen. Er schrieb unter anderem:

"Ein so ausführliches Diktat ist nicht meine und wohl auch nicht allgemeine didaktische Gepflogenheit... So sehr ich persönlich die religiöse Erbauung schätze - die Schulandacht liegt mir besonders am Herzen - , so darf der Religionsunterricht nicht nur erbaulich sein. Der Schüler muß lernen, daß es im Religionsunterricht, abgesehen von Bibelsprüchen und Kirchenliedern und dem Katechismus, auch noch etwas anderes wirklich zu lernen gibt. Den Schülern fehlte nach meinen anfänglichen Feststellungen dafür in einem für diese Altersstufe ungewöhnlichem Maße der Sinn... Bezüglich meiner Stoffwahl wird in der Anklage ausschließlich bemängelt, daß ich die "Aneignung Lessingscher Glaubensanschauung betrieben" hätte. Tatsache ist, daß ich "Lessingsche Glaubensanschauung" überhaupt nicht behandelt habe. Es ist schon schwierig bei Lessing überhaupt von "Anschauung" zu reden. Wiewohl er Dichter war, so war doch die "Anschauung" nicht gerade seine stärkste Seite, wenigstens nicht, wenn es ihm um religiöse Fragen ging. Selbst seine große Dichtung "Nathan der Weise" kann in dieser Beziehung nicht restlos befriedigen. Der evangelische Kirchenglaube ist ohne Frage anschaulicher. Aber auch Lessings Glaubens b e g r i f f ist nicht behandelt worden. Was seinen Inhalt anbelangt, so wäre hier von Lessings Begriff der natürlichen Religion zu handeln gewesen. Gerade das aber habe ich ausgeschlossen, schon deshalb, weil mir das im Augenblick zu sehr nur "historisch" und auch keine zentrale Frage der Gegenwart zu sein schien... Schließlich ist nicht einmal Lessings Wahrheitsbegriff behandelt worden, den ich aber gern behandelt haben würde, wenn er nicht schon das Auffassungsvermögen einer normal begabten und geschulten UII übersteigen würde; denn ich halte Lessings Darstellung seines Begriffs der "inneren Wahrheit" in seinem Schrifttum, für seine ganz persönliche historische Leistung und höchst bedeutsam für die Prinzipien der modernen wissenschaftlichen Wahrheitsfindung, auch der evangelischen Theologie..."

Die ausführliche Replik (fünf maschinegeschriebene Seiten) und in der Anlage das Manuskript des inkriminierten Diktats (sowie das Schreiben des Superintendenten) gingen an die Schulbehörde, an Pfarrer Groß und an die Leitung der Evangelischen Kirche im Rheinland, an Oberkonsistorialrat Rößler. Am Ende seines Schreibens bat der Religionslehrer "um die Ausführungsbestimmungen zu den einschlägigen Verfassungsbestimmungen, die die geistliche Schulaufsicht über den Religionsunterricht an höheren Schulen betreffen".[13]

Wenn Schlüpmann damit gerechnet hatte, daß die ,Herstellung der Öffentlichkeit` Licht in das Dunkel bringen würde, das über den ,Beschwerden in den Gemeinden` lag, hatte er sich nicht getäuscht. Drei Tage später hatte er in der Schule den überraschenden Besuch des evangelischen Pfarrers der Nachbarkommune Kirchen, Heinz Krieger (1904-1985). Ein Besuch ,zwischen Tür und Angel`, die Unterrichtsverpflichtungen waren unumgänglich. Der Pfarrer schien den Eindruck vermitteln zu wollen, daß er mit dem Schreiben des Superintendenten nicht ganz übereinstimme. Und er teilte mit, daß der Schüler Frieder Ewich (Name geändert KS) wegen des Religionsunterrichts zu ihm gekommen sei, und daß im Synodalvorstand (Pfarrkonvent des Kirchenkreises) über die Angelegenheit gesprochen worden sei. Der Lehrer gewann keine klare Vorstellung vom Zweck des Besuchs. Doch am gleichen Tag erreichte ihn ein Brief Ewichs, den der drei Tage zuvor geschrieben hatte, offenbar motiviert durch Schlüpmanns Erklärung vor der Klasse. Nicht zu ersehen ist, ob Heinz Krieger von diesem Brief gewußt hat und annehmen konnte, daß er den Empfänger erreicht habe und deshalb mit dem Lehrer sprechen wollte. Über ein Jahr später sollte sich herausstellen, daß des Pfarrers Besuch als verfahrensrechtlich gefordertes ,seelsorgerliches Gespräch` in Aussicht genommen war. Doch zunächst der Brief des Schülers:

"Sehr geehrter Herr Studienrat! / Ich ziehe den schriftlichen Weg einer mündlichen Unterredung mit Ihnen vor, da ich Ihnen so meine Gedanken in aller Ruhe mitteilen kann. / Wenn es in dem Brief, den Sie heute Morgen in Anwesenheit des Herrn Direktors verlasen, heißt, daß Schüler der Untersekunda aus den Gemeinden Kirchen und Betzdorf Beschwerde wegen der Art Ihres Religionsunterrichts eingereicht haben, so ist es für Sie ja ganz klar, um welche Schüler es sich nur handeln kann - also auch um mich. / Im Folgenden möchte ich Ihnen eine kurze Begründung meines Verhaltens geben: / Als wir bei Ihnen mit der Betrachtung des Lessingwortes begannen, hatte ich die leise Hofnfnung, daß wir dies im Lichte des Wortes Gottes tun würden. Als es dann anders kam, konnte ich nicht umhin, immer wieder hinzuweisen auf die eine "Teilwahrheit", die die Bibel mit "die Wahrheit" bezeichnet, weil diese Wahrheit das Einzige ist, "was in dem Grauen des Todes ewig bleibt und selbst auf Erdenauen des Himmels Blumen treibt." - Aber ich konnte nicht ankommen. Sie konnten diese Dinge nur ,menschlich` betrachten. Vielleicht erinnern Sie sich noch, was Sie mir sagten, als ich Ihnen die "Bekehrung" nicht so erklären konnte, wie sie es wünschten; vielleicht wissen Sie noch, welche Antwort Sie mir gaben auf meine Frage: "Glauben Sie, daß es außer Christus noch Heil gibt?" - Zwei besonders grasse Beispiele von vielen./ Nach solchen Religionsstunden war ich oft wie zerschlagen. Nicht, daß Sie mich durch Ihre Lehren beraubt hätten (am Glauben); aber der Gedanke, daß dadurch so mancher glimmende Docht in den Herzen meiner Kameraden ausgelöscht werden könne, hat mir sehr zu schaffen gemacht. / Ich habe mich schließlich an Herrn Pfarrer Krieger gewandt, ihm über die Art Ihres Religionsunterrichts Bericht erstattet und Ihn (sic!) dann weiter auf dem laufenden gehalten. Es ist ja klar, daß die Kirche an solchen Dingen ein lebhaftes Interesse hat. - Auf die Schritte, die dann unternommen wurden, hatte ich keinen Einfluß mehr. / Ich bin mir bewußt, welche Folgen dieser Vorfall für mich haben kann. Sie lehren immerhin so wichtige Fächer wie Deutsch und Latein. / Aber angesichts all dessen bleibe ich fest, denn ich weiß, daß mir nichts kann geschehen als was Gott hat ersehen und was mir heilsam ist. - / Ich bin bereit, jederzeit für mein Handeln Rede und Antwort zu stehen. / Es ist nur mein Wunsch, daß die Kluft, die sich zischen Ihnen und mir aufgetan hat, wieder geschlossen werde - in der Weise, wie es die Heilige Schrift sagt: "Er ist unser Friede"./ Hochachtungsvoll ..."

Ewig war kein schlechter Schüler, seine Religiosität war nicht verborgen geblieben, seine Kritik am Lehrer auch nicht. Streng religiöse Schüler, allerdings in der Regel aus freikirchlichen (pietistischen und baptistischen) Elternhäusern, waren keine Seltenheit in dieser Schule. Es kam auch vor, daß Schüler in seinem Alter sich nicht mehr auf die Eltern stützen wollten oder konnten und die Lehrer darüber Bescheid wußten. Das war bei Ewich der Fall. Doch war auch unmittelbar klar geworden, daß nicht der Schüler, sondern eine erwachsene Mittelsperson eine entscheidende Rolle gespielt hatte, nämlich Heinz Krieger. Doch was tun, wenn der das nicht zugab? Noch am gleichen Tag schrieb Schlüpmann an Krieger:

"Ich bin aufs tiefste erschüttert über so viel sittliche Verwirrung im Zusammenhang mit einem von außen zweifellos als stark anzusprechenden Glaubenssleben ... Da Sie allem Anschein nach sein Vertrauen genießen, wende ich mich zunächst um seinetwillen an Sie, mit der Bitte, zu versuchen, was ich jetzt nicht leisten kann ... Was liegt, psychologisch gesehen vor?: Ganz ohne Schuldgefühl ist der Brief meines Erachtens nicht ...Daß er gar nicht anders kann, als meinen Unterricht verzerrt sehen, liegt daran, daß sein Wahrheitssinn nicht so stark entwickelt ist, daß er seinen Glaubenseifer das nötige Gegengewicht gäbe. Eben infolge dieses Glaubenseifers hat er auch gar kein Gefühl mehr dafür, daß er sich in Art und Weise, wie er mich im Briefe zur Rede stellt und sich über meinen Religionsunterricht erhebt, ganz elementar zu Luthers Auslegung des 4. Gebots[14]in Widerspruch setzt ... Die furchtbarste sittliche Entgleisung bedeutet aber der Hinweis auf die eventuellen Folgen, die der Vorfall für ihn haben könnte. Fast möchte man wünschen, daß Ewich mich für so verworfen hielte, daß er mir auch diese letzte Verworfenheit noch zutrauen würde. Dann hätte er wenigstens noch Sinn für die Verwerflichkeit solcher Lehrerrache. Aber so liegt der Fall psychologisch wohl nicht, vielmehr liegt für ihn wohl unabhängig von mir und allgemein eine solche Handlungsweise des Lehrers nahe - infolge eines in dieser Richtung liegenden sittlichen Defektes bei ihm selber. Und hier braucht er eine solche Handlungsweise des Lehrers - wahrscheinlich unbewußt - um sich vor sich selbst im voraus als Glaubensheld zu verherrlichen ..."

Die, wie es heißt, "psychologische Gesamtbeurteilung" war nicht der einzige Gegenstand des Briefes, der Schreiber gab noch einen weiteren Grund für sein Schreiben an:

Ich habe stark den Eindruck, als ob Ewich nicht immer gut beraten worden wäre, leider wohl auch nicht von Ihnen, Herr Pfarrer ... Wenn er wirklich versucht haben sollte, Sie "auf dem Laufenden zu halten", hätten Sie als sein Seelsorger die unbedingte Amtspflicht gehabt, ihn auf das Verwerfliche dieses Tuns hinzuweisen und dafür zu sorgen, daß das unterblieb. Sie hätten ihm darum nicht das Wort abzuschneiden brauchen. Wenn Sie sich sofort mit mir in Verbindung gesetzt hätten und ihn das hätten wissen lassen, so hätte er Ihnen weiterhin sein ganzes Herz ausschütten können, ohne das Bewußtsein zu haben, daß da etwas zwischen Ihnen und ihm hinter meinem Rücken geschehe...

War der Lehrer ein ,Moralapostel`? Wie klängen seine Sätze, wenn ,sittliche Verwirrung` mit ,gestörtem Sozialverhalten` in die heutige Sprache ,übersetzt` würde und wir mit der ,furchtbarsten sittlichen Entgleisung` eben nicht die moralische, sondern die soziale Entgleisung, das (,hochgradig alarmierende`) ,soziale Fehlverhalten` betont sähen? Wo der ,sittliche Defekt` bombastisch klingt, wäre ,Sozialisationsmangel` vielleicht ohne Übertreibung zutreffend. Im übrigen ist die Vorstellung, die der Schreiber von dem Adressaten haben mußte, zu bedenken. Ihn sollte der Brief doppelt treffen, sollte sowohl seinen Umgang mit dem Jugendlichen als auch sein Verhalten dem Lehrer gegenüber in Frage stellen.

In der Schule konnte Schlüpmann einen pädagogischen Zorn zeigen, der in Worten, Gesten, Mimik manchmal aus ihm herauszubrechen schien, laut- und ausdrucksstark, scheinbar bedrohlich nahe der Unbeherrschtheit, oft als Gewissensappell. Diese erzieherische Übung verbot sich zwar im Verkehr unter erwachsenen Menschen, blieb jedoch im Hintergrund präsent, und wo sie doch zum Vorschein kam, vielleicht auch übertreibend, peinlich, anmaßend, war sie nie endgültig. (Übrigens: Manche Lehrer schlugen noch, auch in der höheren Schule. Schlüpmann wohl nie[15]). Bei der Abfassung des Briefes mag mitgespielt haben, daß im Trüben gefischt wurde, daß der Eindruck entstehen mußte, als wäre, was den Jugendlichen anging, Manipulation im Spiel. Jedenfalls sollte der Denunziation, dem verdeckten Handeln, in dem der Geist der Diktatur zu spuken schien, der Garaus gemacht werden. Dem Erzieher mögen psychologische Erörterungen und Hypothesen, auch hilflos verschärfte, gerechtfertigt erschienen sein. Was wäre der Umgang mit Heranwachsenden ohne Psychologie? Eine andere Frage ist die Komplexität dieser Psychologie, darüber wäre zu reden gewesen. Heinz Krieger antwortete unter dem 11. August:

"Ich gehöre selbst nicht zum Synodal-Vorstand, kann also in dessen Auftrag oder Namen gar nichts sagen. Ich habe ihn nur erwähnt, um Ihnen aufzuweisen, daß gemäß Kirchenordnung der Synodal-Vorstand die christliche Erziehung der Jugend in Kirche und Schule zu überwachen hat. Diese Überwachung ist für mich selbstverständlich eine Verpflichtung der Kirche, die sie dem Herrn der Kirche gegenüber schuldig ist. Sie würden mich mißverstehen, wenn Sie glauben, daß ich diese Anliegen nicht trüge. Eine andere Frage ist, mit welcher Methode diese Überwachung seitens der Kirche geschieht... Eine Beeinflussung Ewichs lag mir fern, denn das Zentral-Anliegen dieses Jungen, das er mir mit bewegtem Herzen darstellte, war in jeder Weise anzuerkennen. Schon der Versuch, das Zeugnis der Heiligen Schrift als eine "Teil-Wahrheit" in dem evangelischen Religionsunterricht zu behandeln, ist zweifellos abwegig und keine lautere Wiedergabe der Verkündigung von Jesus Christus nach der Hl. Schrift Alten und Neuen Testamentes ... Ich habe inzwischen Ihre Diktate dazu gelesen und muß sagen, daß dieselben in dieser Form getrost in irgend einem Moralunterricht, der mit dem Christentum nichts mehr gemein hat, vorgetragen werden könnten . .. Scheinbar wissen Sie, daß Ewich durch eine Evangelisation von Pfarrer Jochums aus Eiserfeld eine Bekehrung erlebt hat. Ich selbst kam erst im Februar 1947 aus der Kriegsgefangenschaft zurück und habe Ewig erst nach der Evangelisation wiedergesehen. Ich war über die Entwicklung und das lebendige Glaubensleben von Ewich sehr erfreut ... Ich glaube, daß Ewich sich der Tragweite jener zwei Sätze nicht bewußt war, in denen er in seinem Brief von den Folgen des Vorfalls spricht ... Daß er damit eine verwerfliche Handlungsweise seines Lehrers voraussetzen würde, ist ihm gewiß nicht klar gewesen. Es ist zu verstehen und zu entschuldigen aus der ganzen Spannung, in die Ewich durch Ihren Religionsunterricht gekommen ist ... Ich habe Ewich bisher nur einen Rat gegeben: "Wenn Dein Lehrer Dich in einen Konflikt bringt, dann bekenne lauter, wozu das Zeugnis der Bibel Dich nötigt. Das ist Dein Recht und Deine Aufgabe als Konfirmierter". / Ich hoffe, daß Sie nunmehr klarer sehen.

Die angeblich aus den Gemeinden kommenden Beschwerden lösten sich mehr und mehr in Luft auf. Der Eindruck verstärkte sich dem Lehrer, daß sein Unterricht und/oder seine Person den Pfarrer auf den Plan gerufen und zum Handeln veranlaßt hatten, wobei das Vertrauen, das der Schüler seinem Pfarrer entgegengebracht hatte, in den Augen des Erziehers mißbraucht worden war. Wie war der vermutliche Urheber der Beschwerde zur Offenheit zu bewegen?

"Wollen Sie mir sagen, daß Sie sich persönlich berufen fühlen, den Religionsunterricht an höheren Schulen zu überwachen? Mir will es so scheinen ... Die Frage nach der Methode der Überwachung bedeutet freilich im Zusammenhang mit dem, wie man mit mir verfuhr, alles, aber natürlich darf auch die nach den Überwachungsorganen der Kirche dabei nicht ganz übersehen werden ... Ihre Interpretation meines behelfsmäßigen Begriffs der "Teilwahrheit" ist völlig abwegig... Ich muß Sie auf mein Diktat zurückverweisen... Was meinen "Moralunterricht", soweit er in meinem Diktat vorliegt, anbelangt, so nimmt die Wahrheitsliebe darin einen breiten Raum ein. Es sollte wirklich selbstverständlich sein, daß es immer etwas mit dem Christentum gemein hat, wo auch immer von der Wahrheitsliebe ernsthaft die Rede sein sollte. Ein Hinweis auf das 8te Gebot[16]genügt da schon, um das zu beweisen ... Ich stimme mit Ihnen auch nach meinem ersten Brief durchaus darin überein, daß "Ewich sich der Tragweite jener zwei Sätze nicht bewußt war..." und daß er sich auch über das Verwerfliche der vorausgesetzten möglichen Handlungsweise des Lehrers nicht ganz im klaren war; aber diese Unklarheit beruht - zwar nicht allgemein auf sittlichen Defekten bei ihm, ich muß Sie da schon bitten, mich genauer zu zitieren, sondern - auf e i n e m in dieser Richtung liegenden Defekt bei ihm, infolgedessen er da nicht klar sehen konnte ... Man kann nun leider bei Ewich nicht mehr von einem "tadellosen Jungen" (Zitat aus Kriegers Brief KS) sprechen, da sein Verhalten tadelnswert war.... Den Rat, den Sie Ewich nach dem Schluß Ihres Briefes geben, ist an sich nicht falsch, er war nur überflüssig, da ich ihm durch die Art meines Unterrichts selbst immer stillschweigend dazu aufgefordert habe, und vor allen Dingen hätten S i e dem Rat noch den Zusatz geben müssen: "Ich werde mich umgehend selber mit Herrn Studienrat Schlüpmann in Verbindung setzen. / Ich sehe immer klarer..."

Die Klassenkonferenz beschloß, Frieder Ewich "zu tadeln und zu ermahnen". Wesentlich sei aber, daß "der Junge" auch wirklich sein Fehlverhalten einsähe und sich nicht als unschuldig Verfolgter vorkomme.

"Da im vorliegenden Fall Schule und Kirche von dem Schüler gegeneinander ausgespielt werden, wäre es wesentlich, daß auch beide in ihrem Auftrag als Erzieher gleichmäßig auf den Jungen einwirkten. Deshalb sieht sich die Konferenz veranlaßt, ihren Beschluß Herrn Pfarrer Krieger als seinem Gemeindepfarrer mitzuteilen mit der Bitte, auch seinerseits den Jungen zu ermahnen, es an der schuldigen Achtung vor seinen Lehrern nicht fehlen zu lassen, und ihm klarzumachen, daß besonders die oben erwähnte Anschuldigung eine verwerfliche Denkungsart zeigt, abgesehen davon, daß sie eine ungeheuerliche Beleidigung enthält."

Ewich entschuldigte sich mündlich wegen der Verdächtigung, wollte aber trotz erneuter Ermahnung durch den Direktor nicht einsehen, daß er sich anmaßend über seinen Lehrer geäußert hatte, sondern schrieb noch einmal ausdrücklich unter dem 10 August:

"Sehr geehrter Herr Studienrat! / Ich bitte um Entschuldigung, daß ich in meinem Brief vom 4. 8. den Satz schrieb: "Ich bin mir bewußt, welche Folgen dieser Vorfall für mich haben kann. Sie lehren immerhin so wichtige Fächer wie Deutsch und Latein." und nehme hiermit diese Äußerung zurück. / Ich war mir beim Schreiben jener Zeilen der Tragweite der Äußerung nicht bewußt. /Hochachtungsvoll..."

Die Wortwahl des letzten Satzes ist identisch mit der in Heinz Kriegers Brief. Die Vermutung, daß das Schreiben mit ihm abgestimmt war (wie vermutlich auch das erste?), lag nahe und damit der Schluß, daß der Pfarrer in punkto Anmaßung seinen Schützling nicht überzeugen konnte und/oder wollte. Ewichs religiöse Überzeugtheit kam ein paar Monate später noch einmal im Kollegium zur Sprache, als sein Deutschlehrer mit ihm über Walther von der Vogelweide, Unter der Linde ... in Konflikt geriet. Joseph Schäfer schrieb in seinem Bericht:

"Ewich ist seiner "Erweckung" so gewiß, daß ihn sowieso keine weltliche Autorität überzeugen kann. Nach einigen Minuten Überlegung schien es mir jedoch diesmal besser, Ewichs Haltung energisch zurückzuweisen und zu betonen, daß eine Ablehnung des Gedichtes aus sittlichen Gründen ein grobes Mißverstehen voraussetzt und das Anstößige von außen in das Gedicht hineinträgt... Ich lehne es ... ab, daß engstirnige, falsch erzogene oder krankhaft empfindende Schüler darüber bestimmen, was wir an unserer Schule unterrichten..."

Mit seinem ,Eigensinn` war der Heranwachsende in der Schule nicht unproblematisch. Aber es waren nicht die Lehrer der Schule, die ihn zum Instrument - so sieht es immerhin aus - machten. Zum Werkzeug wider eigene Interessen und für fremde im Legitimations- und Einflußstreben in diesen Jahren nach der Katastrophe, in denen die besondere Besinnung auf das Christentum sich auch im Hinblick auf ganz weltliche Positionen, die erst einmal verloren waren oder bedroht schienen, lohnen konnte. Wen wundert es in diesem, aber auch über diesen hinaus in einem ideologischen Zusammenhang, daß eher der Ersatz einer autoritären Orientierung durch eine andere, als ihre Abschaffung im Horizont lag. Es war nicht das oder irgendein Christentum, das unter solchen Umständen Hegemonieansprüche stellen konnte, sondern ein passend zurechtgelegtes. Es ist kein Paradoxon, daß ein besonders ,spröder` Glaube (wobei Begriffe wie ,Bekenntnistreue`, Offenbarungsglaube`, ,Diastase` am Kern der Sache vorbeigehen) Resistenz in der Diktatur für sich verbuchen konnte, und im demokratischen Rechtsstaat dennoch problematisch war. Ein ,demokratisches Christentum` war - theoretisch und praktisch - unterentwickelt.

Der Schüler war sehr bald nicht mehr beteiligt, der eigentliche Konflikt aber dauerte an. Anfang September 1947 ersuchte das Kultusministerium den Direktor, eine Besprechung mit einem Fachlehrer, zwei Elternschafts- und zwei Kirchenvertretern zu veranstalten, was Heinrich Lake nicht gelang, weil außer dem Fachkollegen Robert Euler (1915-1995), Heinz Krieger und Schlüpmann niemand erscheinen wollte (was den Eindruck verstärken konnte, daß die Beschwerden aus den Gemeinden frei erfunden waren). Anfang Oktober bat nun auch das Kultusministerium, Herr Lötschert, die evangelische Kirchenleitung in Düsseldorf um ihre Stellungnahme und gegebenenfalls um einen Verhandlungstermin. Am 10. Dezember wandte sich Paul Schlüpmann an den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Schwäbisch-Gmünd

"weil ich seit 4 Monaten vergeblich auf eine Stellungnahme der Kirchenleitung der Rheinprovinz warte, obwohl auch meine vorgesetzte Behörde sie um Stellungnahme zu meinem Religionsunterricht bat, und weil so grundsätzliche Fragen wie die der Stellung der evangelischen Theologie zur Wissenschaft, zur Moral und zu unseren Klassikern und die der geistlichen Schulaufsicht über den evangelischen Religionsunterricht an höheren Schulen gestellt sind."

Gleichzeitig ersuchte er die Theologische Fakultät in Marburg um eine Äußerung:

"Vor allem zur Rechtgläubigkeit und Wissenschaftlichkeit meines Religionsunterrichts ... wenn der Universitätslehrer der Theologie - um auf den vorliegenden Fall Bezug zu nehmen - z. B. auf Lessing eingehen oder "christliche Ethik" lesen darf, ohne sich des "Mißbrauchs" seines Amtes schuldig zu machen, so könnte das ein weiterer Grund sein, warum man dem Religionslehrer dasselbe Recht zubilligen müßte."

Beiden Schreiben lagen alle bisherigen Schriftstücke bei, vom Text des Unterrichtsdiktats zum Briefwechsel mit dem Pfarrer. Ernst Benz[17] als Dekan schrieb sehr bald zurück, daß die Fakultät sich für nicht zuständig erklären müsse, für die Rheinprovinz seien die Bonner Kollegen zu befragen. Schlüpmann richtete dieselbe Bitte mit allen Unterlagen unter dem 18 Januar 1948 an die Bonner Fakultät.

Am 2 März ersuchte Herr Schwister[18] aus dem Kultusministerium den Direktor

"Herrn Studienrat Schlüpmann zu veranlassen, nun endlich in seiner Angelegenheit die Entscheidung des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland und der evangelischen theologischen Fakultät in Marburg beizubringen."

Schlüpmann bedauerte in seiner Antwort am 10. März, daß bisher keine der beiden ,Entscheidungen` eingegangen sei und fügte hinzu:

"Die in der Anklage zitierten Beschwerdeführer sind weiterhin vor mir anonym geblieben, bis auf den Ortspfarrer der Nachbargemeinde Kirchen und den Schüler Ewich, die aber beide mit der Anklage unmittelbar nichts zu tun haben wollen ... Ich bat Sie s.Zt., mich vom Religionsunterricht bis zur Klärung der Angelegenheit zu befreien. Das geschah in dem "guten Glauben", daß diese Klärung bald erfolgen würde ... in meinem "guten Glauben" habe ich mich getäuscht. Wertvolle Monate sind inzwischen zu meinem tiefsten Bedauern verstrichen. Meine Überzeugung, daß ich meinen Schülern im Rahmen des evangelischen Religionsunterrichts etwas zu sagen habe, ist durch den Konflikt bisher nicht widerlegt, sondern gestärkt worden. Daher ziehe ich meine Bitte zurück und bitte Sie, mich nach Ostern wieder im Religionsunterricht einzusetzen, und zwar in den Klassen, in denen ich Religionsunterricht erteilte, auch darum, damit der Eindruck einer dem Herrn Minister vorgreifenden Maßregelung vermieden wird."

Gleichzeitig gingen noch mal Briefe nach Bonn und Schwäbisch-Gmünd, und es wurde um Mitteilung gebeten, ob grundsätzlich mit einer Stellungnahme zu rechnen sei. Daraufhin schrieb Herr Schwarzhaupt aus der Kanzlei der EKD, daß zunächst bei der Rheinischen Kirchenleitung angefragt worden sei, ob sie von ihrem Recht zur Stellungnahme Gebrauch machen wolle, und daß er bäte, sich bis zum Eingang der Antwort zu gedulden.

Die Schulverwaltung, das Ministerium hatten vor sieben Monaten gebilligt, daß der Religionslehrer im Interesse der Sache seinen Unterricht vorübergehend niederlegte. Inzwischen hätte klar sein sollen, daß mit der anfänglichen Beschwerde ein Stein ins Rollen gebracht worden war, und daß es in erster Linie nicht mehr darum ging, in der lokalen Sache zu entscheiden, sondern in unklaren politischen Verhältnissen allgemeine Entscheidungskompetenzen zu verteilen - ein Jahr vor der Gründung der Bundesrepublik, als nach einer ersten ,Entnazifizierung` neue politische Vernetzungen zu schaffen waren und alte sich reformierten. Wie verhielten sich die Politiker, als der Lehrer seinen Unterricht wieder aunfnehmen wollte? Wie entschied die Schulverwaltung? Heinrich Lake schrieb am 7. März an Schlüpmann:

"Heute ging seitens der Landesregierung Rheinland-Pfalz ein an mich persönlich gerichtetes und von Herrn Ministerialdirektor Dr. Lötschert unterzeichnetes Schreiben vom 2.4.48 ein, in dem er in bezug auf Ihre Angelegenheit anordnet, daß Sie vorläufig den Religionsunterricht nicht erteilen und um Entbindung von der Erteilung dieses Unterrichts bis zum Eintreffen der Stellungnahme der kirchlichen Stellen nachsuchen -möchten, damit diese Maßnahme nicht etwa als eine Maßregelung erscheinen könne..."

Dem Lehrer wurde der Unterricht vorläufig untersagt, daß war ihm und dem Direktor natürlich unmittelbar klar. Es war ein ziemlicher Schock. Fast noch schockierender war aber die Zumutung, der Betroffene solle das auferlegte Verbot als eigenen Wunsch betrachten, also die Sachlage verdrehen. Der kaum geborene Rechtsstaat kam auf den Prüfstand. Schlüpmann äußerte sich Lake gegenüber und für den Dienstweg, zur Sicherheit noch schriftlich:

"Um der Wahrhaftigkeit willen stelle ich ausdrücklich fest, daß ich die gewünschte Bitte nicht ausspreche. Sie entsprachen der Anordnung".

Unter dem 19. April 1948 bat der Lehrer den Kultusminister um Begründung des Unterrichtsverbots. Er wies gleichzeitig auf die Erklärung Joseph Schäfers zu des Schülers Haltung im Deutschunterricht hin, die bestätigte, was Schlüpmann in seinem Rechtfertigungsschreiben vom 4. August des Vorjahres zu den ,hiesigen Verhältnissen` auf dem Dienstweg geäußert hatte: die Schule hatte sich mit religiösem Fundamentalismus auseinanderzusetzen, der von kirchlicher Seite unterstützt wurde. Vom Ortspfarrer, aber inzwischen auch von einer Äußerung des Dekans der Bonner Fakultät, die am 4. April endlich angekommen war. Günter Dehn, Professor für praktische Theologie hatte geschrieben, daß die Fakultät sich nicht in der Lage sehe, das gewünschte Gutachten abzugeben. Sie halte sich auch nicht für befugt, weil sie vom fraglichen Religionsunterricht ja nur teilweise Kenntnis habe.

"Sodann aber möchte sie angesichts der völligen Ungeklärtheit der Verhältnisse in Bezug auf die kirchliche Aufsicht über den Religionsunterricht nicht ihrerseits als eine solche aufsichtführende Instanz in die Erscheinung treten. Nach dem bisher geltenden Recht sind Sie als Religionslehrer ja völlig frei von irgendeiner Lehraufsicht. Es wird zur Zeit nun versucht von der Kirchenleitung her, aus dem berechtigten Verlangen heraus, zwischen ihr und den Religionslehrern eine Verbindung herzustellen, eine Instanz zusammenzustellen, die befugt ist, in Konfliktfällen Ihrer Art ein Urteil abzugeben. Vermutlich wird man Gremien, die aus Lehrern und Männern der Kirche zusammengesetzt sind, zu diesem Zweck schaffen..."

Der erfahrene und vielseitige Theologe[19] wollte sich aber, wo er mit einem Fakultätsurteil nicht dienen konnte, wenigstens mit einem ,persönlichen Wort` äußern:

"Es scheint mir, daß der von Ihnen gegebene Unterricht ganz dem traditionellen liberalen theologischen Denken entspricht, wie es freilich seit langem im Religionsunterricht an höheren Schulen üblich war, das aber nunmehr abgelöst wird von einem offenbarungsgläubigen theologischen Denken, das sich an Schrift und Bekenntnis gebunden fühlt. Von hier aus gesehen ist es dann freilich unmöglich, daß man im Religionsunterricht mit Lessing das Streben nach Wahrheit höher stellt, als den Besitz der Wahrheit. Heißt es doch in der Heiligen Schrift, daß Gnade und Wahrheit in Jesus Christus geworden sind, der ja der Herr der Gemeinde ist und als d i e Wahrheit sich ihr mitteilt. Von hier aus gesehen bekommt die Forderung nach Toleranz ein ganz anderes Aussehen als in der von Ihnen gegebenen relativistischen Art und Weise."

Soweit die theologische Meinung. Der ehemalige Pastor, der sich schon in den zwanziger Jahren mit Berliner Großstadtjugend und Jugendreligiösität auseinandergesetzt hatte[20] fand anschließend Worte, mit denen er sein Verständnis für den Protest des Schülers zum Ausdruck brachte, auch für die ,ungeschickte Form`, die der Lehrer nach seiner Meinung "nicht so übel hätte nehmen sollen". Mit den beiden Sätzen (die Gegenstand der Entschuldigung des Schülers wurden), sei

"er doch nur ehrlich gewesen und hat das geschrieben, was jeder andere auch, wenn auch gewiss irrtümlicherweise, gedacht hätte."

Die scharfe Reaktion der Lehrerkonferenz, die den Charakter des Jungen in ein schlechtes Licht rücke, schiene ihm "bar jedes Verständnisses für die Seele eines jungen Menschen in der vorliegenden Situation zu sein."

Tatsächlich hatte der Lehrer ja seinem Schüler nicht so sehr übel genommen, was zum Teil auf den Mentor zurückzuführen war, an den die briefliche Darstellung adressiert war und an dessen Schuldbewußtsein er - auch im Interesse des Schülers - zu appellieren versuchte.

Schlüpmann schrieb postwendend an Dehn, bedankte sich, bedauerte, daß die Fakultät, trotz der Mitverantwortung, die sie bei der Ausbildung der Religionslehrer übernehme, sich zur Begutachtung der Wissenschaftlichkeit eines Religionsunterrichts nicht berufen fühle. Er bedanke sich besonders für die klare persönliche Äußerung, die ihm als ,liberalem Theologen` Heimatrecht in der Kirche gebe. Bedenken habe er allerdings, wenn dem Liberalen jede Offenbarungsgläubigkeit in seinem Denken abgesprochen werde, auch Albert Schweitzer zähle schließlich zu dieser ,fast ausgestorbenen Generation` der Liberalen. Ein Hinweis, daß er auch sich selbst als ,Liberalen` zwar gern aber nicht ausreichend bezeichnet sah. Theologisch gefordert fühlte sich der Lehrer durch Dehns Bibelzitat zur Offenbarungstheologie. Er meinte, aus diesem Zitat (s.o):

"ergibt sich eine Fülle von Fragen, so daß es keine Theologie mehr zu geben brauchte, wenn es nicht so wäre. Darum kann ich mir auch von hier aus noch in keiner Weise eine Vorstellung davon machen, welches Aussehen die Forderung nach Toleranz für Sie hat. Ich glaube freilich, daß Jesus Christus "die Wahrheit" sei, und zwar unter der ganz bewußten Voraussetzung, daß es im Begriff der Wahrheit eingeschlossen ist, daß es letzten Endes nur eine Wahrheit gibt, also nicht auch Buddha zugleich "die Wahrheit" sein kann. So fühle ich mich in meinem Glauben frei von allem Relativismus. Aber das bedeutet nicht, daß ich dem logischen Nachweis keinerlei Bedeutung zuschreiben könnte. So gewiß ich an die christliche Wahrheit glaube, so gewiß ich bin, daß der logische Nachweis der christlichen Unwahrheit nicht zu bringen ist, so gewiß bin ich auch, daß ebenso wenig der logische Nachweis der buddhistischen Unwahrheit zu erbringen ist. Das bedeutet für mich so viel, daß Gott nicht will, daß wir Menschen intolerant sind."

Besser als mit diesen Sätzen lebendiger theologischer Dialektik hätte dem Autor seine Definition von Toleranz kaum gelingen können.

Günter Dehns kritische Äußerung zum pädagogischen Umgang mit dem Schüler hielt er nicht oder nur bedingt für gerechtfertigt - über die entscheidende Rolle des Pfarrers wurde beiderseits taktvoll geschwiegen. Schlüpmann schrieb:

"selbst wenn es so wäre (daß Ewich nur ehrlich gesagt hätte, was jeder Mensch gedacht hätte KS) so schließt das nicht ein, daß jeder Mensch von vornherein so denken darf. Die Verurteilung einer solchen Gesinnung besagt auch zunächst noch nichts über ihr psychologisches Zustandekommen, das ebenfalls von der Lehrerkonferenz eingehend geprüft und weitgehend zugunsten des Schülers in Rechnung gesetzt wurde."

Der knappe theologische Gedankenaustausch, der einzige während der ganzen Dauer der Angelegenheit, mochte andeuten, wie wenig die Problematik des Schulunterrichts, das Grundproblem von Religion und demokratischer Staatsbürgerlichkeit die Köpfe bewegte. In den Kirchen nicht, auf der politischen Ebene nicht und auch nicht in den Universitäten.

Der Betroffene hatte gebeten, das Unterrichtsverbot zu begründen. Der Kultusminister ging auf die Bitte nicht ein. Stattdessen gingen unter dem 4. Mai 1949 gleich zwei Briefe von Herrn Lötschert im Ministerium an Heinrich Lake, ein privater und ein offizieller, eine merkwürdige Vorgehensweise der Behörde:

"Entscheidungen in religiösen Fragen sind immer sehr delikate Angelegenheiten. Sie lassen sich besser in persönlicher Aussprache zwischen den Zunächstbeteiligten als ex cathedra geben. / Ich wäre Ihnen außerordentlich dankbar, wenn Sie noch einmal versuchen wollten, in Besprechungen unter 4 oder 6 Augen einen Ausgleich à l'amiable zu erzielen..." "Die Entbindung des Studienrats Schlüpmann vom Religionsunterricht ist in meinem Erlaß vom 2.4.48 -II E4 als eine "vorläufige" bezeichnet worden. Der endgültige Bescheid der für die Beurteilung des religiösen Charakters des Unterrichts zuständigen Kirchenstelle bleibt abzuwarten".

Lake und Schlüpmann waren sich darin einig, daß das offizielle Schreiben, das übrigens formal nur auf einen Bericht Lakes vom 21. April Bezug nahm, keine Antwort auf Schlüpmanns Anfrage sein konnte, insbesondere konnte der zweite Satz das Verbot nicht begründen,

"da der Herr Minister nach dem z.Zt. geltenden Gesetz offenbar durchaus in eigener Verantwortung und selbständig entscheidet, also eine solche Maßnahme auch nur treffen kann, wenn ihm selbst bereits sachliche Bedenken gegen meinen Religionsunterricht gekommen sind, die er selbst für gerechtfertigt hält, und zwar unter der gesetzlichen Voraussetzung, daß es für den evangelischen Religionslehrer z.Zt. keine Lehrverpflichtung gibt, wie sie es auch nicht gegeben hat, solange ich Religionslehrer bin (das war seit 1926 KS)"

Dem Wunsch nach einem Ausgleich à l'amiable entsprach diese Antwort des Lehrers nicht. Welches Resultat sollte ein solcher Ausgleich wohl haben? Daß der Lehrer auf seinen Unterricht verzichtete? Daß der Pfarrer sich selbst einer falschen, jedenfalls aber ungeprüften Beschuldigung angeklagt hätte? Als am 17 Juli immer noch keine Begründung vorlag, schrieb der Lehrer an den Minister, daß er jetzt die Sachlage juristisch habe prüfen lassen und ,in aller Höflichkeit` noch einmal nach der Begründung frage:

"Herr Dr. Heinen ist unbeschadet seiner abweichenden persönlichen religiösen Überzeugungen in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt der Ansicht, daß ich einen solchen Rechtsanspruch habe."

Zu welchen Schlüssen war der Jurist im Einzelnen gekommen? Sein Gutachten - natürlich nicht zu den inhaltlichen Fragen, sondern zum Verfahren - lag dem Schreiben an den Minister bei:

"Die Kirchen oder Religionsgemeinschaften haben das Recht, im Benehmen mit der staatlichen Aufsichtsbehörde den Religionsunterricht zu beaufsichtigen und Einsicht in seine Erteilung zu nehmen. Soweit mir bekannt ist, fehlt bisher noch eine Vereinbarung zwischen dem Staate und der evangelischen Kirche über die Bevollmächtigung der evangelischen Religionslehrer.... Herr Studienrat Schlüpmann hat die Eingabe des Herrn Superintendenten Groß als "Anklage" bezeichnet. Diese Formulierung ist zweifellos nicht richtig. Der Eingabe des Herrn Superintendenten Groß kommt der Charakter einer Beschwerde zu, wie sie jeder Erziehungsberechtigte, aber auch die Kirchengemeinde und der Kirchenkreis erheben kann. Sie ist aber keine Handlung im Sinne des "Einvernehmens" nach Artikel 34 Satz 2 der Verfassung (wo es hieß, daß Religionslehrer im Einvernehmen mit der jeweiligen Kirche bestallt werden KS)... Es ist nicht Sache des Herrn Studienrat Schlüpmann, durch ein Gutachten einer theologischen Fakultät und einer Kirchenstelle ... sich gewissermaßen theologisch zu bereinigen. Es ist vielmehr Aufgabe des Staates, wenn er gegen den Beamten einzuschreiten gedenkt, diese Stellungnahme herbeizuführen... Wird ein Beamter des Dienstes vorläufig enthoben, so weiß er auf Grund der Anklageschrift im Dienststrafverfahren was gegen ihn vorgebracht wird. Herr Schlüpmann befindet sich in einer verfahrensrechtlich ungleich schlechteren Lage. Er kennt die Eingabe des Herrn Superintendenten Groß und sieht sich auf Grund dieser Beschwerde ohne Stellungnahme der kirchlichen Behörde des Religionsunterrichts enthoben. Das Unterrichtsverbot ist nach dieser Darlegung verfahrensrechtlich zu beanstanden."

Nun fand auch das Kollegium der Schule es an der Zeit, sich für den Kollegen einzusetzen. Es gingen am 27. und 28. Juli Briefe an die Kirchenleitung und an den Kultusminister:

"Die evangelischen Lehrerinnen und Lehrer des Gymnasiums zu Betzdorf müssen mit starkem Befremden davon Kenntnis nehmen, daß die Angelegenheit des Kollegen Schlüpmann immer noch ihrer Erledigung harrt. Sie verurteilen scharf, daß von kirchlichen Instanzen eingeschlagene Verfahren einer direkten Anzeige bei staatlichen Stellen, die schließlich zur Suspendierung des Herrn Studienrats Schlüpmann vom Religionsunterricht führte. Sie müssen sagen, daß - rein menschlich, geschweige denn christlich gesehen - der Weg einer vorherigen persönlichen Aussprache der allein mögliche gewesen wäre. Sie bitten auch in diesem Zusammenhang zu bedenken, daß Herr Schlüpmann kurz vorher in stark angegriffenem Gesundheitszustand aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war und vor allem, daß Herr Schlüpmann als Nichtparteigenosse in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft seinen Religionsunterricht bis zuletzt erteilte trotz der damit verbundenen Gefährdung seiner wirtschaftlichen Existenz....""In der Annahme, daß die gegen Herrn Kollegen Schlüpmann erhobenen Vorwürfe eine schnelle und gerechte Klarstellung erfahren würden, verhielt sich das Kollegium bisher abwartend, obwohl die Tatsache und die Art der Suspendierung vom Religionsunterricht angesichts der unklaren Rechtslage uns befremdet hat. Mehr als ein Jahr ist verstrichen, ohne daß eine Entscheidung erfolgt wäre. / Herr Schlüpmann fand als Nichtparteigenosse den Mut, die ganze Zeit der Naziherrschaft hindurch bis zu seiner Einberufung evangelischen Religionsunterricht zu erteilen ... Herrn Schlüpmann ist die religiöse und ethische Erziehung der Jugend ein Teil seiner Lehrerpersönlichkeit. Daß gegen einen bewährten Erzieher auf die erfolgte Weise vorgegangen wurde, befremdet das gesamte Kollegium, nicht minder aber beunruhigt es uns, daß der rechtliche Schutz eines Lehrers irgendwelchen Vorwürfen gegenüber so wenig gewährleistet zu sein scheint. / Darum bitten wir das Ministerium, die Suspendierung Herrn Schlüpmanns vom Religionsunterricht ohne weitere Verzögerung aufzuheben, da keine tragbare Begründung gegeben ist."

Bereits am 3. Juni hatte Herr Lötschert vom Kultusministerium (in Fortsetzung seiner Bemühung, den Konflikt "à l'amiable" aus der Welt zu schaffen?) in einer Unterredung mit Heinrich Lake und dem jungen Kollegen Robert Euler letzteren beauftragt, sich um ein Gespräch mit der Kirchenleitung zu bemühen. Euler war es schließlich gelungen, den Oberkirchenrat Held[21] zu einem Gespräch zu bewegen, das am 3. August in Düsseldorf stattfand. Mit dem Ergebnis, daß Held eine Konferenz von Groß, Krieger, Schlüpmann, den anderen Religionspädagogen der Schule und ihm selbst anläßlich eines kommenden Besuchs auf der Hohen Grete bei Hamm/Sieg zu veranstalten. Die Termine fielen mitten in die Sommerferien, Schlüpmann war verreist, Euler unterrichtete ihn schriftlich, wie auch das Ministerium, über Helds Vorschlag und betrachtete seine Mission damit als erledigt. Schlüpmann schrieb unter dem 12. August aus Castrop-Rauxel an Ministerium und Kirchenleitung, daß er zu der Besprechung bereit sei,

"ohne allerdings mit dieser Bereiterklärung irgendeine z.Zt. nicht bestehende Rechtsverbindlichkeit eingehen oder von vorne herein in dieser Besprechung einen Weg zur endgültigen Entscheidung in meiner Angelegenheit sehen zu können"

Er präzisierte den Adressaten seine Bedenken:

"Da der Herr Minister gegebenenfalls an meiner endgültigen Maßregellung beteiligt wäre, wie er bereits sehr nachdrücklich und selbständig zu meinen Ungunsten eingegriffen hat, vermisse ich in dem Vorschlag seine Beteiligung an einer Besprechung, von der man letzten Endes eine "Entscheidung" in meiner Angelegenheit erwartet, um so mehr, als er doch selbst um diese Besprechung bemüht war. / Über das vorläufige Unterrichtsverbot des Herrn Ministers liegt ein juristisches Gutachten vor, nach dem es verfahrensrechtlich zu beanstanden ist. Nie habe ich es unterlassen, auch auf die Verfahrensweise der kirchlichen wie staatlichen Seite in meiner Angelegenheit hinzuweisen. Das Unterrichtsverbot des Herrn Ministers hat das einhellige Befremden des gesamten Kollegiums meiner Anstalt hervorgerufen. Die Verfahrensweise kirchlicher Instanzen hat eine scharfe Verurteilung durch meine sämtlichen evangelischen Kollegen gefunden. Eine Beschränkung der Besprechung auf die "fachliche und theologische Klärung" würde einen ganzen Fragenkomplex übergehen, dessen gründliche Klärung ebenfalls im Verlaufe des Konfliktes immer dringlicher und für eine innerlich stichhaltige Entscheidung in meiner Angelegenheit unumgänglich geworden ist. / Nach wie vor betrachte ich das vorläufige Unterrichtsverbot des Herrn Ministers als Rechtsverletzung, auf alle Fälle solange, als mir die Begründung vorenthalten wird..."

Dem Kollegen Euler war schon länger der Gedanke gekommen, daß es nützlich sei, den vor 1933 bestehenden Religionsphilologenverband neu zu gründen. Er hatte die Gelegenheit benutzt, diesen Gedanken in die Mitteilung an das Ministerium über sein Gespräch mit Held einzuflechten. An Schlüpmann hatte er geschrieben daß er sehr bedaure,

"daß Ihre Angelegenheit gerade jetzt schwebt, wo keine organisierte Philologenschaft irgendein Wort mitreden kann. Dabei ist also vollkommen gleichgültig, welche Stellung ich als Einzelner zu Ihnen fachlich oder theologisch eingenommen habe oder jetzt einnehme. S i e stehen als Einzelner einer ... o r g a n i s i e r t e n Kirche gegenüber ... Ich habe im Handbuch für den Evangelischen Religionsunterricht an höheren Schulen von Schuster einmal näher über die Kämpfe nach 1918 um den evangelischen Religionsunterricht nachgelesen..."

Der ältere Kollege schrieb zurück:

"Die Frage des Religionslehrerverbandes ist für meinen Konflikt völlig belanglos, weil es ihn 1. eben noch nicht gibt und weil wir 2. gegenüber der Zeit nach 1918, die ich ja selbst mit ihren Kämpfen- aus eigener Anschauung noch ziemlich gut kenne, heute in einer völlig anderen Situation befinden. Wir haben seit 1933 die Erfahrung gemacht, daß Berufsorganisationen keine uneinnehmbaren Bollwerke mehr sind. 3. fahnde ich aber auch nicht nach tüchtigen Mitstreitern. Der organisierten Kirche stehe ich als Einzelner nicht nur gegenüber. Die Kirche hat zwar gegenüber der Masse ihre Aufgabe, was für sie gewiß auch eine Gefahr ist; aber das Christentum ist darum kein Massenartikel. Ein Christ ist in Wahrheit immer ein Einzelner, und daß ich als Einzelner auch i n der organisierten Kirche stehe, beweist die Tatsache, daß die organisierte Kirche bisher noch keine Bedenken gehabt hat, von mir Kirchensteuern anzunehmen. Zu dem hätte eine organisierte Kirche ihr Recht sich reformatorisch zu nennen, verwirkt, wenn sie vollens im Organisatorischen aufginge - also reformatorische Kirche etwa = gegenwärtiges Kirchenregiment - , denn dann hätte sie sich in einer sehr deutlichen Weise von der Tradition radikal gelöst, und wenn sie sich noch so sehr an reformatorische Bekenntnisformeln klammerte. Es ist freilich eine allgemein bekannte sehr verhängnisvolle Zeitkrankheit, daß das Einzelwesen geradezu eine Sucht hat, sich von der Organisation absorbieren zu lassen, vielleicht aus Lebensangst. Auch gerade darum ist mir am anderen Menschen immer wichtig, daß er eine eigene Position hat. Auch von hier aus ist es mir nicht gleichgültig, welche Stellung Sie gerade als Einzelner zu mir sei es nun "fachlich" oder "theologisch" oder sonst wie eingenommen haben oder jetzt einnehmen oder in Zukunft einnehmen werden..."

Urplötzlich war dann am 30 August 1948 die Angelegenheit für das Ministerium erledigt. Herr Lötschert schrieb im Auftrag des Kultusministers an Herrn Kirchenrat Lic. Sachsse, (dessen Name bisher nicht aufgetaucht war) nach Oberwinter:

"Bis heute ist eine Antwort auf mein Schreiben vom 18.6.1948 nicht eingegangen. Infolgedessen habe ich die vorläufige Suspendierung des Studienrats Schlüpmann vom Religionsunterricht mit sofortiger Wirkung aufgehoben."

Dieses Schreiben ging in Abschrift an Heinrich Lake mit dem Zusatz:

"Obige Abschrift erhalten Sie mit dem Ersuchen um weitere Veranlassung. Im übrigen muß ich den Ausdruck in dem Schreiben des Realgymnasiums Betzdorf vom 28.7. "befremdet das ganze Kollegium" als unzulässig ablehnen."

Keine weitere Erklärung, ausdrückliche Zurückweisung der Kritik des Kollegiums am bisherigen Verfahren, aber auch hier keine Erklärung der ,Unzulässigkeit` dieser Kritik. Die Rechtslage hatte sich durchgesetzt. Wie es um das Rechtsbewußtsein und Selbstverständnis der Entscheidungsträger stand, war eine andere Frage.

Unklar blieben zunächst auch die näheren Umstände der anfänglichen Beschwerde. Das sollte sich allerdings ändern. Am 19. Oktober 1948 konnte Johannes Muhl, Lehrerkollege und Kommunalpolitiker (das ehemalige Zentrumsmitglied war 1938 "abgebaut" worden und war jetzt Mitglied der CDU ) Robert Euler bestätigen, daß Heinz Krieger zu einem Gremium von etwa 6-7 Personen zählte, das über Fragen der Una Sancta Bewegung[22] verhandelte und zu dem katholischerseits Muhl und Pfarrer Brands, Kirchen gehörten. In diesem Gremium habe sich Heinz Krieger seiner Zeit mißbilligend über Schlüpmanns Religionsunterricht geäußert und sich auch bei ihm, Johannes Muhl, nach der Person des Kollegen erkundigt. Genau diesen Sachverhalt hatte Krieger in einem Brief an Euler vom Vortag vehement bestritten. Ein weiterer Hinweis auf des Pfarrers Schlüsselrolle.

Gerade hatte Joseph Schäfer von seinem eigensinnigen Schüler Ewich im Deutschunterricht die Behauptung registriert, Pfarrer Groß hätte gesagt, Schiller zu lesen, sei schlimmer als der Besuch eines schlechten Films. Schäfer und Schlüpmann wurden vom Kollegium abgeordnet, sich Ewichs wegen mit Groß zu treffen. Offenbar war gleich klar, daß Ewich eine hypothetische Äusserung Groß` in eine apodiktische verkehrt hatte[23]. Endlich hatte Schlüpmann also den Unterzeichner der Beschwerde, die einigen Staub aufgewirbelt hatte, getroffen, und dabei hatte der Superintendent nun auch den Wunsch nach einer persönlichen Aussprache über die Angelegenheit geäußert. Das führte dazu, daß der Schulmann dem Kirchenmann sämtliche Aktenstücke zur Ansicht schickte und dem - so schrieb er - manches klarer wurde. Vielleicht setzte er sich auch mit seiner Kirchenleitung in Verbindung. Jedenfalls erhielt Schlüpmann am 27. November 1948 ein Schreiben aus Düsseldorf, (Unterzeichnet: "Im Auftrage: / Engelbert"):

"Nachdem die Schulabteilung der Landesregierung in Koblenz ihrerseits Sie wieder zum Religionsunterricht zugelassen hat, verzichtet die Kirchenleitung auf eine weitere Verfolgung Ihrer Angelegenheit. Sie tut das unter der Voraussetzung und in der Erwartung, daß weitere Beanstandungen Ihres Religionsunterrichts nicht erfolgen"

Nicht der Ansatz einer Antwort in der Sache. Ganz ,unverfroren` wurde dem Betroffenen die versprochene Stellungnahme verweigert, und gleichzeitig wurde unterstellt, daß die ,Beanstandung` nach wie vor - sei es zu Recht oder zu Unrecht - zähle. Schlüpmann gab seinem Bedauern über diese Behandlung der Angelegenheit postwendend Ausdruck und fügte hinzu:

"Da ich in keiner Weise widerlegt bin, bedeutet das mit Bezug auf meinen Konflikt im wesentlichen, daß ich weiterhin meine Schüler wie bisher u.a. auch zum Wahrheitssuchen und zur Toleranz unter Einsatz meiner ganzen Persönlichkeit aus Gewissensgründen anhalten muß, wie es übrigens auch Art.33 der Verfassung von Rheinland-Pfalz von mir verlangt. Solange ich nicht widerlegt bin, muß ich, wenn es der Gang des Unterrichts so will, weiterhin dem Inhalt nach genau und in vollem Umfang das sagen, was beanstandet wurde. Mit dieser Haltung weiß ich mich ganz genau in lutherischer Tradition verbunden."

Die Mitteilung der Kirchenleitung und seine Antwort schickte er in Kopie an die EKD offenbar in der Hofnfnung auf eine Reaktion.

* * *

Ob überraschend oder nicht, jedenfalls tat Superintendent Gross einen ungewöhnlichen Schritt. Er fand zwar noch immer keine Zeit zur in Aussicht genommenen Unterredung aber er überließ - vermutlich nicht ohne Einverständnis seiner Kirchenleitung - Schlüpmann seinen Schriftwechsel in der Angelegenheit zur Einsichtnahme. So ergab sich eine nachträgliche Offenlegung von Absichten und Motiven.

Heinz Krieger hatte unter dem 9ten Juli 1947, also gut drei Wochen bevor Schlüpmann von der Beschwerde überrascht wurde, sowohl an Groß wie auch an das Kreisschulreferat (das Gymnasium war ja eine Kreisschule) geschrieben:

"In seiner Sitzung vom 8. Juli beschloß Presbyterium einstimmig folgende Schulangelegenheiten: / Es werden lebhafte Klagen geführt über den Religionsunterricht von Studienrat Schlüpmann am Kreisgymnasium Betzdorf. Wie von mehreren Seiten festgestellt wurde, geschieht der Unterricht des Herrn Schlüpmann nicht im Rahmen der biblischen und kirchlichen Lehre. So hat er seit längerer Zeit als Ziel seines Unterrichts die Aneignung Lessingscher Glaubensanschauung betrieben. Das Presbyterium bittet die kirchliche Aufsichtsbehörde, gegen diese untragbare Form des Religionsunterrichts Maßnahmen zu ergreifen."

Der Superintendent hielt daraufhin mit dem Regierungsrat Dr. Beermann und dem Regierungsrat Klaus Rücksprache und schrieb unter dem 18. Juli dem "Lieben Bruder Krieger", daß er beim Kultusministerium Beschwerde erheben werde, und ihm von dort eine Überprüfung des Unterrichts zusammen mit ihm, Groß, zugesagt sei, "alles weitere wird nach der geschehenen Überprüfung in die Wege geleitet werden können".

Heinz Krieger hatte inzwischen, wie er Groß unter dem 26. Juli schrieb, wie telephonisch vereinbart, genauere Auskünfte zur Vorgehensweise eingeholt, nämlich beim Beauftragten der Rheinischen Kirchenleitung für Angelegenheiten der höheren Schulen, Studiendirektor Lauffs in Düsseldorf. Diese Auskünfte ließen an juristischer Konkretheit nichts zu wünschen übrig:

"Wenn eine Lehrperson in der Religionsunterricht genannten christlichen Unterweisung eine von der Heiligen Schrift und dem kirchlichen Bekenntnis abweichende Lehre fortgesetzt vertritt, so hat die Evangelische Kirche Recht und Pflicht, dagegen Einspruch zu erheben und für Abhilfe zu sorgen. Das entspricht nicht bloß dem bisher gültigen und durch die Reichsverfassung besonders geschützten Recht (das überall grundsätzlich noch gilt, soweit es nicht durch einen gesetzlichen Akt oder eine Verordnung der Militärregierung aufgehoben ist), sondern vor allem auch der durch Volksentscheid angenommenen Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz. §34 dieser Verfassung besagt, daß der Religionsunterricht im Auftrag und in Übereinstimmung mit der Lehre der betreffenden Kirche erteilt werden muß. / Über den Verfahrensweg zur wirksamen Durchführung dieser Bestimmung sind mit dem Kultusministerium von Rheinland-Pfalz bisher noch keine besonderen Abmachungen getroffen worden. Sachlich richtig und allen Rechtssicherungen entsprechend und darum empfehlenswert erscheint folgender Weg: 1. Auf die entsprechende Vorstellung des Prebyteriums bei dem Superintendenten beauftragt dieser entweder den kreisynodalen Schulreferenten oder den Ortspfarrer oder sonst einen geeigneten Pastor oder Lehrer, mit der der falschen Lehre bezichtigten Lehrperson ein eingehendes seelsorgerliches Gespräch zu führen mit dem Ziel, den Lehrer auf den rechten Weg der christlichen Verkündigung zurückzuführen, oder ihn durch überzeugende Darstellung willig zu machen, von sich aus seinen Religionsunterricht niederzulegen...."

Für den Fall, daß keine Einigung zustande käme, sollte das Presbyterium eine gründliche Beweisaunfnahme durchführen, wobei Schüleraussagen vorsichtig zu bewerten wären. Berichte über das seelsorgerliche Gespräch und die Beweisaunfnahme sollten über den Superintendenten an die Kirchenleitung gehen. Die würde sich mit dem Kultusminister in Verbindung setzen und die Abberufung des Religionslehrers und die Berufung eines Ersatzlehrers beantragen, unter Umständen müsse die Kirchenleitung ersatzweise einen Pfarrer zur Verfügung stellen. Lauffs bat Krieger ihn auf dem Laufenden zu halten, insbesondere auch ihm persönlich ein Doppel der Berichte an die Kirchenleitung zuzusenden. Statt nun offen nach dem vorgegebenen Schema zu verfahren, hielt Heinz Krieger sich bedeckt.

Der Betroffene erfuhr auch erst durch die Akteneinsicht, die ihm der Superintendent nachträglich ermöglicht hatte, daß die Kirchenleitung neuerdings, unter dem 27. Mai 1948, offenbar an die örtlichen Kirchenvertreter herangetreten war. Heinz Krieger hatte daraufhin seiner Kirchenleitung am 25. Juni einen - die Sachlage ziemlich entstellenden - Bericht geliefert, der den Lehrer als nicht gesprächsbereiten, rechthaberischen Menschen darstellte und der in der Argumentation allzu auffällig hinter den inzwischen erreichten Stand der anderen ,Gesprächspartner` zurückfiel, indem er einfach behauptete, der Lehrer spreche der Kirche jedes Recht der Überwachung ab. War dem Pfarrer nicht klar, daß ein so eindeutiger Verstoß gegen die Landesverfassung alle weitere Verhandlung längst erübrigt hätte?

"Aufgrund der obigen Verfügung der Kirchenleitung vom 27. Mai 1948 habe ich mich erneut um eine Klärung der Beschwerdesache über Herrn Studienrat Schlüpmann bemüht ... Bereits im August 1947 scheiterte der Versuch einer seelsorgerlichen Besprechung und später ein Gespräch zwischen Kirche und Schule, das Oberstudiendirektor Lake durchführte (müßte heißen: wegen mangelnder Beteiligung nicht durchgeführt hatte. s.o. KS) ... Die alleinige Bindung an das geoffenbarte Wort Gottes lehnt er für sich und seinen Unterricht ab, steht auch völlig fern - wie er meint, über - dem Gottesdienst der Gemeinde. / Leider ist die ganze Angelegenheit, so wie sie heute steht, als verfahren zu betrachten. M.E. ist das Kultusministerium zu schnell dabei in Erscheinung getreten."

Krieger schrieb von einer ,Verfügung` des Ministeriums, die zu schnell gekommen sei. Gemeint war die Aufforderung des Ministers an den Lehrer, sich zu der Beschwerde zu äußern. Der Ministerialbeamte habe sich vorher mit der Kirchenleitung ins Benehmen setzen müssen. Die verdeckte Vorgehensweise, die dem Pfarrer vorschwebte, entsprach nicht einer rechtsstaatlichen Öffentlichkeit. Vermutlich hat diese Vorstellung zur Vorgehensweise, wie sie seinem Bericht zu entnehmen war, schlagartig zur Einsicht geführt, das anstelle des Verfahrens nur noch ,Schadensbegrenzung` betrieben werden konnte. Wenn es so war, war das eine rechtsstaatliche Einsicht und eine christliche zugleich. Die Kirchenleitung hatte übrigens auch um reichhaltigeres Belastungsmaterial gebeten. Der Pfarrer konnte nur wiederholen, was aus Schlüpmanns Anlagen in Düsseldorf längst vorlag und sein einziger ,Zeuge` war leider wieder Ewich, der Schüler.

* * *

Schlüpmann schickte unter dem 20. Dezember 1948 dem Superintendenten, der ihm Kriegers Bericht an die Kirchenleitung gerade zugänglich gemacht hatte, einen nüchternen, aber ins Einzelne gehenden Kommentar in 21 Punkten und am 6. Januar schickte er eine Kopie an den Pfarrer mit dem Anschreiben:

"Sehr geehrter Herr Pfarrer! / Erst vor kurzem gelangte Ihr Schreiben an die Rhein. Kirchenleitung vom 25.6.48 zu meiner Kenntnis. Vor allem infolge Krankheit kann ich Ihnen erst jetzt meine Stellungnahme dazu zugehen lassen. Sie erhebt nicht den Anspruch, erschöpfend zu sein; insbesondere liegt ja meine Stellungnahme zu den von Ihnen zitierten Briefen bereits an anderer Stelle vor".

Am 14. März 1949 schrieb der Lehrer seinem Minister einen abschließenden kurzen Brief. Da die EkiD noch immer schwiege, erwarte er keine Antwort mehr. Seine Möglichkeiten, kirchliche Instanzen zu den Fragen, die die Beschwerde vom 16 Juli 1947 aufgeworfen habe, seien erschöpft. Er bedaure das Verhalten der Instanzen, entnähme ihm jedoch, das sachlich gegen seinen Unterricht nichts einzuwenden sei, womit die Beschwerde in sich zusammengebrochen sei, und die persönliche Diffamierung, die er gleich zu Anfang habe erkennen müssen, jeder sachlichen Grundlage entbehre. Eine Kopie dieses Briefs schickte er an das Presbyterium der Pfarrgemeinde Kirchen, weil dessen Schreiben seinerzeit der Beschwerde des Superintendenten zugrunde gelegen habe, "wie ich Mitte Dezember 1948 erfuhr"; Außerdem gingen Kopien an Pfarrer Gross und an den Pfarrkonvent, weil der schon im Juni 1947 laut Krieger einhellig seinen Unterricht verworfen und beschlossen habe, Einspruch zu erheben. Schließlich wurde die Rheinische Kirchenleitung informiert, daß er inzwischen Kriegers Bericht an sie vom Juni 1948 habe einsehen und kommentieren können und der Pfarrer ihm seither nicht geantwortet habe. Der Kommentar, den er in Kopie mitschicke, wolle nicht erschöpfend sein und seine bisherige Korrespondenz mit dem Pfarrer läge ja vor. Der schweigsame Rat der EKD erhielt einen Durchschlag des Abschlußbriefs an den Kultusminister.

Am 28. März kam es endlich doch noch zu einer Aussprache mit Pfarrer Groß (der inzwischen das Superintendentenamt weitergegeben hatte). Der rückte von seinem Amtsbruder in Kirchen ab und konnte dessen Aussage über die einhellige Ablehnung von Schlüpmanns Unterricht nicht bestätigen, außerdem seien Beschwerdebeschlüsse nicht Sache des Pfarrkonvents. Sein eigenes Vorgehen in der Angelegenheit bedauerte er, und er habe in dem inkriminierten Diktat, nachdem er es nun gelesen habe, nichts unevangelisches erkennen können.

Die EKD-Kanzlei konnte sich - oh Wunder - nun auch noch äußern. Sie mochte keinen Vorwurf auf sich sitzen lassen, zumal

" es sich in dieser Angelegenheit um Fragen (handelt), in die sich nach der Grundordnung der EkiD keine Instanz der EkiD einschalten kann, da es sich um Fragen des Bekenntnisses handelt"

Dabei hatte die leidige Angelegenheit doch immerhin soviel ergeben, daß nicht die Bekenntnisfragen, die der Beschwerdeführer glaubte anführen zu können, sondern die Grundfrage von Religion und Schule, von Religion und Staatsbürgerlichkeit den Lehrer in erster Linie bewegten. Wer über diese Frage hinwegsehen konnte, verhinderte damit ihre in der jungen Demokratie so wichtige Erörterung und öfnfnete ,Fundamentalisten` und ,Kommunitaristen` die Tore.

Heinrich Lake erstattete unter dem 12. April in Absprache mit Schlüpmann noch einmal dem Ministerium Bericht, das wissen wollte, ob der Lehrer mit Billigung der Kirche wieder Religionsunterricht gäbe, oder wie andernfalls der Religionsunterricht gesichert sei. Der Bericht faßte die wesentlichen (Nicht-) Entscheidungen noch einmal zusammen.

Unter dem 22. April kam dann noch ein Nachwort von Pfarrer K. Fritz aus Schwäbisch- Gmünd:

"Ich möchte zu dem Briefwechsel zwischen Ihnen und der Kirchenkanzlei doch noch ein persönliches Wort sagen, da mich die ganze Angelegenheit, seit ich Kenntnis davon erhielt und sie referatsmäßig zu bearbeiten hatte, bedrückt hat... Glauben Sie nicht, daß ich Ihre Schwierigkeiten und Ihre Bemühung um Ihren Dienst gering achte, oder daß ich diese Dinge für grundsätzlich bedeutungslos hielte; ich war lange selbst Religionslehrer und kann mitfühlen. Auch die Ihrem Fall ähnlichen Vorgänge, die aus Anlass des Kongresses für Freies Christentum in Frankfurt zur Sprache kamen, haben mich sehr umgetrieben. / Schmerzlich ist es mir vor allem, daß es Ihnen anscheinend nicht gelungen ist, mit den dortigen Stellen in wirklich brüderlicher Weise über Ihr Anliegen zu reden. Lassen Sie sich die Freudigkeit in Ihrem Dienst nicht nehmen .. Röm. 14, 4,5,12! / Nehmen Sie dieses Wort als Bekenntnis der Spannung zwischen Wollen und Können in der Ecclesia Visibilis."[24]

Schlüpmann schrieb am 3. Mai 1949 zurück:

"Man müßte nicht solange Beamter sein, um nicht zu wissen, daß Aktensprache und Brudersprache zweierlei ist. Ich glaube wohl, daß Sie nicht der einzige sind unter denen, die in ,meiner` Angelegenheit in jener Sprache zu mir reden mußten, der zu mir auch in dieser Sprache hätte reden mögen. Ihr persönlicher Brief ist mir dafür beglückende Bestätigung. Dafür bin ich Ihnen von Herzen dankbar..."

Er bedaure, schrieb der Lehrer, daß nicht auch seitens der Rheinischen Kirchenleitung, die persönliche ,Brudersprache` einmal die ,Aktensprache` gesprengt hätte, ein Schritt, den dort wohl niemand hätte wagen mögen.

"Glauben Sie darum nicht, daß ich überhaupt nicht mehr in der Ecclesia visibilis die Brudersprache vernehme. Ich vernehme sie auch noch aus dem Munde ihrer amtlichen Vertreter, selbst an exponierter Stelle. Glauben Sie auch nicht, daß ich nicht um das Wagnis einer "totalitären" Brudersprache wüßte. Aber in der ecclesia invisibilis ist sie total, und um der geschlagenen Menschheit willen ist sie auch in der Ecclesia visibilis letzten Endes noch notwendig..."

Sollte hier mit anderen Worten gesagt sein, daß die ,totalitäre` Rede vom absolutem Gehorsam "vor Gott und den Geboten", trotz der im Autoritätsglauben liegenden Gefahr gewagt werden müsse? Bis auf weiteres wäre den weltlichen Totalitarismen gegebenenfalls mit totalitär religiöser Sprache zu begegnen?

Fritz wies in seinem Brief auf den ,Deutschen Bund für Freies Christentum in der evangelischen Kirche` (BFC) hin. Der ,Weltbund Freies Christentum` ging auf eine amerikanische Gründung im Jahr 1900 zurück und fand seine Mitglieder weltweit im bildungsbürgerlichen Establishment. Seit 1932 veranstaltete die "International Association for Religious Freedom` (IARF) Weltkongresse[25]. Der BFC enstand auf Initiative des Frankfurter Pfarrers Erich Meyer[26] 1948 als Zusammenschluß von Mitgliedern des ,Bundes für entschiedenen Protestantismus`, der ,Freunde evangelischer Freiheit`, der ,Volkskirchlichen Vereinigung` etc., und trat dem Weltbund der IARF dann bei. Er arbeitete "positiv, aber kritisch innerhalb der Landeskirchen"[27]. In Zeiten, in denen ,Freiheit` ganz besonders ein politischer Kampfbegriff geworden war, vertraten die Mitglieder eine "Freiheit, die ihren Grund in der zentralen christlichen Wahrheit hat."[28] Zu den prominenten Mitgliedern und Sympathisanten zählten die Marburger Theologen Friedrich Heiler und Georg Wünsch, der Duisburger Schulleiter Friedrich Feigel, der Bonner Religionssoziologe Gustav Mensching oder auch der ,Urwalddoktor` Albert Schweitzer und der religiöse Sozialist Paul Tillich. Der Bund setzte sich gegen eine Abqualifizierung als ,Überbleibsel` liberaler Theologie zur Wehr ohne seine Herkunft zu leugnen. Paul Schlüpmann war mit der Gründung des Bundes aus seinem Bekanntenkreis vertraut. ,Liberale` Theologen hatten bekanntlich auch die Tradition des Evangelisch Sozialen Kongresses[29] bestimmt, dem er 1947 beigetreten war. Es überraschte nicht, daß seine Theologie und seine schulpolitischen Ansichten im neuen Frankfurter Kreis und seinem Blatt Freies Christentum[30] Resonanz finden sollten.

Anfang 1952 vertrat Schlüpmann den BFC im Komitee für religiöse Erziehung der IARF und verfaßte auf Anfrage einen kurzen Beitrag für das Nachrichtenblatt des Weltbundes, "Zur Entwicklung der religiösen Erziehung in Deutschland". In dem Text wurden seine Ansichten noch einmal deutlich.

"Von überragender Bedeutung für die religiöse Erziehung ist in Deutschland der nach den Konfessionen (katholisch und evangelisch) getrennte konfessionelle Religionsunterricht der - staatlich beaufsichtigten - öffentlichen Schule. Er pflegt "ordentliches Lehrfach" zu sein und wird meistens von hauptamtlichen, der betreffenden Konfession angehörenden Lehrern der Schule erteilt, die auch in anderen Fächern unterrichten und ebenfalls der staatlichen Aufsichtsbehörde unterstehen. Zeitweilig war insbesondere der ev. Rel.-U. auch eine Stütze des allgemeinen Erziehungsgedankens in der Schule, weil man ihm auch gerade wegen seiner an ihm besonders hervorstechenden erzieherischen Art einen Platz im Schulorganismus anwies. Wiewohl es jedem Schüler freisteht, sich über seine Eltern oder sonstigen "Erziehungsberechtigten" von ihm abzumelden, nehmen am ev. Rel.-U. doch auch Angehörige außerlandeskirchlicher Denominationen, ja sogar solche Schüler teil, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Dieser ev. Rel.-U. steht nicht ganz mit Unrecht in dem mehr oder weniger geheimen oder öffentlichen Ruf, lange Zeit weitgehend im theologischen Sinn "liberal" gewesen zu sein und auch heute noch nicht ganz von den "Restbeständen" eines theologischen "Liberalismus" frei zu sein. Was daran richtig ist, hat seine guten Gründe: Zum ersten kann ein Rel.-U., der der Schule organisch eingegliedert ist, der Berücksichtigung der allgemeinen Methoden der Schule praktisch wohl nicht ausweichen, wenn er nicht in sich zusammenfallen soll. Zu diesen allgemeinen Methoden gehört aber u.a. wissenschaftliche Strenge im Handhaben des Unterrichtsfaches, in der für die Theologie und sogar darüber hinaus eben die freiheitliche Theologie bis heute vorbildlich geblieben ist. Zum anderen verdankt der ev. Rel.-U. seine eigenen, heute noch sachgemäßen Methoden weithin einer im ersten Drittel unseres Jahrhunderts entwickelten Religionspädagogik, für die die freiheitliche Theologie von entscheidender Bedeutung war; es sei hier nur an das umfassende religionspädagogische Werk Friedrich Niebergalls, des damaligen Marburger Universitätsprofessors für praktische Theologie, erinnert und daran, daß das Buch von Else Zurhellen-Pfleiderer "Wie erzähle ich meinen Kindern biblische Geschichten", zum ersten Mal 1906 erschienen, nach vielen Auflagen auch heute noch gedruckt, gelesen und gebraucht wird. Eine Anzahl von Religionslehrbüchern wurden unter Mitwirkung von frei-christlichen Pfarrern und Religionslehrern verfaßt, so die Unterrichtswerke von Schuster, Hannover. Freilich hat sich seit dem Aufkommen der dialektischen Theologie und ihrer Varianten eine rührige entsprechende Religionspädagogik entwickelt. Es soll keineswegs bestritten werden, daß ihr wichtige religionspädagogische Einsichten zu verdanken sind. Aber im ganzen hat sie doch wohl den Rückfall in die alten, fragwürdigen Methoden des "Lern"-unterrichts gefördert und mit ihren bisherigen Ergebnissen ungewollt die pädagogische Unfruchtbarkeit ihrer zu Grunde liegenden Theologie geradezu erwiesen. Es will fast wie der unmittelbare Niederschlag ihres Hauptergebnisses erscheinen, wenn in einem im Bereich und Auftrag einer großen Gliedkirche der "Evangelischen Kirche in Deutschland" neu eingeführten Rel.-Lehrplan für die Volksschulen ausgeführt wird: "Wir haben es nicht in der Hand, irgendeinen Menschen zugänglich zu machen für Gottes Wort; darum sollen wir auch unsere Unterrichtsmethoden nicht darauf richten... Die christliche Unterweisung soll nicht den Menschen und seine Erziehung in den Mittelpunkt stellen, sondern Christus in seiner Macht und Herrlichkeit". Das bedeutet den radikalen Verzicht auf die religiöse Erziehung, ohne daß gewagt wäre, die praktischen Folgerungen daraus ebenso radikal zu ziehen, und man muß den Eindruck gewinnen, als ob es dem freien Christentum vorerst weithin allein überlassen bleiben sollte, Wahrerin der Idee der religiösen Erziehung zu sein; starke Impulse zur Pädagogik sind ihm ja von seiner besten Tradition her mitgegeben.

Theologen und Kirchenvertreter verschiedener Provenienz, ob dialektische Theologie oder Lutherrenaissance, hatten aus der Sicht des Lehrers die Widersprüche nicht gesehen oder nicht ernst genommen, zu denen ihre Forderungen in der erzieherischen Praxis der Schule im demokratischen Gemeinwesen führten. Es wäre verfehlt, diesen Vorwurf des Mangels an Problembewußtsein, der auch die Vertreter der Kultus- und Schulbehörde nicht ausnahm, über der teilweise grotesken Auseinandersetzung, die dem Religionslehrer aus fragwürdigen Motiven und mit fragwürdigen Absichten aufgezwungen wurde, zu vergessen. Er wurde damals leider nicht aus der Welt geschafft und in dem Maß, in dem er zu Recht bestand, standen Kirche und Demokratie auf schwachen Füßen.

Als das Bonner Grundgesetz 1949 in Artikel 7, Abs.3 festgelegt hatte, daß der Religionsunterricht "... als ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes... in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften" zu erteilen sei, schrieb das Allgemeine Deutsche Sonntagsblatt (H.D.) vom 3. Juli unter dem Titel "Religionsunterricht der keiner ist":

"Unter den Lehrern und Lehrerinnen überwiegen, insbesondere in den leitenden Stellungen, die älteren Menschen, die ihre entscheidenden Lebenseindrücke noch in einer Zeit empfingen, als der Mensch, der fortschrittlich gesonnen war - und die Lehrerschaft war es - das Wort der Offenbarung durch moderne Religiosität ersetzte. / Seitdem geistert in der Schule (die allen Reformen zum Trotz in Wirklichkeit eine überaus konservative Einrichtung ist) eine "christliche Weltanschauung", die sich gegen das Hörbarwerden der neutestamentlichen Wahrheiten mit orthodoxer Unduldsamkeit verschließt. Die Lehrerschaft hat, wie Helmuth Kittel es in einem Aufsatz in der "Sammlung" genannt hat, aus sich heraus eine eigene Standestheologie für den Religionsunterricht entwickelt, die, durch geistige Standesdisziplin gedeckt, praktisch die Grundlage zu einer Standeskirche abgibt, die bewußt neben der Kirche Christi lebt. "Der Pädagoge reißt die Verkündigung an sich und vertritt pseudoschöpferisch eine außerchristlich antichristliche Religion" (Osterloh) In der Schule wird also, mit einem Worte, weithin ein Religionsunterricht erteilt, der keiner ist."

Das ,Sonntagsblatt` war ein ,meinungsbildendes` Organ, Helmuth Kittel hatte die Parole "Evangelische Unterweisung - nie wieder Religionsunterricht" ausgegeben, und Edo Osterloh war der Schulreferent in der Kanzlei der EKD. Menschen aller Altersgruppen hatten gerade Krieg und Völkermord erlebt - ,entscheidende Lebenseindrücke` hätten nur die Jüngeren davongetragen? Erstaunlich auch, mit welcher Leichtfertigkeit und wie pauschal von ,moderner Religiosität` und ,orthodoxer Unduldsamkeit`, von ,Standestheologie`, und ,bewußt neben der Kirche Christi leben`, von ,pseudoschöpferisch außerchristlich antichristlicher Religion` geschrieben werden konnte. Nährte nicht solcher Eifer sich aus jenem Mangel an Problembewußtsein im Umgang mit Religion im Rechtsstaat, zumal in den Schulen?

Erst 1971 dämmerte es in der protestantischen Kirchenleitung, als ein vom EKD-Rat bestelltes verfassungsrechtliches Gutachten zu dem Schluß kam:

"Die Bindung an das biblische Zeugnis von Jesus Christus schließt nach evangelischem Verständnis ein, daß der Lehrer die Auslegung und Vermittlung der Glaubensinhalte auf wissenschaftlicher Grundlage und in Freiheit des Gewissens vornimmt" " Die ,Grundsätze der Religionsgemeinschaften` schließen in der gegenwärtigen Situation die Forderung ein, sich mit den verschiedenen geschichtlichen Formen des christlichen Glaubens (Kirchen, Denominationen, Bekenntnisse) zu befassen, um den eigenen Standpunkt und die eigene Auffassung zu überprüfen, um Andersdenkende zu verstehen und um zu größerer Gemeinsamkeit zu gelangen. Entsprechendes gilt für die Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Religionen und nichtreligiösen Überzeugungen."" Das theologische Verständnis der ,Grundsätze der Religionsgemeinschaften` korrespondiert mit einer pädagogischen Gestaltung des Unterrichts, der zugleich die Fähigkeit zur Interpretation vermittelt und den Dialog und die Zusammenarbeit einübt."[31]


[1] Vgl. Martin Stallmann, Christentum und Schule, Stuttgart, Schwab, 1958, S. 196: "Das Bonner Grundgesetz hat im wesentlichen die Bestimmungen der Weimarer Verfassung übernommen. Damit war erneut die laizistische, in der französischen ,école laïque` eingeführte Ausscheidung des Religionsunterrichts aus der staatlichen Schule abgelehnt..."

[2] Otto Dibelius (1880-1967) war vielfach publizistisch in Erscheinung getreten, einerseits als scharfer Kritiker der Revolution von 1918 (,Entchristlichung`), andererseits als (nichtpazifistischer) Kriegsgegner ("Friede auf Erden" 1930), er wurde im Sommer 1933 seiner Ämter enthoben, kehrte 1934 nach Berlin zurück, wirkte in der Bekennenden Kirche, nach der Zerschlagung der ,Vorläufigen Kirchenleitung` ab 1938 auch auf nationaler Ebene in maßgeblicher Position. Unterzeichnete 1956 den umstrittenen ,Militärseelsorgevertrag` der Bundesrepublik. Dibelius blieb wohl zeitlebens einer auf Adolf Stoecker zurückgehenden (,schlechten`, weil realitätsfernen) Vorstellung von staatsnaher ,Volkskirche` treu. Vgl. Martin Greschat, "Adolf Stoecker und der deutsche Protestantismus" in Günter Brakelmann, Martin Greschat, Werner Jochmann, Protestantismus und Politik. Werk und Wirken Adolf Stoeckers, Hamburg, Christians, 1984

[3]Der Vater Heinrich Bohner hatte es über die Basler Mission vom Schuster zum Bischof in deutschen Kolonien in Afrika gebracht. Theodor Bohner (1880- 1956) war nach dem Studium 1904-07 Lehrer in badischen und preußischen Diensten, von 1908-1915 Lehrer in Rom. 1917 wurde er Direktor der Viktoriaschule in Magedburg. 1929-1933 war er Oberschulrat im Provinzialschulkollegium in Berlin, 1925-1932 auch DDP-Abgeordneter im Preußischen Landtag. Er wurde 1933 ,abgebaut`, widmete sich der Schriftstellerei (Sachbücher und Romane). Von 1946-48 beschäftigte ihn das War Office London in deutschen Gefangenenlagern. 1948/49 lehrte er Philosophie an der Georgetown University in Texas. Er war zweimal, 1932/33 und 1951/52 Vorsitzender des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller.

[4]So starb Ernst Troeltsch, der 1896 die Eisenacher Versammlung der (liberalen) Freunde der Christlichen Welt mit der Ansprache "Meine Herren, es wackelt alles" schockiert hatte, 1923, nicht alt, aber mit einem ,monumentalen` geschichtskritischen Lebenswerk und mit der Überzeugung, die individuelle religiöse Dimension sei eine anthropologische Gegebenheit.

[5]Für Karl Barth hatte 1914 das berüchtigte und für die Geistesgrößen der Nation beschämende ,Manifest der 93` den ersten Anstoß zum Umdenken gegeben. Allerdings meinte Paul Tillich später (1936 im Journal of Religion) zu Barths Theologie: "wenn ich gefragt werde, was ist falsch an der dialektischen Theologie? so antworte ich: daß sie nicht dialektisch ist." (Die ,Dialektik` sollte einmal die geforderte radikale Diastase von Gott und Mensch gestalten.) Barths Urteil über Religionsphilosophie und liberale Theologie sei irrig, er habe sich in seiner Gegnerschaft gegen die ,liberale` Auffassung nicht für die dialektische, sondern für die supranaturale Theologie entschieden.

[6]S.o. ,Schüler und Lehrer auf dem Weg zu Krieg und Völkermord`

[7]Ebenda`

[8]Hirsch blieb als literarischer und theologischer Autor präsent. Vgl. u.a. "Mein Weg in die Wissenschaft" Freies Christentum 3, Nr.11, 1951

[9]Edo Osterloh, "Schule und Kirche nach dem Zusammenbruch 1945" in: Kirchliches Jahrbuch 1950 S. 379ff

[10]Wolfgang Sander, Politische Bildung und Religionsunterricht. Eine Untersuchung zur politischen Dimension der Religionspädagogik, Stuttgart, Metzler, 1980, S.121

[11] Sitz Leipzig, Mitgliedsbeitrag RM 5.- /a, Geschäftsführer D. Herz

[12] Lessing hatte in seiner Auseinandersetzung mit dem Hamburger Pastor Melchior Goeze geschrieben: "Ich verachte alle Ausflüchte, verachte alles, was einer Ausflucht nur ähnlich sieht. Ich habe es gesagt und sage es nochmals: auch an und für sich selbst sind die bisherigen Verteidigungen der christlichen Religion bei weitem nicht mit allen den Kenntnissen, mit all der Wahrheitsliebe, mit allem dem Ernste geschrieben, den die Wichtigkeit und Würde des Gegenstandes erfordert!" Heinz Zahrnt, Pfarrer und Herausgeber einer viel gelesenen protestantischen Wochenzeitung (Sonntagsblatt) schrieb 1960: "Wahrscheinlich hat Lessing zeit seines Lebens wenig geglaubt und am Ende sogar noch weniger. Was er dennoch bis auf diesen Tag für die Theologie und die Kirche leistet, ist, daß er sie unerbittlich zur Wahrhaftigkeit anhält und sie davor bewahrt, es sich gerade mit der christlichen Wahrheit zu leicht zu machen." (Es begann mit Jesus von Nazareth. Die Frage nach dem historischen Jesus, Stuttgart, Kreuz-Verlag, 1960, S.36)

[13]Die ,Verfassungswirklichkeit` in den Ländern war und ist unterschiedlich. Seit Gründung der Bundesrepublik gilt Art.7 GG, den die Landesverfassungen unterschiedlich ergänzen: "Die kirchliche Lehrbevollmächtigung der Religionslehrer wird in den Verfassungen von Bayern, Nordrhein-Westfalen und des Saarlandes gefordert. Die Verfassungen von Rheinland-Pfalz und des Saarlandes gehen dabei mit der zumindest mißverständlichen Formulierung, daß der Religionsunterricht ,im Auftrag` der Kirchen erteilt wird, bis hart an den Rand des vom Grundgesetz gewährleisteten Spielraums" (Wolfgang Sander, loc.cit. S. 29) Der Autor schrieb auch: "Lassen Grundgesetz und Landesverfassungen zumindest nominell eine Beteiligung aller Religionsgemeinschaften am Religionsunterricht offen, so wird durch die Praxis vertraglicher Abmachungen zwischen dem Staat und den Großkirchen faktisch eine Privilegierung der christlichen Großkirchen juristisch festgeschrieben"(Ebendort.).

[14] ("Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben." Schlüpmann übernahm offenbar eine Analogie von Lehrer und Eltern (oder Herren?), die auch in den zum 4. Gebot gern und ,offiziell` zitierten Bibelsprüchen zum Ausdruck kam, etwa Hebräerbrief 13,17/18: "Gehorchet euren Lehrern und folget ihnen, denn sie wachen über eure Seelen, als die da Rechenschaft dafür geben sollen, auf daß sie das mit Freuden tun und nicht mit Seufzen, denn das ist euch nicht gut." Zitiert nach Rheinische Provinzialsynode Hg. , Evangelischer Katechismus, Elberfeld Juli 1946, S.16, das 4te in Luthers Katechismus ist hier das 5te Gebot KS)

[15] Die eigenen Kinder wurden allerdings im Vorschul- und frühen Schulalter noch gelegentlich von väterlicher Hand ,versohlt`.

[16] "Du sollst kein falsch Zeugnis reden wieder deinen Nächsten". Einschlägiger Bibelspruch etwa Epheserbrief 4, 25: " Leget die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeglicher mit seinem Nächsten, sintemal wir untereinander Glieder sind." Zitiert nach Rhein. Provinzialsynode Hg., loc. cit. Der Schreiber mag mit Genugtuung den Pfarrer an das 8te Gebot erinnert haben, wo er vermutlich bewußt des Heranwachsenden Verhalten nicht mit diesem in Verbindung gebracht hatte, sondern mit dem 4ten (s.o.). KS)

[17] Ernst Benz (1907-1978), vielgelesener wissenschaftlicher Autor (u.a. Werke zur Mystik, zur Kunstgeschichte) gründete 1948 zusammen mit Hans Joachim Schoeps (dem ehemaligen Schriftleiter von Martin Rades Christ und Welt) die Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte.

[18] Oberschulrat, ab 1954 Leiter des Wilhelm Hofmann Gymnasiums in Loreley

[19] Günter Dehn (1882-1970) war in den zwanziger Jahren Mitgründer der Neuwerkgruppe religiöser Sozialisten, theologisch stand er jedoch Karl Barth nahe. Der Berliner Pastor wurde Universitätslehrer für praktische Theologie in Heidelberg und 1931 in Halle. Dehn hatte 1928 in einem Marburger Vortrag gefragt, ob es erlaubt sei ,Heldentod` und christlichen ,Opfertod` zu vergleichen, ob Kriegerdenkmäler in den Kirchen am Platz wären. Die politische Rechte der Hallenser Studenten bereitete ihm einen öffentlichen Skandal, er wurde beurlaubt und 1933 "abgebaut". Ab 1935 unterrichtete er an der Hochschule der Bekennenden Kirche in Berlin, der Unterricht fand ab 1937 mehr oder weniger ,im Untergrund` statt, das heißt inoffiziell und in verschiedenen Berliner Wohnungen. 1941 wurde Dehn von der Gestapo wegen verbotener Lehr- und Prüfungstätigkeit verhaftet, und wurde zu monatelanger Gefängnishaft verurteilt.Nach der Freilassung war er Pfarrer in Ravensburg. 1946 wurde der 64-jährige nach Bonn berufen, wo er bis 1953 lehrte. Vgl. Günter Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre, München, Kaiser, 1964 (ab 1945 nur in groben Zügen).

[20] Günther Dehn, Die religiöse Welt der Jugend, Berlin 1926, ders., Proletarische Jugend, 1929

[21] Der spätere Präses Held war seinerzeit eine der führenden Persönlichkeiten der BK im Rheinland gewesen, er hatte 1934 im Auftrag der Bruderschaft, ähnlich wie Martin Niemöller an Hitler, an Innenminister Frick geschrieben, daß die politische Diffamierung durch die DC und ihren Führer Krummacher unerträglich sei für "unzählige evangelische Volksgenossen, die mit ganzer Treue zu Adolf Hilter stehen und sich in ihrer Liebe zum Dritten Reich nicht irremachen lassen" (Günther van Norden Hg, Der Kirchenkampf im Rheinland, Köln 1984, S.87).

[22] Una Sancta: ,una sancta eglesia ...`, Glaubensartikel`: "Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige allgemeine (weltumspannende) christliche Kirche ..." (deutsche Fassung des lateinischen ,Apostolikum`). Die Una Sancta Bewegung war und ist eine lose Verbindung von Theologen und Laien mit ins 19te Jahrhundert zurückgehenden Wurzeln und uneinheitlichen Bestrebungen, die katholische und protestantische Kirchen in Deutschland zusammenzuführen. Beruft sich auf den Widerstand mancher Mitglieder im NS. Teilnahme an ihren Diskussionen um Bibelglauben und Liturgie in der Nachkriegszeit katholischerseits zunächst nur mit kirchlicher Genehmigung. Später Öfnfnung der katholischen Kirche im Umfeld der Ökumene und Erweiterung der Una Sancta durch orthodoxe Mitglieder. Seit 1955 in Niederaltaich zentriert.

[23] In dem Zusammenhang ist allerdings bemerkenswert, daß Helmut Kittel, damals Theologe an der PH Celle, der mit dem Programm "Christliche Unterweisung - Nie wieder Religionsunterricht" seit 1947 ein maßgeblicher Religionspädagoge wurde, Dichtung ziemlich generalisierend für mitverantwortlich an der ,Entchristlichung`, der Entfremdung vom Christentum hielt.

[24] Röm. 14, 4,5,12: "Wer bist du, daß du einen fremden Knecht richtest. Er steht oder fällt s e i n e m Herrn. Er wird aber stehen bleiben; denn der Herr kann ihn wohl aufrecht halten. Einer hält einen Tag höher als den anderen; der andere aber hält alle Tage gleich. Ein jeglicher sei in seiner Meinung gewiß ... So wird nun ein jeglicher für sich selbst Gott Rechenschaft geben"

[25] Vorher gab es die ,Weltkongresse für freies Christentum`, deren 7ter, 1927 in Prag, unter den deutschen Teilnehmern die Theologen Carola Barth, Otto Baumgarten, Hermelin, Niebergall, Rudolf Otto, Martin Rade aufwies.

[26]Erich Meyer (1884-1955) war 1909-1914 Pfarrer in Alexandria, bevor er Pfarrer der reformierten Gemeinde in Frankfurt wurde.

[27]Georg Wünsch in der Enzyklopädie Religion in Geschichte und Gesellschaft (RGG), 3te Aufl. 1958

[28]Vgl. auch H.-H. Jenssen Hg., Lesebuch Offenes Christentum, Aachen, Shaker, 1998

[29] Vgl. www.esk-online.de

[30]Erster Hg. und Schriftleiter war der langjährige Freund Meyers in Frankfurt, Friedrich Manz (1872-1957). Das Blatt knüpfte an die ,Christliche Freiheit` an, der das Erscheinen 1939 untersagt worden war. Manz war 1934 aus dem Pfarrernotbund ausgetreten, als sich in Frankfurt auch unter Laien eine ,Bekenntnisgruppe` gebildet hatte. Manz schrieb später: "Es ist so denkt und fühlt man, in der Zeit des Kirchenkampfes ein Neuanfang und eine Neubegründung der evangelischen Kirche auf dem Barmer Bekenntnis erfolgt, wobei das Wort neu im Sinne der Erneuerung, der Wiederinkraftsetzung der altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnisse als der alleingültigen Auslegung der Heiligen Schrift verstanden wird. Und doch wetterleuchtet in theologischen Kreisen die Erkenntnis, daß man die Arbeit des 19. Jahrhunderts nicht einfach überspringen kann, und daß im Wandel der Zeiten auch ein Gestaltwandel im christlichen Denken und in der christlichen Verkündigung erfolgen muß." "Unser freies Christentum. Eine Rechenschaft", Beilage zu Freies Christentum 1949(?)

[31] Rat der EKD Hg., Die evangelische Kirche und die Bildungsplanung, Güterloh und Heidelberg, 1972, S.124


 

 

 

Wiederaufbau

Das Grundgesetz war in Kraft getreten, die ,provisorische` Bundesrepublik, die 40 Jahre überdauern sollte, war geboren. Im gleichen Jahr 1949 gab auch der 200. Geburtstag Johann Wolfgang Goethes (1749-1832) Anlaß zur Feier. So wie siebzehn Jahre früher des ,Olympiers` hundertster Todestag. Unter dem 22. und 23. März 1932 hatten die Betzdorfer Lokalblätter geschrieben:

"Auch unser Kreisrealgymnasium wollte nicht zurückstehen in diesen Tagen, wo man weit über die deutschen Gaue hinaus das Andenken eines großen Mannes ehrt, dessen Name für alle Zeiten einen hellen Klang behalten wird: Goethe... Die anwesenden Gäste lauschten den sinnvollen Vorträgen mit reger Anteilnahme und waren von dem Gebotenen hoch befriedigt.""Goethefeier am Kreisgymnasium. Schlicht, sinnig und eindrucksstark feierte man Altmeister Goethes 100. Todestag am Montagspätnachmittag im Realgymnasium. Studienrat Schlüpmann hatte einen feinen Strauß Goethescher Gedichte gesammelt, die er Schüler und Schülerinnen der Unterprima a mit Gefühl und berechneter Stimmwirkung wiedergeben ließ. Studienrat Schlüpmann trug feinsinnig "Gesang der Geister über den Wassern" und Gedichte aus der Sesenheimer Zeit vor. Fräulein Held sang mit vollem, modulationsstarkem Organ von Meisterhand (Zelter, Schubert, Beethoven, Mozart) vertonte Goethesche Dichtungen... Die Feier, an der Eltern, Lehrer und Schüler der oberen Klassen teilnahmen, war von recht nachhaltiger Wirkung."

Seitdem waren 17 Jahre vergangen - Jahre, die jede kulturelle Kontinuität in Frage stellten. Was ließ sich mit dem ,Dichterfürsten`, der Kultfigur des Nationalstaats, vier Jahre nach dem vorläufigen Ende eines deutschen Nationalstaats und im Jahr der Konstitution der Bundesrepublik noch oder wieder anfangen? Zum Auftakt der schulischen Veranstaltungen hielt Paul Schlüpmann am 19. Juni vor rund 200 Gästen einen fast zweistündigen (!) Abendvortrag: "Goethe - heute". Weitere Feiern folgten im Juli, vor allem eine Freilicht-Schüleraufführung des "Götz von Berlichingen, die Joseph Schäfer einstudierte. Schlüpmanns Vortrag, schrieb die Rheinzeitung am 23. Juni, sei eine wohlgelungene Einführung in die Feiern gewesen, "dem Vortragenden wurde dankbarer und herzlicher Beifall gezollt".

Goethe, der Staatsmann und Politiker, der Kunst- und Naturwissenschaftler, der ,Erzieher in Theorie und Praxis`, der Dichter, der "Künder einer persönlich erworbenen Weltanschauung", so schilderte ihn der Redner. Goethe der sich über die Dinge stellen konnte, der die diesseits-Bindung nicht als seine letzte gesehen habe, und der sich gern als Wanderer bezeichnete. Kein Gott, kein Übermensch, "doch ahnt ihr nicht, daß er, der staub geworden / Seit solcher frist noch viel für euch verschließt" (Stefan George). Der ,Olympier` sei von ihm aus gesehen ein homo religiosus gewesen und gleichzeitig ein Mensch, der das eigene Leben unter der Einwirkung bedeutender Menschen und "ungeheurer Bewegung des allgemeinen politischen Weltlaufs"(Goethe, Dichtung und Wahrheit) begriff. Es sei zwingend von ihm zu reden, meinte der Vortragende, und zwar "mit höchster Pietät und Verantwortlichkeit":

"Unsere Zeiten sind wahrlich immer noch nicht zum Feiern angetan. Unsere Not ist allenthalben. Sie ist ganz persönliche Not: "Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind", dieses Goethewort ist uns heute eine Grunderfahrung geworden. Unsere Not ist zum zweiten im engsten Bezug zur sozialen und wirtschaftlichen Not und - von einem Erzieher darf auch das nicht übersehen werden - nicht zuletzt auch eine erzieherische Not"

Gewiß, Goethe habe materielle Not nie gekannt, doch

"wer die Flüchtlingsströme des Ostens im Winter 1944/45 schaudernd sah und Goethes "Herman und Dorothea" kannte, mußte überrascht sein, wie wahr und tief Goethe bereits anderthalb Jahrhunderte vorher am kleineren Beispiel solches Elend erschaut hatte."

Zum Massenmord wurde der Kulturschöpfer nicht befragt, so dominierte auch in dieser Rede faktisch das nationale Mitgefühl über das menschliche, das eine Grauen wurde durch das andere verdrängt. Wie hatte der Wanderer die Gemütsruhe besungen?

"Übers Niederträchtige / Niemand sich beklage / Denn es ist das Mächtige, / Was man dir auch sage ..."

Dazu allerdings meinte der Redner:

"niemals darf diese Lebensregel Grundhaltung werden, wie sie auch nicht Goethes Grundhaltung war. Wo aber je und je einem geschlagenen Menschen die Kräfte nicht mehr ausreichen, sich der Niedertracht zu erwehren, da darf sich wohl ein solches Wort beschwichtigend auf seine Seele legen, daß sie sich nicht in ruinöser Verbitterung verzehre."

Goethe habe das politische Gespräch mit seinesgleichen stets gesucht, obwohl er in seiner Dichtung den "politisierenden Flachkopf mit beißendem Spott übergießt". Eine solche Haltung schien dem Redner unproblematisch, wichtig war ihm die Betonung des Politischen. Letzten Endes sei es Goethe gegangen wie dem congenialen Freund Wilhelm Humboldt, daß sie nämlich politisch nicht zum Zug kommen konnten. "Sollte sich dahinter eine deutsche Tragik verbergen?" Eine rhetorische Frage, solange das Selbstverständnis der ,geistigen Elite`, auch Goethes und Humboldts, vom Vortragenden unbesprochen blieb.

Was hatte Goethe bewogen, sich zeitlebens an den Naturwissenschaften abzuarbeiten? Die nagende oder nörgelnde Idee, daß es nicht sein könne, daß Naturwissenschaft ,alles` zu erklären im Stand sei? Goethe habe eine heutige Erkenntnis vorweg nehmen können, die der Redner auf den Punkt zu bringen meinte:

"Es kann als erwiesen betrachtet werden, daß der Stoff, die Materie, nicht das Eigentliche der Welt ist, aber was dieses Eigentliche nun sei, das liegt ( ...) außerhalb des Bereichs der Naturwissenschaft und damit wohl auch der Wissenschaft überhaupt."

Das Eigentliche? Nicht sehr selbständig zollte Schlüpmann dem ,Jargon der Eigentlichkeit` (Th. W. Adorno) Tribut, als er hier versuchte, den Naturwissenschaften über sie hinausgehende Bedeutung zuzuweisen. Er schöpfte aus populärwissenschaftlichen Quellen, Schriften von Bernhard Bavink und James Jeans. Er bat den Schwager seiner Frau, den damals 35jährigen Astrophysiker Peter Wellmann, um Kritik, die offenbar ziemlich vernichtend ausfiel. Eine Grenze wissenschaftlicher Erkenntnis sei innerwissenschaftlich nicht (mehr) in Sicht, darüber waren sich die beiden einig. Aber gäbe es etwas zwingend erkennenswertes, daß grundsätzlich logisch nicht zu erkennen sei? In Kantischer Sprechweise ein ,Ding an sich`? Keine Transzendenz ,im Himmel` sondern ,hier und jetzt`, eine ,innerweltliche Transzendenz`? Das schien dem Naturwissenschaftler keine sinnvolle Frage, während der Theologe sie bejahte und darin den Ansatz zu einer ganz bestimmten Theologie sah, der er sich anschloß. Er vermutete im Naturwissenschaftler ein ,Spezialistenbewußtsein` und schrieb sich selbst eine größere Nähe zum ,allgemeinen Bewußtsein` zu.

"Religion ohne Welt ist ein Unding, Theologie ohne wissenschaftliches Weltverständnis ist auch ein Unding. Aus der Liaison von Theologie und überholtem wissenschaftlichen Weltverständnis ergeben sich Unstimmigkeiten, die unsere Gläubigkeit attackieren und damit auf unsere Gläubigkeit aufmerksam machen. Die nie verbaute Aussicht und der gleitende Übergang zum Ding an sich hin im Gegensatz zu dem überholten scharfen Einschnitt unserer früheren Erkenntnisgrenze erleichtern uns das weitere Wagnis des Glaubens. Wir werden weiterhin in Atem gehalten und sind weiterhin gehalten, das Ding an sich nicht für ein Phantom zu halten. Nun ist das Ding an sich natürlich nicht ohne weiteres der liebe Gott. Tausend andere Dinge müssen in Betracht gezogen werden, wenn man von ihm reden will. In meinem Vortrag habe ich das natürlich nicht gekonnt. Aber wenn es das ,Ding an sich` nicht mehr gibt, hat es auch kaum noch Sinn von Gott zu reden. Es ist wohl kaum ,Gott`, wenn ,Gott` nicht auch transzendent ist, und wie sollen wir von Transzendenz reden, wenn die Welt nicht mehr auch transzendent ist? Dazu muß man Karl Barth heißen."

Der Goethevers zu solcher Glaubenslogik des ,Seinsgrundes` hieß:

Was er erkennt, läßt sich ergreifen. / Er wandle so den Erdentag entlang; / Wenn Geister spuken, geh er seinen Gang, / Im Weiterschreiten find er Qual und Glück, / Er! unbefriedigt jeden Augenblick.(Goethe, Faust)

Der Redner erklärte:

"Der mittelalterliche Mensch konnte vermöge seines Weltbildes durchaus weltfromm sein. Weltfromm, das heißt nicht in pantheistischer Verflachung des religiösen Anliegens Gott verweltlichen, die Welt für Gott anbeten. Weltfromm sein heißt die Welt in ihrem unmittelbaren Bezug zu Gott erfahren. Im mittelalterlichen Weltbild war dieser unmittelbare Bezug gegeben. Sollte der Zerfall des mittelalterlichen Weltbildes und die menschliche Hilflosigkeit gegenüber diesem Ereignis mit dazu beigetragen haben, daß es der modernen Menschheit in ihrer Weltlichkeit wie in ihrer Religiösität an ,decidierter` Weltfrömmigkeit gebricht?"

Goethe, erinnerte Schlüpmann, "war Prinzenerzieher. Der Prinz war jung und, wie es ihm das Vorrecht der Jugend zu sein schien, vom Genieteufel besessen". An den im Abstand von wenigen Jahren verfaßten Gedichten .Prometheus` und ,Grenzen der Menschheit` wurde des Dichters Vorstellung von Erziehung - als Beruf - erläutert:

"Erziehung heißt ganz allgemein die Entwicklung eines Menschen fördern. Wie kann das angesichts solcher und dazu tief gelagerter Entwicklungsmöglichkeiten im Grund möglich sein, ohne daß der Erzieher davon selber etwas erfahren hat, das heißt, in seinem Wesenskern entschieden reifer ist, als der zu erziehende. Jugend kann sich unter sich in Tugenden und Untugenden üben, Jugend muß unter Jugend leben, sonst verkümmert an ihr die Jugend. Aber kann Jugend Jugend im Grund erziehen? Niemals! Erziehung ist und bleibt ein Generationsproblem. / Und die Erziehung ist, unbeschadet aller Sozialpädagogik ein Individualitätsproblem ... Freilich knüpft sich hier ein letztes Problem an: ...Wie, wenn das Individuum über der Pflege seiner Individualität und damit seiner Geistesrichtung es nicht zugleich lernt, die andere Individualität zu achten und womöglich zu verstehen. Hier setzt das Toleranzproblem ein. Es ist ein religiöses, politisches und, wie sich gezeigt hat, auch ein erzieherisches Problem."

Zum Individualitätsbewußtsein Goethes war in der Rhein-Neckar-Zeitung vom 19. März ein längerer Aufsatz des Heidelberger Germanisten Paul Böckmann erschienen, "Die Rekapitulation unseres Lebens". Der Redner ließ sich inspirieren. Der Frankfurter Rundfunk hatte in einer Sendereihe "Begegnung mit Goethe, einen wenig bekannten Text, "Brief des Pastors in ... an den jungen Pastor in ..." im Auszug verlesen. Diese Quelle bot die willkommene Gelegenheit, zum Schluß die Toleranzforderung zu betonen. Goethes alter Pastor hatte sich ganz unchristlich gefreut, als sein Kollege im Nachbarsprengel gestorben war, denn dessen Leute hatten seine Leute angesteckt

"daß sie zuletzt haben wollten, ich solle mehr Menschen verdammen, als ich nicht täte; es wäre keine Freude, meinten sie, ein Christ zu sein, wenn nicht alle Heiden ewig gebraten würden.... Ihr habt da in Eurer vorigen Pfarre, wie ich höre, viel von den Leuten um Euch gehabt, die sich Philosophen nennen, und eine mehr lächerliche Person in der Welt spielen. Es ist nichts jämmerlicher, als Leute unaufhörlich von Vernunft reden zu hören, mittlerweile sie allein nach ihren Vorurteilen handeln. Es liegt ihnen nichts so sehr am Herzen, als die Toleranz, aber ihr Spott über alles, was nicht ihre Meinung ist, beweist, wie wenig Friede von ihnen zu hoffen ist. Man hält einen Aal am Schwanze fester, als einen Spötter mit Gründen. "Bleibt denn Philosoph, weil ihrs einmal seid, und Gott habe Mitleiden mit Euch!" So pflege ich zu sagen, wenn ich es mit einem zu tun habe. Und diese Seligkeit meiner friedfertigen Empfindung vertausche ich nicht mit dem höchsten Ansehen der Unfehlbarkeit."

Schon im April hatte Schlüpmann das Manuskript seines Vortrags an Erich Meyer , den Vorsitzenden des Bundes für Freies Christentum geschickt und gleichzeitig auf seinen Konflikt mit der evangelischen Kirche hingewiesen (s.o., ,Religion im Rechtsstaat`). Meyer bat um die Akten des Streites um den Religionsunterricht und schrieb unter dem 8. Juli, daß ihn die Lektüre sehr interessiert habe und er an mehreren Stellen darauf aufmerksam gemacht habe. Auch den Goethe-Vortrag habe er sehr gern gelesen, nur würden sie in Frankfurt mit Goethevorträgen geradezu überschwemmt und könnten leider nicht wagen, einen besonderen aus ihrem Kreis anzubieten.

* * *

Als Paul Schlüpmann zu Ostern 1947 seinen Dienst in der Schule wieder auofnahm, war Gustav Hassel, der ehemalige Kreisvorsitzende der Deutsch Nationalen Volkspartei (DNVP), Mitglied im Kuratorium der Schule. Dr. Hassel, Zahnarzt in Wissen, war Schüler Fritz Stengers gewesen (Abitur 1915) und Vorsitzender im ersten Verein ehemaliger Schüler, der sich zur Unterstützung des Direktors im Disziplinarverfahren 1926 gegründet hatte. Hassel hatte dann als Kreisvorsitzender der DNVP im Frühjahr 1933 die ,Rehabilitierung` Fritz Stengers in die Wege geleitet und dabei Alfred Dinkelacker noch einmal mit Unterstellungen angegriffen und beschuldigt, die sich 1926 als unhaltbar erwiesen hatten. Unter den neuen Machtverhältnissen waren die falschen Unterstellungen geeignete Mittel zum Zweck. Ein Schreiben Hassels vom 10. März 1933 an den Reichstagsabgeordneten Professor Dr. Spahn gelangte in Abschrift an die Schulbehörde in Koblenz und wurde von dort unter dem 25 Mai 1933 an den Betzdorfer Direktor geschickt, mit dem Ersuchen, Dinkelacker zur Stellungnahme aufzufordern. Es hieß in dem Schreiben, Dinkelacker habe Stenger denunziert und damit ein Disziplinarverfahren anhängig gemacht. Man habe Stenger der regierungsfeindlichen Gesinnung bezichtigt, und ihm zum Vorwurf gemacht, beim Kapp-Putsch die schwarzweißrote Fahne gehißt zu haben usw. Das Verfahren sei eingestellt worden, weil eine Handhabe zur Amtsenthebung nicht gegeben gewesen sei. Die Einstellung sei aber bis zur Pensionierung Stengers 1927 hinausgezögert worden und das Hausverbot für Stenger nie aufgehoben worden. Dinkelackers Verhalten sei um so kläglicher, als er seine Anstellung Stenger verdankt habe. Auch habe seine Anhänglichkeit an die "Herrlichkeiten des Novembersystems" ihn in Gegenwart von Schülern, die einen Aufruf der neuen Regierung lasen, erklären lassen, dieser Aufruf enthalte Unwahrheiten. Das sei doch wirklich eine schlimmere regierungsfeindliche Handlung als das Hissen einer Flagge unter der 2 Millionen, unter ihnen Stengers einziger Sohn, ihr Leben hingegeben hätten.

Gustav Hassel war jetzt Mitglied der SPD. Unter dem 22. Juli 1947 richtete Otto Blosen an den Ortsverein Betzdorf seiner Partei eine Anzeige mit dem (Mindest-)Ziel, dem Kuratoriumsmitglied Hassel das Vertrauen seiner Partei zu entziehen. Die entsprechenden Belege von 1933 waren beigefügt. Der Kreisvorstand der Partei zögerte. Am 25. August 1947 schrieb Paul Schlüpmann an den Kreisvorsitzenden der SPD, Amtsbürgermeister Rüttel/Hamm:

"Am 19.7.1947 erfuhr ich, daß Herr Dr. Hassel (Wissen) Mitglied des Kuratoriums des Kreisgymnasiums zu Betzdorf sei, und am folgenden Tage, daß er als Vertreter der SPD zum Kuratorium gehöre. Darauf setzte ich sofort meinen Freund, Herrn Studienrat Blosen (Betzdorf), der Ihrer Partei angehört, von dem Schreiben vom 10.3.1933 in Kenntnis, mit dem Herr Dr. Hassel in seiner Eigenschaft als Kreisvorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei meinen Schwiegervater, Herrn Studienrat i.R. Dr. Dinkelacker vom Gymnasium-Betzdorf unter falschen Angaben und Ehrenkränkungen politisch verfolgte, weil Herr Dr. Dinkelacker als Demokrat und Ehrenmann mit seinem früheren Direktor am Gymnasium zu Betzdorf in Konflikt geraten war. Inzwischen dürfte dieses Schreiben auch Ihnen zur Kenntnis gelangt sein. Herr Dr. Dinkelacker wurde seiner Zeit bis zum Zusammenbruch aus dem Schuldienst entlassen, heute ist er infolge seines schlechten Gesundheitszustandes, der nicht zuletzt auch eine Folge seines langen, viele Jahre währenden, aufreibenden politischen Kampfes ist, nicht mehr in der Lage, seinen Widersachern entgegenzutreten. Als Mitglied des Kuratoriums derjenigen Anstalt, an der ich als Lehrer tätig bin, ist Herr Dr. Hassel auf Grund seines Briefes für mich nicht mehr tragbar. Trotzdem unterließ ich bisher in der Annahme, daß Sie früher von diesem Schreiben keine Kenntnis hatten und im Vertrauen, daß Sie nunmehr von sich aus innerhalb Ihrer Partei die Angelegenheit bereinigen würden, weitere Schritte lediglich um die SPD nicht zu kompromittieren. Um so mehr bin ich heute erstaunt, daß Herr Dr. Hassel wohl immer noch als Kuratoriumsmitglied der SPD fungiert..."

Unter dem 4. September schrieb der SPD-Vorstand zurück:

"wird Ihnen mitgeteilt, daß Herr Dr. Hassel seine gelegentlich einer Besprechung am 3.9.47 abgegebene Erklärung, aus dem Kuratorium des Kreisgymnasiums freiwillig auszuscheiden, heute Vormittag fernmündlich als undiskutabel zurückgezogen hat und hat Ihnen ein weiteres Vorgehen gegen ihn anheimgestellt ... Wir bedauern, daß diese Angelegenheit nicht auf friedlichem Wege aus der Welt geschafft werden konnte, vermögen dies aber nicht zu ändern."

Otto Blosen wurde offenbar ähnliches mitgeteilt, nämlich die Sache sei im Zweifelsfall eine private Angelegenheit der Herren Dinkelacker und Hassel. Auch sei abzuwarten, welche Schritte Schlüpmann jetzt ergreifen würde. Otto Blosen schrieb daraufhin unter dem 10 September zurück:

" 1) ist die Partei nicht daran interessiert, ob ein Parteimitglied sich für die Rehabilitierung eines Beamten in Schlüsselstellung eingesetzt hat, der sich aus reaktionärer Gesinnung im republikanischen Staat fortgesetzte Amtsverfehlungen zuschulden kommen ließ, und dessen Verhalten auch die SPD seiner Zeit an maßgebender Stelle beanstandet hat? / 2) ist die Partei nicht daran interessiert, wenn ein Mitglied einen demokratisch eingestellten Beamten von untadeliger Gesinnung politisch verfolgte? / Dieser Tatbestand ist dadurch gegeben, daß Herr Dr. Hassel in Zusammenhang mit dem Rehabilitierungsversuch des Herrn Direktors Stenger ohne Notwendigkeit Herrn Dr. Dinkelacker, der sich keine Amtsverfehlung zuschulden kommen ließ, unter falschen Angaben und Ehrenkränkungen im Sinne des Nationalsozialismus politisch belastete. Die falsche Angabe besteht darin, daß das Disziplinarverfahren nicht deswegen nicht beendet wurde, weil man keine Handhabe finden konnte, sondern weil man nicht zuletzt unter dem Einfluß des Dr. Dinkelacker, dem es nur um die Abstellung weiterer Amtsverfehlungen ging, den Direktor aus allgemein menschlichem Wohlwollen auch gegenüber dem Gegner nicht mehr schädigen wollte als zur Wahrung der auf dem Spiele stehenden politischen Belange notwendig war... / Der Tatbestand der Ehrenkränkung ist dadurch gegeben, daß Dr. Hassel das Verhalten des Dr. Dinkelacker als Denunziation bezeichnet und daß er die demokratische Gesinnung des Dr. Dinkelacker als Anhänglichkeit an die "Herrlichkeiten des Novembersystems" (die Anführungszeichen im Original!) bezeichnet, drittens durch die Wendung, "die Rolle, welche Herr Studienrat Dr. Dinkelacker in der Angelegenheit gespielt hat, wird erst dann in ihrer vollen Kläglichkeit offenbar". Es ist unwahr, daß Herr Dr. Dinkelacker seine Anstellung Herrn Direktor Stenger verdanke, vielmehr hatte dieser selbst ein lebhaftes Interesse daran, Herrn Studienrat Dr. Dinkelacker an seine Schule zu ziehen, selbst auf die Gefahr hin, daß er, wie in Aussicht genommen, ein halbes Jahr später an eine andere Anstalt ginge.Es ist weiter zu fragen, ob ein Verschieben des Ausschlußverfahrens bis nach der Durchführung der Maßnahmen des Studienrats Schlüpmann, der sich gegenüber der SPD äußerst wohlwollend verhalten hat, dem Ansehen der Partei dienlich ist. Man könnte das auch als Verschleppungsmanöver betrachten. Gewiß kann die Partei Herrn Dr. Hassel nicht zum Ausscheiden aus der Kreisversammlung zwingen, doch bin ich überzeugt, daß die Kreisversammlung nicht in der Lage sein würde, Herrn Dr. Hassel zu halten, wenn die Partei ihm ihr Vertrauen entzöge. Eine Unentschiedenheit der Partei wirkt sich somit tatsächlich unter Umständen dahin aus, daß die Kreisversammlung veranlaßt wird, Herrn Dr. Hassel zu halten.

Unter dem 4. Oktober hatte Schlüpmann an den Kreisausschuß geschrieben, Hassels Schreiben von 1933 und die Forderung nach dessen Rücktritt wiederum erläutert und dann geschlossen:

"Meine Tätigkeit am Kreisgymnasium datiert von Ostern 1930. Sie wurde nur durch meine Einberufung zur Wehrmacht und anschließende Gefangenschaft unterbrochen. Dieser Tätigkeit nach bin ich also eines der ältesten Kollegiumsmitglieder. Infolge seines Gesundheitszustandes kann sich mein Schwiegervater um die Angelegenheit nicht mehr bekümmern. Um so mehr müßte ich ein längeres Verbleiben des Herrn Dr. Hassel in seinem Ehrenamte ganz stark als persönliche Kränkung empfinden. Ich darf daher wohl um Ihre Stellungnahme bitten."

Die erbetene Stellungnahme kam schließlich unter dem 22. Januar 1948 von Landrat Sinzig:

"Auf Ihre Eingabe vom 4.10.1947 habe ich über den von Ihnen vorgebrachten Sachverhalt eine eingehende Stellungnahme des Fraktionsvorsitzenden des Kreisverbandes Altenkirchen der SPD herbeigeführt, weil Dr. Hassel s.Zt. von diesem als Mitglied des Kuratoriums des Kreisgymnasiums vorgeschlagen wurde und aufgrund dieses Vorschlages seine Wahl erfolgte. Die vorliegende Stellungnahme bietet keine Handhabe, Maßnahmen gegen Dr. Hassel zu treffen."

Gewiß, hier ging es nicht um ,Mittäterschaft` oder gar ,Hauptschuld`, wie in den Spruchkammerverfahren. Es ging ,nur` darum, jemanden, der als öffentliche Person dem Rechtsstaat in der Krise Schaden zugefügt und dem Durchgriff der Diktatur in der Schule Vorschub geleistet hatte, zu einem öffentlichen Eingeständnis zu bewegen, und dem Rechtsbewußtsein im jungen Staat und in der Schule nicht wiederum Schaden zuzufügen. Paul Schlüpmann und Alfred Dinkelacker mußten mit der persönlichen Kränkung leben. Das Kollegium erklärte gegenüber dem Kuratorium sein Befremden. Otto Blosen trat aus der SPD aus.

1949 erreichte Heinrich Lake die Altersgrenze und es bewarben sich die Kollegen Otto Blosen und Peter Krumholz um die Nachfolge als Direktor der Kreisschule. Otto Blosen hatte 1929, Peter Krumholz 1936 den Dienst in Betzdorf aufgenommen. Anfang Juli suchte Heinrich van Wasen, der 1938 als Assessor an die Schule gekommen war, den Kollegen Blosen auf, um ihm mitzuteilen, daß er auf Anregung von Landrat Sinzig sich ebenfalls beworben habe. Paul Schlüpmann fühlte sich daraufhin veranlaßt, vor dem Kollegium "als nach den Kollegen Muhl und Blosen dienstältester Kollege" zu erklären, daß der Kollege van Wasen zwar in der berechtigten Sorge um das gute Einvernehmen Blosen aufgesucht habe, dies jedoch besser vor seiner Bewerbung getan hätte. Er hätte also zum zweiten Mal in einer öffentlichen Situation, in der seine eventuelle Beförderung anstand (das erste Mal vermutlich, als man ihn unter Übergehung des dienstälteren Kollegen zum Oberstudienrat befördert hatte) den notwendigen Takt vermissen lassen und von sich aus das gute Einvernehmen in Frage gestellt. Das Kuratorium wählte Heinrich van Wasen zum Direktor. Der Anregung des Landrats und Vorsitzenden des Kuratoriums wurde damit entsprochen. Wie stimmte Gustav Hassel?

Der alte Direktor wurde mit einer Feierstunde verabschiedet. Die Rheinzeitung berichtete wie Landrat Sinzig, der Laudator, 43 Jahre Schuldienst Revue passieren ließ, seit 1912 amtiere Heinrich Lake in Betzdorf:

"Wenn Direktor Lake nun in den Ruhestand trete, dürfe er die Versicherung entgegennehmen, daß er als zuverlässiger und pflichttreuer Beamter alter Prägung im Andenken des Kreises und der Schule fortleben werde. Er dankte ihm namens des Kreises für alle Mühen und Erfolge mit guten Wünschen für einen gottgesegneten Lebensabend."

Auf den Redner Sinzig folgten weitere: Lieutenant Linniac für die Militärregierung, Oberschulrat Schwister für die Schulbehörde, Johannes Velser für das Kollegium, "ein Oberprimaner, der die fürsorgliche Betreuung und die väterliche Liebe hervorhob, die der Scheidende jedem Schüler gegenüber bewiesen habe ... auch ein französischer Gastschüler schloß sich den Wünschen seiner deutschen Schulkameraden mit großer Herzlichkeit an"; Vertreter der Elternschaft, der Grundschulen und höheren Schulen sagten Abschiedsworte, Heinrich Lake dankte allen und wünschte der Schule alles Gute. Zuvor hatte auch noch der Vertreter des Kuratoriums das Wort genommen - Gustav Hassel. Man kann sich ausmalen, wie Otto Blosen und Paul Schlüpmann dessen Auftritt empfanden. Schlüpmann sprach ein paar Tage später mit Heinrich van Wasen, und erwähnte das Gespräch wenig später in einem Briefwechsel (s.u.) der beiden. Er habe es als Schuld empfunden, schrieb Schlüpmann, daß er nicht gegen Hassels Auftreten protestiert habe:

"Wenn ich mich damals so verhielt, so geschah das deshalb, weil ich sonst einen Mißklang in einer Feier verstärkt hätte, die der Verabschiedung eines besonders leidgeprüften Mannes, aus einem Amt galt, an dem er, wie ich glaube, jahrelang schwer genug getragen hat."

Der Mißklang wurde jedoch nicht mehr vermieden, als am 22. Dezember der neue Direktor in sein Amt eingeführt wurde, und wiederum Gustav Hassel als Redner auftrat. Schlüpmann verließ ostentativ die Aula, Otto Blosen tat unauffälliger das gleiche. Beide mußten davon ausgehen, daß Heinrich van Wasen vorher von Hassels Teilnahme gewußt hatte. Der schrieb noch am Heiligen Abend an Schlüpmann und Blosen, an alle anderen Kollegen, sowie an Alfred Dinkelacker, der eingeladen, aber nicht gekommen war, etwa gleichlautende Briefe. Er bedaure außerordentlich, was vorgefallen sei. Er entschuldige sich, daß er nicht alles versucht habe, das erneute Auftreten Hassels zu verhindern. Er habe dem Landrat gegenüber außerdem Hassels Ausführungen zu Fritz Stenger bedauert und ihn gebeten, zukünftig einen anderen Vertreter benennen zu wollen. An Schlüpmann schrieb er:

"Wenn man auch der Meinung sein kann, daß Sie in der Form des Protestes gefehlt haben, so gestehe ich Ihnen doch das in der Sache begründete Recht und andererseits eine begreifliche Erregung zu."

Van Wasen bot eine Aussprache an. Schlüpmann schrieb unter dem 28. Dezember 1949 zurück, daß er ihm, auch im Namen seines Schwiegervaters aufrichtig für alle seine Schritte danke, daß er den Wunsch nach guter Zusammenarbeit teile und gern auf das Angebot zur Aussprache einginge:

"Vielleicht habe ich mich eines Dienstvergehens schuldig gemacht, indem ich eine Veranstaltung verließ, an der teilzunehmen ich zunächst Ihnen gegenüber als meinem unmittelbaren Vorgesetzten dienstlich verpflichtet war. Darum machte ich Ihnen auch sofort nach der Veranstaltung Mitteilung. Meines Erachtens sollte, unbeschadet aller juristischen Erwägungen, die Dienstanweisung dort haltmachen, wo sie in Gefahr ist, die Menschenwürde des Beamten außer Acht zu lassen. Nachdem Herr Dr. Hassel das Wort ergriffen hatte, empfand ich meine weitere Teilnahme als mich persönlich entwürdigend."

Noch bevor der neue Direktor reagiert hatte, war ein Schreiben Schwisters abgegangen, daß die Schule am 2. Januar erreichte:

"Sie haben während der Feier zur Einführung des Direktors des dortigen Kreisgymnasiums ostentativ den Saal verlassen. Mir ist Ihr Verhalten unverständlich gewesen; ich erwarte umgehend eine Erklärung."

Am 6. Januar sprachen sich Dienstvorgesetzter und Untergebener aus. Schlüpmann sah ein, daß van Wasen davon ausgehen konnte, daß Hassel nicht kommen würde, weil er kurz zuvor bei einer Kuratoriumssitzung nicht gekommen war. Er erfuhr, daß der Direktor glaubte, Schlüpmann selbstverständlich von Veranstaltungen bei denen Hassel auftreten würde, befreit zu haben. Berichte der beiden Lehrer mit entsprechenden Anlagen zur Vorgeschichte der Affaire gingen am 7. Januar über den Direktor zur Schulbehörde nach Koblenz. Vom 10. Februar datierte die Antwort Schwisters an Heinrich van Wasen:

"Die Ausführungen, die Dr. Hassel im Namen des Kuratoriums der Anstalt bei der Einführungsfeier machte, mögen vielleicht die Zustimmung aller Anwesenden nicht gefunden haben. Die Verantwortung für seine Ausführungen muß jedoch in das Ermessen des Kuratoriums gestellt werden. Ohne Kenntnis der gesamten Zusammenhänge mußte jedoch bei den unbefangenen Teilnehmern an der Feier der Eindruck entstehen, als ob die Demonstration der beiden Herren gegen die Person des einzuführenden Direktors gerichtet sei. Das hätte unter allen Umständen vermieden werden sollen. Darum kann ich nicht verhehlen, daß ich diese Form des Widerspruchs mißbillige, da die Motive mißdeutet werden konnten. Sie wollen die beiden Herren ebenso wie Herrn Studienrat Muhl in diesem Sinne bescheiden."

Es schien, als wolle die Behörde einfach nicht verstehen, daß der Protest sich gegen die Haltung, die Hassel einnahm und gegen die Rolle, die ihm zugebilligt wurde, richtete, nicht oder nicht in erster Linie gegen seine Ausführungen. Die Schule entschloß sich nicht, den Schülern (der Schulöffentlichkeit) Grund und Sinn des ostentativen Protests eines Lehrers gegen einen der Redner zu erklären.

Ende 1949 gab es allenthalben Kritik an der ,Entnazifizierungspolitik` der Besatzungsmächte. Veranlaßt durch den Protest eines schweizer Pfarrers gegen das Eintreten eines kirchlichen Blattes für den einstigen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, schrieb der alte württembergische Landesbischof Wurm (vormals eine maßgebliche Persönlichkeit des Protestes gegen Verbrechen des Hitlerregimes), Weizsäcker habe aus Pflichtgefühl dem Vaterland gegenüber den Entschluß gefaßt, "die Fahrt in den Abgrund aufzuhalten". Wurm bekräftigte, was der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Karl Arnold gesagt hatte: Es sei nun alles aufgewogen. Was nicht heißen solle, "daß die Schande, die wir Deutsche durch das Hitlerregime auf uns geladen haben, nicht auf unserer Seele brennen sollte. Aber es sollte heißen: ,Laßt uns Schluß machen mit dem gegenwärtigen Aufrechnen der Untaten, denn die einen haben sich genau so schuldig gemacht wie die anderen`"[1]. Die Forderung ,Schluß zu machen` richtete sich nicht nur an Ausländer. Die ,innere Aussöhnung` aus Gründen des sozialen Friedens, die so manchen Funktionär der Diktatur in hohe Ämter der Bundesrepublik brachte, führte auf allen Ebenen nicht selten zu neuer Ungerechtigkeit und nochmaliger Kränkung der vormals Diskriminierten. Der relativ harmlose Fall in Betzdorf war symptomatisch für zeitweilig und grundsätzlich beängstigende politische Fehlentwicklungen trotz ,freiheitlich demokratischer Grundordnung`.


[1] Brief Wurms, Evangelischer Pressedienst Dezember 1949, zitiert nach Der Ruf, ev. Blatt der Synode Altenkirchen, Dez. 1949


 

 

 

Religionspädagogik

1996 faßte Folkert Rickers, Duisburger Hochschullehrer für Religionspädagogik und interreligiöses Lernen, die Nachkriegsgeschichte der Religionspädagogik im Überblick zusammen:

"Die Evangelische Unterweisung entstand Mitte der zwanziger Jahre, fand ihren ersten Höhepunkt in der Schrift G. Bohnes "Das Wort Gottes und der Unterricht", 1929, bildete dann das religionspädagogische Rückgrat der katechetischen Arbeit der Bekennenden Kirche, wurde aber auch von einer Reihe Religionspädagogen vertreten, die den Deutschen Christen angehörten oder mit ihnen bzw. mit dem Nationalsozialismus sympathisierten. Sie entwickelte sich dann nach 1945 zur alles beherrschenden Konzeption bis zum Ende der fünfziger Jahre, war aber über diesen Zeitraum hinaus noch lange in den sechziger Jahren wirksam. In den fünfziger Jahren gab es zu ihr im evangelischen Bereich keine Alternative./ Die evangelische Unterweisung war eine rein dogmatische Konzeption. Sie war darauf aus, die Selbstoffenbarung Gottes im Prozeß der Verkündigung didaktisch so geltend zu machen, daß Glaube gestiftet werden konnte. Die LehrerInnen wurden als berufene ZeugInnen des Evangeliums verstanden, die nicht lehren und unterrichten, sondern analog den PfarrerInnen auf der Kanzel verkündigen sollten. Unterrichtsmedien waren Bibel, Katechismus, Choräle und Glauben repräsentierende Gestalten der Kirchengeschichte(exempla fidei). Zur Hauptsache aber war die Evangelische Unterweisung biblischer Unterricht. Charakteristisch war ferner, daß der Unterricht sich selbst als kirchlicher und auf die christliche Gemeinde bezogener Unterricht verstand und von daher eine Sonderstellung in der Schule hatte, so daß gelegentlich gefordert wurde, ihn aus der Schule ganz herauszunehmen und in die Zuständigkeit der Kirchen zu verlagern./ Allerdings brauchten die Vertreter der Evangelischen Unterweisung das Fach Religion in der Schule auch nicht zu rechtfertigen. Es hatte trotz mancher Kritik im einzelnen in inhaltlicher wie formaler Hinsicht nach 1945 selbstverständliche Geltung.[1]

Der Autor kritisierte, daß die ReligionslehrerInnen in der Evangelischen Unterweisung nicht den Status des Unterrichtenden, sondern den der ZeugInnen der Autorität einnähmen; es ergebe sich ein autoritär strukturierter Zusammenhang, dessen Bezugspunkte die (absolute!) Autorität des Wortes Gottes einerseits und die Autorität der Kirche bzw. der Gemeinde andererseits seien. Die LehrerInnen selbst würden zur autoritären Institution und der dogmatisch "unpolitische" Unterricht hätte dazu geführt, daß die Schüler z.B. von der Stuttgarter Schulderklärung von 1945 oder vom Darmstädter Wort zu Nationalismus und Wiederbewafpfnung 1947 nichts erfuhren.

"Damit paßte die Evangelische Unterweisung genau in eine Gesellschaft, die sich zwar formal demokratisch entwickelte, aber in ihren realen Strukturen zunächst autoritär blieb. Besonders wirkte sich hier die Fortsetzung und Restituierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen des Kapitalismus aus... Von Demokratie als gesellschaftlichem Ordnungs- und Lebensprinzip war in den fünfziger Jahren noch wenig zu spüren... Die Evangelische Unterweisung war die religionspädagogische Konzeption einer bürgerlich-konservativen Gesellschaft. Auch unter den ganz anderen Bedingungen einer sog. sozialistischen Gesellschaft in Ostdeutschland spielte diese eine Rolle. Die "Christenlehre" entwickelte sowenig demokratisches und gesellschaftskritisches Potential wie ihr Äquivalent im Westen[2].

Die Evangelische Unterweisung herrschte, Rickers zufolge, praktisch uneingeschränkt, bis 1958/59 zwei Abhandlungen erschienen, die einen Kurswechsel einleiteten: Martin Stallmann, Christentum und Schule[3], und Hans Stock, Studien zur Auslegung der synoptischen Evangelien im Unterricht[4]. 1961 legte Gert Otto mit Schule, Religionsunterricht, Kirche[5], das ausgearbeitete Konzept des hermeneutischen Unterrichts vor. Der hatte mit seinem hohen wissenschaftlichen Anspruch nicht viel Zeit, sich in der Praxis zu bewähren, denn als er Mitte der sechziger Jahre nicht nur der gymnasialen Schulstufe besser bekannt wurde, zeichneten sich bereits die Konturen des ,Problemorientierten Religionsunterrichts` ab. Rickers urteilte: In der Wohlstandsgesellschaft nach Abschluß des ,Wirtschaftswunders` wurden Religion und Kirche weniger selbstverständlich; der Unterricht wurde "wissenschaftlicher", mehr wie andere Fächer, aber nicht stärker gesellschaftskritisch. Welt und Gesellschaft blieben aussen vor bis der Problemorientierte Unterricht (1965 von Hans-Bernhard Kaufmann ,angedacht`) sich durchsetzen konnte und das Terain ,Lebenswelt` öfpfnete.

* * *

Wenn in den Nachkriegsjahren tatsächlich kaum eine Alternative zur Evangelischen Unterweisung Bestand hatte, war das in Betzdorf jedenfalls nicht ganz so klar. Die Fachkonferenz der evangelischen Religionslehrer der Schule hatte sich am 22. März und am 7. April 1948 über Richtlinien für den Unterricht verständigt: sie beschloß erst einmal in Anknüpfung an die Richtlinien für Lehrpläne der höheren Schulen Preußens von 1925, "soweit dem nicht gültige Bestimmungen entgegenstehen":

"Der Inhalt des evangelischen Religionsunterrichts sind danach in Übereinstimmung mit der jetzigen Verfassung von Rheinland-Pfalz "die Wahrheiten des evangelischen Glaubens in ihrer biblischen Begründung, reformatorischen Auffassung und geschichtlichen Entwicklung ,,, Die Grunderfordernisse des evangelischen Religionsunterrichts sind bestimmt durch den besonderen Inhalt des Faches und durch die Eingliederung in die Schule, deren Methode und Aufgabe: / Der besondere Inhalt ist die Religion in dem umrissenen Rahmen, die Methode der Schule vorwiegend die Wissenschaft, die Aufgabe vorwiegend die Erziehung. Daher sind religiöser, wissenschaftlicher und erzieherischer Ernst die Grunderfordernisse dieses Faches: Die erste Forderung ist der besondere Gewissensgehorsam: "Man muß Gott mehr gehorchen denn den Menschen" (Act.5, 29), indem man den Inhalt vermittelt. / Mit der zweiten Forderung erhält der Gewissensgehorsam die besondere Form der intellektuellen Redlichkeit: Die Schule duldet bei der Vermittlung des Inhalts mit besonderer Dringlichkeit keine Verstöße gegen die intellektuelle Redlichkeit. / Mit der dritten Forderung ist der Erziehungswille des Religionslehrers in den Gewissensgehorsam einbezogen: Mit der Vermittlung des Inhalts müssen sich ausgesprochen erzieherische Absichten verbinden. Das ist die Absicht evangelisch-christlicher Erziehung. /Folgerungen:... Inhalt und Grunderfordernisse schließen ... eine ausschließlich distanzierende Haltung gegenüber der Welt aus und eine entschiedene Hinwendung zur wahren Menschlichkeit jenseits von Kulturoptimismus und -pessimismus ein. Sofern die Richtlinien von 1925 von einem unter dem Eindruck der Gegenwartslage nicht mehr haltbaren Kulturoptimismus nicht ganz frei sind, muß von ihnen abgewichen werden. / Das Arbeitsverfahren unterscheidet sich nach Maßgabe der Richtlinien von 1925 grundsätzlich nicht von dem der übrigen Fächer. Doch ist die besondere seelische Konstitution der heutigen Jugend besonders zu beachten. Der gegenwärtige kirchliche Aktivismus von Jugendlichen darf über die Tatsache, daß die Jugend seit Jahren seelischer Zerrüttung ausgesetzt ist, um so weniger hinwegtäuschen, als der kirchliche Aktivismus z. Zt. Für viele Jugendliche die nächstliegende Gelegenheit ist, ihren natürlichen Hang zum Aktivismus überhaupt zu befriedigen. Der Religionsunterricht wird auf viele Jahre in weit höherem Maße "Vorhofs"-arbeit zu leisten haben, als zur Zeit der Entstehung der Richtlinien."

Zwar war die Stellung der Religionsgemeinschaften in Staat und Gesellschaft in der Landesverfassung und bald auch in der des Bundes grundsätzlich geregelt, diese Regelung warf jedoch Probleme auf, die bisweilen (wie in Betzdorf in Sachen Lehrfreiheit s.o. ,Religion im Rechtsstaat`) groteske Formen annehmen konnten und ihrer Lösung harrten.

Vom 25. Juni 1947 datierte die Kontrollratsdirektive 54, die den Schulen auferlegte, "den Sinn für staatsbürgerliche Verantwortlichkeit zu entwickeln und das Schwergewicht auf die demokratische Weltanschauung zu legen". Schon seit dem 18. Mai 1947 hatte das Land Rheinland-Pfalz eine Verfassung, die in Artikel 34 festlegte, daß der Religionsunterricht "im Auftrag der Kirchen" zu erteilen sei, und seit dem 23. Mai 1949 bestimmte Artikel 7 des Grundgesetzes der Bundesrepublik, daß ,Religion` "unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes ... in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften" zu unterrichten sei.

Anfang 1950 führte die nordrhein-westfälische Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Gespräche mit Vertretern der protestantischen rheinischen Kirche parallel zu den Düsseldorfer Parlamentsdebatten zum Entwurf der Landesverfassung, die am 18 Juli per Volksentscheid in Kraft treten sollte. Die Zuständigkeit der Kirche in der Ausbildung und Lehre von Religonslehrern und in der Aufsicht über den Religionsunterricht waren Gegenstand eines noch unveröffentlichten kirchlichen Memorandums, das den GEW-Vertretern vorlag. Einer von denen, Karl Hansmeyer[5a], schickte es unter dem 5. Februar seinem Schwager Paul Schlüpmann mit der Bitte um Hilfe bei der Beurteilung: Schlüpmann schrieb unter anderem:

"Es bedeutet völlige Verkennung der Aufgabe der Schule und Degradation des Lehrerstandes, wenn man annimmt, daß es sich bei der evangelischen Unterweisung in staatlichen Schulen um die Kombination eines geistlich-kirchlichen und eines staatlich-schultechnischen Auftrages handelt. Auch die christliche Staatsschule und gerade diese hat ein einheitliches Erziehungsziel, dem alle Fächer dienen. Irgendein Fachunterricht in der Schule, dessen innere Verbindung mit dem übrigen Unterricht auch nur gelockert ist, ist schließlich nicht nur wertlos, sondern schädlich, und zwar sowohl für das zu erziehende Kind wie für das betreffende Fach selber. Der Religionslehrer befindet sich hier keineswegs mit jedem Christen in derselben Lage. Die Aufforderung, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist, kann hier nicht anders verstanden werden, als der sichtbaren Kirche (Gott!) das "Ihrige" zu geben und dem Staat in den "weltlichen" Fächern das Seinige. Also Aufspaltung zwischen dem weltlichen und religiösen Lebensbezirk! Solche Aufspaltung ist sowohl unevangelisch und unreformatorisch wie auch vom erzieherischen Standpunkt zu verwerfen."

Schlüpmanns Kritik ist vom Mißtrauen gegen Vertreter einer ,sichtbaren` Kirche geprägt, die diese mit der evangelisch-reformatorischen ,unsichtbaren` zu verwechseln schienen. In einer kirchlichen "Denkschrift zur Frage ,Gemeinschaftsschule auf christlicher Grundlage`" hieß es:

"Die Evangelische Kirche in Deutschland ist bestrebt, ihr Staatskirchentum bewußt und verantwortungsbewußt aufzugeben. Geblieben ist noch die volkskirchliche Überlieferung ... Wichtig ist, wie die Kirche die außerkirchliche Bejahung der christlichen Grundlagen der Kultur von ihrer reformatorischen Verantwortung aus beurteilt. Christentum ist immer nur ein Gemisch sehr verschiedenartiger Ableitungen aus Antike, Mittelalter und Neuzeit, mehr oder weniger fern dem biblischen Evangelium. Katholizismus, Kulturprotestantismus, religiöser Sozialismus, Humanismus und vieles andere gehört unter dem Oberbegriff Christentum in das weite Feld der abendländischen Kultur. / Die Evangelische Kirche hat seit Barmen 1934 mehr und mehr erkannt, daß sie zwar auch mit diesem allem, also mit dem allgemeinen Christentum zu tun hat, daß sie aber vor allem noch etwas anderes ist, als nur ein wichtiges Stück davon. Sie steht in diesem Kulturkreis. Aber sie ist gegenüber allen Abteilungen unmittelbar verantwortlich für den übersäkularen Ursprung. Die Kirche muß, obwohl auch sie an der Säkularisierung teilhat, der Auflösung ihrer Substanz überall da, wo das ewige Evangelium zu bezeugen ist, entgegenwirken."[6]

Mit gewissem Recht konnte man in der Distanzierung der Institution Kirche von Geschichte und Kultur und in der Berufung auf die Verantwortung für den "übersäkularen Ursprung" einen fragwürdigen (Macht-)Anspruch erkennen. Zumal die Beobachtung der "volkskirchlichen Überlieferung" sich vermutlich auf eine Konservatismus und christlichen Glauben gleichsetzende Haltung (,Wertegemeinschaft`) bezog und nicht auf jene ehemals demokratische Opposition im Obrigkeitsstaat, an die vielleicht zu erinnern gewesen wäre.

Unter dem 11. September 1950 genehmigte der Minister für Justiz und Kultus in Rheinland-Pfalz einen ersten Nachkriegslehrplan für den evangelischen Religionsunterricht in den höheren Schulen. Ein Lehrplan, der das kirchliche Konzept der ,Evangelischen Unterweisung` für die Schule konkretisierte. Paul Schlüpmann sah sich veranlaßt, kritisch Stellung zu nehmen. Während der Lehrplan wörtlich "die heilige Schrift Alten und Neuen Testamentes als das einzige Zeugnis der göttlichen Offenbarung" bezeichne, sage und schreibe ein so bekannter Theologe wie Paul Althaus[7]:

"Das Reden von ursprünglicher Offenbarung bedeutet: der eine wahre Gott tut sich aller Menschheit ständig kund, und das geschieht unabhängig von dem, wie der Mensch sich dazu verhält. Wenn auch Gott den Menschen am klarsten durch die ,Schrift` anredet, so stößt ihn doch die Bibel damit nur auf einen Wirklichkeit, die immer schon da ist, auch ehe er an Christus glaubt, und das Evangelium setzt das aus ursprünglicher Selbstbezeugung empfangene nicht ins Unrecht. Diese Bezeugung ist auch in der Welt der Religionen zu finden; sie sind nicht einfach als Gemächte menschlicher Fantasie oder als Bildungen des Lebensverlangens abzutun, so rückhaltlos auch zuzugeben ist, daß einem in den Religionen viel Trug und Flucht vor dem wahren Gott begegnet ... der Offenbarungsbegriff ist auch nicht einzig und allein dem biblischen Wort einzuräumen. Selbst Paulus billigt Röm.1; 19 jenen Zeugnissen Gottes (gemeint sind außerbiblische Zeugnisse. P.S.) die Würde der Offenbarung zu."

Und "der bekannte Religionswissenschaftler" Gustav Mensching erkläre:

"...diese auffallende Struktureinheit der sehr verschiedenartigen Universalreligionen deutet auf eine neue Stufe des Offenbarungswirkens Gottes, das nicht damit entwertet werden kann, daß man die hier angebotenen Heilsgüter als erdichtet abtut. Wenn gesagt wird, daß dort Selbsterlösung versucht werde, so sei daran erinnert, daß auch im Christentum immer wieder ,synergistische` das heißt das menschliche Mitwirken bei der Erlösung betonende, Strebungen auftauchen, und das umgekehrt etwa im Hinduismus das ,Allein aus Gnaden` (Vishnus) eine große Rolle spielt. Das Mißtrauen gegen die Selbstbekundungen fremder Religionen ist nicht berechtigt; laufen sie doch durchaus dem christlichen Selbstbewußtsein gleich."

Die "Debatte über die Besonderheit des biblischen Zeugnisses" sei also keineswegs abgeschlossen, argumentierte der Religionslehrer, und der Lehrplan vertrete seine Sache dogmatisch, wofür sicherlich seine Verfasser auch ihre Gewährsmänner einer bestimmten theologischen Richtung hätten. Deshalb und weil ihm auch andere Vorgaben des Lehrplans bedenklich erschienen, bitte er das Ministerium

"mich entweder dahingehend belehren zu wollen, daß nichts als eine "Lehrverpflichtung" in dem genannten Sinne gleichkommend anzusehen ist, was als "Lehrverpflichtung" eine gewissensmäßige Einschränkung des Maßes meiner bisherigen Lehrfreiheit bedeutet, oder zur Kenntnis nehmen zu wollen, daß ich eine solche Einschränkung nicht als rechtmäßig anerkennen kann. Das Amt des Religionslehrers wurde mir bei meinem Eintritt in den Schuldienst, Herbst 1925 beziehungsweise mit meiner festen Anstellung Ostern 1930 bis zur Erreichung der Altersgrenze rechtmäßig übertragen. Die Aufhebung meiner - meines Erachtens unrechtmäßigen - Suspendierung durch Verfügung vom 30. August 1948 mit nachträglicher Zustimmung der Rheinischen Kirchenleitung bestätigt mich in meinem Amt. Auf das Recht berufe ich mich: 1) um seines Eigenwertes willen, 2) weil ich weder dafür, daß ich unter Preisgabe der mir bisher zugestandenen evangelischen Freiheit Religionsunterricht erteile, noch dafür, daß ich freiwillig auf den Religionsunterricht verzichte, die Verantwortung übernehmen kann, 3) weil ich ein unevangelisches Übermaß an Lehrverpflichtung als das Ende des evangelischen Religionsunterrichtes in den höheren Schulen ansehen muß."

Schlüpmann schickte seine Kritik an das rheinland-pfälzischen Ministerium, an Karl Hansmeyer und an den Leiter der Geschäftsstelle des Bundes für Freies Christentum (BFC), Erich Meyer, in Frankfurt. Hansmeyer unterrichtete ihn daraufhin über ein Treffen von Vertretern der GEW mit Kirchenvertretern in Sachen Religionsunterricht im September 1950 in Rengsdorf. Das Ergebnis dieses Treffens setzte sich über theologische und pädagogische ,Abgründe` in schlichten Sätzen (,Rengsdorfer Sätze`) hinweg. In Sachen Lehrplan hieß es nur:

"Auch die Mitwirkung der Kirche bei der Gestaltung der sachlichen Grundlagen des evgl. Rel.U. (Schaffung und Zulassung von Lehrplänen, von Lehr- und Lernbüchern) soll von der Mitverantwortung der evgl. Lehrerschaft getragen sein."[8]

Erich Meyer lud Schlüpmann zu einem Beitrag im monatlichen Blatt ,Freies Christentum` ein und zu einem Vortrag in Frankfurt. Die Stellungnahme hatte er dem hessischen Oberkirchenrat Wissmann zugeleitet. Zu dessen Anmerkung, der Kritiker irre, wenn er meine, Religionslehrer seien bei der Abfassung des Lehrplans nicht zu Rat gezogen worden, schrieb ihm Schlüpmann:

"Selbstverständlich habe ich mir vorgestellt, daß an dem Lehrplan auch Religionslehrer(innen) mitgearbeitet haben. Aber als Vertreter der Religionslehrerschaft - nur davon habe ich gesprochen - können nach richtigem Sprachgebrauch nur solche Religionslehrer(innen) fungieren und bezeichnet werden, denen zuvor auf Befragung von den Religionslehrer(inne)n zumindest das Vertrauen ausgesprochen ist. Von einer solchen Befragung hier im Rheinland ist mir nichts bekannt."

Ende Januar 1951 versammelte das Kultusministerium die Religionslehrer beider Konfessionen zu einer Tagung in Bad Ems. Schlüpmann schrieb an Meyer, daß er mit seiner Kritik am Lehrplan von allen Teilnehmern "deutlich und von überraschend vielen gut verstanden" wurde. In der Märznummer des ,Freien Christentums` erschien zweispaltig sein Aufsatz "Kritisches zu einem neuen Religionslehrplan": Es sei verdienstlich, daß jetzt seit praktisch 17 Jahren (seit 1933/34 der alte unverbindlich geworden war) zum erstenmal wieder ein Lehrplan da sei und auch daß er über Länder und Zonengrenzen hinweggehe (Saarland, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen). Das schulpolitische Grundproblem sei, daß Staat und Kirche getrennt seien, der Religionsunterricht aber sowohl staatlich wie kirchlich. Der Lehrplan ignoriere in seinem Wortlaut die Staatlichkeit des Unterrichts und hebe ohne nähere Angaben hervor, er sei "ein Teil kirchlicher Verkündigung". Die pädagogisch-didaktische Problematik werde mit einer "Evangelischen Unterweisung" beiseite geräumt, die sich streng von anderen Schulfächern unterscheide. Zwar stehe und falle alle Erziehung mit dem rechten "Bezeugen" (von Lehrern und Schülern), unverzichtbar in der "Ganzheitserziehung", aber wie sei denn die Christusbotschaft an den "ganzen Menschen" auf allen Lebensgebieten ohne Brückenschlag zu den anderen Fächern zu verstehen? Mit der einfachen Anweisung des Plans, alle Unterrichtstoffe und -formen hätten der Aufgabe des Religionsunterrichts zu dienen, sei es nicht getan. Im übrigen bestimme der theologische Aspekt den Gesamtcharakter des Lehrplans. Da liege die Problematik eben darin, daß es auf reformatorischem Boden keine unfehlbare Lehrmeinung gäbe, und der Lehrplan einseitig durch eine solche geprägt sei. So sei das Thema etwa in Untersekunda der "Verfall des kirchlichen Lebens im Vernunftzeitalter":

"Die Behandlung des "Vernunftzeitalters" ausschließlich unter dem Gesichtspunkt "Verfall des kirchlichen Lebens" schließt in Untersekunda Männer wie etwa M. Claudius, Oberlin, Chr.F. Gellert aus. Hat das reformatorische Christentum der Aufklärung wirklich n u r "Verfall des kirchlichen Lebens" zu verdanken?"

Wie schon in seiner Stellungnahme für das Ministerium war dem Autor auch in seinem Aufsatz die theologische Feststellung von der Schrift als einzigem Zeugnis der Offenbarung fragwürdig und ebenso unreformatorisch schien ihm die "Zusammenfassung des evangelischen Glaubens im Apostolikum":

"Gewiß haben unsere Reformatoren die altchristlichen Bekenntnisse, in Sonderheit das Apostolikum, nicht preisgegeben; aber welche durch den Lehrplan ausgeschlossene Souveränität gegenüber dem Dogma besitzt zum Beispiel Luther, wenn er sagt: Christus ist nicht darum Christus genannt, daß er zwei Naturen hat. Was geht mich dasselbige an? Sondern er trägt diesen herrlichen Namen von dem Amt und Werk, so er auf sich genommen hat..."

Schlüpmann schickte die Publikation unter anderem an Hermann Weber in Koblenz, den er in Bad Ems getroffen hatte. Der setzte sich unter dem 5. April 1951 in einer dreiseitigen, maschinegeschriebenen Antwort mit der Kritik auseinander. Hinsichtlich der stofflichen Vorgaben des Lehrplans und der (fehlenden) religionspädagogischen Aussagen war man sich einig. Aber Weber lobte die betont christozentrische Ausrichtung des Lehrplans und teilte weder Schlüpmanns Ablehnung des "einzigen Zeugnisses" noch seine Bedenken gegen das Apostolikum. Zum "einzigen Zeugnis" schrieb er:

"nicht als ob hierdurch die Uroffenbarung als religiöse Erkenntnisquelle geleugnet würde. Sie haben recht, sie wird ja in Römer 1,19 von Paulus selbst festgestellt, wobei allerdings von ihm höchst persönlich die Unzulänglichkeit, die Grenzen und die Gefahren der natürlichen Gotteserkenntnis aufgewiesen werden. Religion als Götzendienst, als Folge einer nicht auf Christus bezogenen Gotteserkenntnis, haben wir ja kennengelernt in jüngster Vergangenheit; andererseits haben wir die Gefahr des Abrückens von der Heiligen Schrift als dem alleinigen Zeugnis im vergangenen Jahr in concreto am Beispiel der assumptio Mariä erfahren. Die Gemeinde Jesu Christi, in deren Medium die Wahrheiten allein verantwortet, getragen und verkündet werden können, befindet sich auf dem Weg zwischen Skylla und Charybdis. Von der einen Seite droht Gefahr der Mythisierung, der Überwucherung, von der anderen die Gefahr der Entmythisierung, der Idealisierung, Romantisierung und Individualisierung, beide Mächte verdunkeln den christlichen Wahrheitsgehalt. Darum, der Weg ist schmal, der zum ewigen Leben führt. Das aber widerstreitet keineswegs der Fülle in Jesus Christus. Daraus ergibt sich keine "unmögliche Exklusivität"...

Zum Apostolikum und der Intention des Lehrplans meinte Weber:

"Ich kann mir keine weitgespanntere Formulierung der christlichen Wahrheit denken als das Apostolicum. Es handelt erstens von der Schöpfung und der durch sie in Welt und Mensch gelegten immanenten Ordnung, zweitens von der Kontingenz der Offenbarung in dem geschichtlichen Ereignis Jesu Christi, drittens vom Innerlichwerden des Wortes Gottes durch den Heiligen Geist, und viertens von der Geschichtlichkeit der Glaubensgemeinschaft der Kirche: Ein Glaubensbekenntnis, das wirklich aufhört, christliches Glaubensbekenntnis zu sein, wenn es nicht das pleroma ton egon in Jesus Christus, der tragenden Mitte ausdrückte. Wichtig ist allerdings hierbei zur Wahrung und Bewahrung dieser Fülle, daß keine Vereinzelung, keine falsche Verselbständigung der vier Punkte stattfindet, wie es in der hinter uns liegenden Geschichte des Protestantismus seit der Reformation sich in Orthodoxie, Rationalismus, Pietismus verwirklicht hat, sondern daß die innere Zusammengehörigkeit dieser vier Punkte gewahrt bleibt, um deren Realisierung es meines Erachtens gerade in der Gegenwartstheologie geht... Ich glaube sie mißverstehen die Vertreter der Lehrpläne, wenn Sie annehmen, daß jene einem formalen Konfessionalismus das Wort reden. Was wiedergefunden werden soll, ist die Wahrung der paradoxalen und spannungsvollen Einheit von Gott und Mensch, von Schrift und Geist, von Glaubenstat und Glaubensgeschenk, welches die Konstitutiven des reformatorischen Offenbarungsbegriffes sind."

Schlüpmann schrieb unter dem 5. Mai zurück:

"Sie sagen, für den Lehrplan sei charakteristisch die christozentrische Sinngebung; eben das habe ich nicht angegriffen. Ich sehe und suche keinen anderen Weg zum Vater als durch Jesus Christus. Aber was weiß ich vom Glaubensleben eines gebildeten Hindu, was wüßte ich davon, wenn ich alle Bücher der Weisen studiert hätte? Wie darf ich ihn in diesem Sachzusammenhang zum Götzendiener stempeln? Eben das verlangt der Lehrplan, ob seine Urheber es wollten oder nicht; und nur das habe ich hier angegriffen. Vorsichtshalber muß ich indes nun hinzufügen, ohne das damit aber der Lehrplan angegriffen zu sein braucht: Ich sehe zwar keinen anderen Weg zum Vater als durch Jesus Christus, aber "ich kreise um Gott". Es gibt auch eine "Christo"-logie, die die "Theologie" zersetzt, etwa: sitzend zur Rechten Gottes so verstanden, als ob Gott-Vater den zweiten Platz einnähme. Vielleicht hat Jaspers hier einen unbefangeneren und schärferen Blick als wir Theologen, wenn er meint, daß das Christentum (als geschichtliche Größe) ausgerechnet an seiner Christologie scheitern könne. Auf alle Fälle zwingt eine solche Warnung uns Theologen zu ernster Selbstbesinnung, und ein evangelischer Lehrplan ist nicht befugt, Entscheidungen in der Frage "christozentrisch oder theozentrisch" vorwegzunehmen, soweit sie der theologischen Diskussion noch vorbehalten bleiben muß... Mißverstanden haben Sie offenbar, was ich über die "unmögliche Exklusivität" gesagt habe. Es ist auch meine Ansicht, daß sich weder daraus, wie die Gemeinde Jesu Christi nach Ihrer Meinung den von Ihnen genannten Gefahren zu begegnen habe, noch aus der Fülle in Jesus Christus eine "unmögliche Exklusivität" ohne weiteres ergibt. Vielmehr ist der Lehrplan meines Erachtens de facto von einer unmöglichen Exklusivität... Ich hätte in diesem Zusammenhang zum Beispiel auch darauf hinweisen können, daß dem Lehrplan wohl auch ein für unsere Schularbeit sehr enger Begriff von Kirchengeschichte zu Grunde liegt."

Was Weber aus dem Apostolikum herausläse, stünde, wie jeder Theologe wisse, tatsächlich auch drin. Es ginge aber nicht darum, sondern um die Forderung des Lehrplans für die Oberprima: "Zusammenfassung des evangelischen Glaubens im Apostolikum".

"Wenn ich meinen Oberprimanern sage, daß Tertullian die "Auferstehung des Fleisches" damit begründet, daß es in der Hölle kein Heulen und Zähneklappern geben könnte, wenn der Körper nicht in seiner Erdengestalt wiederhergestellt wäre, so "glauben" sie an eine solche Auferstehung nicht. Mir selber erscheint solcher "Glaube" für das Wesen eines evangelischen Glaubens mindestens belanglos, ich habe infolgedessen selber keine Möglichkeit, ihn ausschließlich auf unser ignoramus hin zu haben. Vom 3-stöckigen Weltgebäude der altchristlichen Bekenntnisse wissen wir ganz positiv, daß es das nicht gibt. Nimmt man nun hinzu, daß das Apostolikum in verschiedener Hinsicht mindestens eine "Weiterbildung" biblischer Ansätze bedeutet, so spricht doch sehr viel dafür, daß wir es auch in ihm mit einer "Überwucherung" zu tun haben, die sich prinzipiell nicht von der in der assumptio Mariae vorliegenden unterscheidet. Die Menschen haben jedenfalls damals ganz ohne Frage zum Mythos ein ganz anderes Verhältnis gehabt, als wir heute. Ich bezweifle, daß wir uns da restlos hineindenken können. Die Denkformen, nach denen die Menschen zu denken gezwungen sind, haben sich namentlich seit der Reformation sehr geändert. Wir können zu tiefst das Dogma des 5. Jahrhunderts nicht mehr verstehen, und aus Ehrfurcht sind wir darum verpflichtet, nicht so zu tun, als ob wir es noch ganz verstünden. Darum bedrückt es mich persönlich immer, wenn ich im Gottesdienst das Apostolikum höre, ob man da nun statt "Auferstehung des Fleisches" "Auferstehung des Leibes" sagt oder hinzufügt, daß man den "Glauben der Väter" bekennt (Gefahr der reservatio mentalis!) oder es einfach spricht. Der Lehrplan läßt nun geradezu den Religionsunterricht in diesem Apostolikum gipfeln; das ist geeignet, einen "Apostolikumsstreit" in der Schule heraufzubeschwören, für den heute unter den mannigfaltigen wahrlich wichtigeren Sorgen und der völlig veränderten Geisteslage außer verschwindend kleinen Kreisen unserer Kirche niemand mehr irgendwelches Verständnis aufzubringen vermag. Ein Warnzeichen dafür, wie schwach die kirchliche Verkündigung ist, wenn die Kirche mit solchen Problemen beschäftigt ist."

Der Religionslehrer schrieb weiter:

"Der Lehrplan sagt: Der Religionsunterricht ist ein Teil der kirchlichen Verkündigung; Sie sagen: Er ist n u r kirchlicher Unterricht; unsere Verfassung sagt: Er ist ordentliches Lehrfach an allen Schulen. Da weder die Kirche der Schule noch die Schule der Kirche restlos eingegliedert ist, verträgt sich das doch nur dann miteinander, wenn die Verfassung lediglich ausdrücken wollte, daß der Staat, beziehungsweise die Schulpatrone den Religionsunterricht schließlich nur zu bezahlen hätten. Eine Zumutung für den Steuerzahler!"

Unter dem 24. April 1951 berichtete der Evangelische Presse-Dienst (epd)[9]:

"Protest gegen Lehrplan für Religionsunterricht. Gegen die lebensfremde Enge, die der im Herbst 1950 herausgegebene Lehrplan für den evangelischen Religionsunterricht an höheren Schulen in Rheinland-Pfalz mit sich bringe, wandte sich Studienrat Schlüpmann in einem Vortrag vor dem "Deutschen Bund für freies Christentum" in Frankfurt a. M. Der Plan sei ohne genügende Rücksicht auf die besondere Situation der Schule und auf ihre pädagogischen Erfordernisse aufgestellt worden. Eine Revision des Planes in enger Zusammenarbeit der kirchlichen Stellen mit der Religionslehrerschaft sei dringend zu wünschen; "der gegenwärtig geltende Plan kann den Tod des Religionsunterrichtes bedeuten". Der Religionslehrer sei an das Evangelium gebunden und der Gemeinde verantwortlich, er müsse aber in seiner theologischen Lehrmeinung frei bleiben. Die Abstimmung des Planes mit den Plänen der anderen Fächer sollte die Querverbindung zu den anderen Sachgebieten erleichtern. Anpassung an die Schulmethoden und intellektuelle Sauberkeit müßten gewährleistet sein. Als Beispiel eines einwandfreien Lehrplanes für den Religionsunterricht wurde der für Hessen geltende aufgezeigt."

Der in Schlüpmanns Augen unvernünftige Lehrplan hatte in Rheinland-Pfalz offizielle Geltung. Das war in so fern paradox, als der Religionslehrer sich gleichzeitig staatlich-offiziell in der Auffassung bestätigt sehen konnte, daß der Plan keine allgemeine Verbindlichkeit haben könne.

* * *

Am 10. November 1951 unterzeichneten die Kirchenleiter des Rheinlandes, Westfalens und der Lippischen Kirche, Held, Wilm, Neuser, eine "Ordnung für die kirchliche Bevollmächtigung zur Erteilung evangelischer Unterweisung"[10] und Präses Held schrieb an alle ReligionslehrerInnen im Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland:

"Bisher genügte die durch Examen erworbene staatliche Lehrbefähigung zur Erteilung des Religionsunterrichtes in der Schule. Je mehr aber der Staat den Anspruch, ein christlicher Staat zu sein, aufgab, und die religiöse und weltanschauliche Neutralität als seinem Wesen gemäß anerkannte, mußte es fraglich werden, ob er allein den Auftrag zur Erteilung des Religionsunterrichtes geben könne. Entsprechend der Wandlung im Wesen des Staates verwandelte sich auch der Unterricht in evangelischer Religion mehr und mehr in eine besondere oder allgemeine Religionskunde. Evangelischer Religionsunterricht ist aber etwas anderes als besondere oder allgemeine Religionskunde und bloße Wissensvermittlung. Er ist ein wesentlicher Bestandteil der Evangelischen Unterweisung und damit Verkündigung des Evangeliums von Jesu Christus. Damit erfüllt der Religionsunterricht in der Schule an seinem Teil den der Kirche von ihrem Herrn gewordenen Auftrag, das Evangelium zu verkündigen und zu lehren. Weil der Religionsunterricht als Unterweisung im Evangelium eine Funktion der Kirche ist, bedarf es zu seiner Erteilung, unbeschadet des staatlichen Lehrauftrages und Aufsichtsrechtes, derselben Bevollmächtigung, wie zu allen anderen Diensten der Verkündigung in der Gemeinde. Mit der Bevollmächtigung darf der Lehrer darauf vertrauen, daß er wie der Pfarrer und die anderen Träger kirchlicher Dienste vom Herrn der Kirche berufen und bevollmächtigt und in seinem Dienst von der Fürbitte der Gemeinde getragen wird ... Die Kirche wird der Bevollmächtigung jedes Lehrenden zustimmen, der sich aufrichtig bemüht, im Zusammenhang mit der der Gemeinde Jesu Christi geschenkten Erkenntnis des biblischen Wortes dem Evangelium in der Schule zu dienen... Die Kirche tritt dafür ein, daß keinem Lehrenden ein beamtenrechtlicher Nachteil daraus erwächst, daß er aus Gewissensgründen die Erteilung des Religionsunterrichtes ablehnt."

Mit solcher Begründung der Notwendigkeit kirchlicher Vokation konnte sich Schlüpmann vermutlich so wenig abfinden, wie er sich gegen den Inhalt der ,Vokationsordnung` auflehnte. Die Evangelische Unterweisung war nach Paragraph 1 dieser Ordnung an das "biblische Evangelium Alten und Neuen Testamentes, wie es bezeugt ist in den Bekenntnisschriften der Reformation" gebunden. Schlüpmann schrieb in einem Beitrag zur Märznummer 1952 des "Freien Christentums": schon 1948 seien begründete Einwände gegen eine ähnliche Formulierung im Entwurf für eine Grundordnung der EKD vorgebracht worden, gegen die "Gleichstellung des Alten und des Neuen Testamentes untereinander und mit dem Evangelium" und gegen die "Wertung des Bekenntnisses als Norm für das Schriftverständnis". Es sei völlig unbegreiflich, wie die Bekenntnisschriften das Evangelium ,bezeugen` könnten. Schon die alte Konkordienformel sage "ganz reformatorisch", sie seien

"nicht Richter, wie die Heilige Schrift, sondern allein Zeugnis und Erklärung des Glaubens, wie jederzeit die Heilige Schrift in streitigen Artikeln in der Kirche Gottes von den damals Lebenden verstanden und ausgelegt worden".

Ausdrückliche Zustimmung - "vielleicht der einzige Satz der Vokationsordnung... dem man seine Zustimmung ohne alle Bedenken geben kann" - fand die Feststellung:

"Sie (die ev. Unterw. KS) kann nur von solchen Lehrern erteilt werden, die bereit sind, in Verbundenheit mit ihrer Kirche dem Evangelium in der Schule zu dienen."

Paragraph 2 der Vokationsordnung bestimmte:

"Unbeschadet seiner Rechtsstellung als Beamter des öffentlichen Dienstes übernimmt der Lehrer mit der Erteilung der evangelischen Unterweisung einen Dienst kirchlicher Lehre und Verkündigung".

Dazu Schlüpmann:

"Damit wäre dann der Dienst des Religionslehrers vierfach umschrieben: als Dienst am Evangelium, als öffentlicher Dienst - freilich ,nur` beamtenrechtlich und nebenbei - , als Dienst kirchlicher Lehre, als Dienst kirchlicher Verkündigung; - es fehlt bei aller Umschreibungsfreudigkeit die Umschreibung als Dienst an der Wahrheit und Dienst am werdenden Menschen."

Die Ordnung vermittle dann auch im weiteren peinlicherweise den Eindruck, es ginge vor allem darum, den Einfluß der Kirche zu sichern. Der Kritiker zitierte S.T. Coleridge:

"Wer damit beginnt, das Christentum mehr als die Wahrheit zu lieben, kommt dazu weiter, seine Sekte oder Kirche mehr als das Christentum zu lieben und endet damit, sich selbst über alle Dinge zu lieben."

Nicht nur das Wahrheitsethos, sondern auch das Erziehungsethos seien gegebenenfalls schwer getroffen. Die gegenwärtig wohl vorherrschende, dennoch theologisch einseitig orientierte Religionspädagogik halte nicht viel von "religiöser Erziehung":

"die christliche Unterweisung soll nicht den Menschen und seine Erziehung in den Mittelpunkt stellen, sondern Christus in seiner Macht und Herrlichkeit."[11]

Der Lehrer schrieb dazu:

"Ein Erzieher weiß um das Scheitern seiner erzieherischen Bemühungen. "An Gottes Segen ist alles gelegen." Soll er, darf er darum sein Erziehertum verleugnen, gerade als Religionslehrer? "Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn." Der Erzieher weiß auch, daß man mit dem Religionsunterricht den werdenden Menschen dem Christentum entfremden kann, - auf keine Weise wirksamer, als wenn man den Unterricht auf "kirchliche Lehre" abzielt, zumal auf Bekenntnisschriften.

Die GEW in Nordrhein-Westfalen war schon Ende Oktober 1951 in Bochum von Oberkirchenrat Boué[12] mit der fertigen Ordnung konfrontiert worden: es handele sich um eine rein kirchliche Angelegenheit, formal gesehen seien Verhandlungen mit den Lehrern überflüssig. Die GEW hatte daraufhin ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben (RA Dr. Oscar Redelberger), in dem die Rechtsunwirksamkeit einer solchen Ordnung für den Staat und die Lehrer in ihrer Tätigkeit als Beamte festgestellt wurde. Unter dem 8. Januar 1951 hatte Paul Schlüpmann an seinen Schwager (und GEW-Vertreter) geschrieben:

"Man hat Euch mit der Vokationsordnung gewaltig übers Ohr gehauen. Das habe ich kommen sehen, weil ich in Eurer Weise dem Gegner zu begegnen zu sehr das Theologische und Religionspädagogische vermisse. Ich verstehe das Fehlen oder Zurücktretenlassen dieser Gesichtspunkte - wenn ich das richtig feststelle - zwar gut, aber schließlich vertretet Ihr doch evangelische Religionslehrer, mit denen Ihr nach evangelischer Auffassung durchaus das Recht zum Mitreden in Theologie und Religionspädagogik habt, und mir scheint das nach Lage der Dinge unumgänglich ... Unter "Evangelischer Unterweisung" darf man unter religionspädagogischen und theologischen Gesichtspunkten, ohne sich damit von den Grundsätzen der Kirche zu entfernen, sehr wohl etwas ganz anderes verstehen als "Dienst kirchlicher Lehre und Verkündigung". Deswegen verstehe ich auch nicht recht, warum Ihr nicht mit aller Macht sturmgelaufen seid gegen Euern Religionslehrplan (oder weiß ich nur nichts davon?). Geht es denn Euch nicht als Pädagogen gegen Eure Berufsehre, wenn man Euch einen Religionsunterricht zumutet, für den man ,anordnet`: "Wir haben es nicht in der Hand, irgendeinen Menschen zugänglich zu machen für Gottes Wort; darum sollen wir auch nicht unsere Unterrichtsmethoden darauf richten..." Ein solcher Religionsunterricht sollte doch in einer Schule nichts zu suchen haben. Aber ein wirklicher evangelischer Erzieher hat darum noch lange nicht das innere Recht, darum für sich auf den evangelischen Religionsunterricht überhaupt zu verzichten. Er ist vielmehr in seinem Gewissen dazu verpflichtet, ihn auf die seinem Gewissen gemäße Weise zu geben. Er wird darum auch um seines Gewissens willen nicht der Erwartung in Ziffer 11b der Vokationsordnung entsprechen dürfen."

Unter Ziffer 11b wurde die Erwartung ausgesprochen, daß Lehrer, die mit der Vokationsordnung nicht einverstanden sind, die Bevollmächtigung zurückgeben. Unter 11a wurde bestimmt, daß Lehrer, die vor Ostern 1945 schon lehrten und "gegen deren Lehre und Wandel begründete Einwendungen nicht erhoben werden" als bevollmächtigt gelten.

Man hätte meinen können, daß das Engagement, daß Schlüpmann in Sachen Religionsunterricht bewies, die besten Voraussetzungen für seinen Unterricht abgab, egal ob man seine theologischen und pädagogischen Ansichten teilte oder nicht. Aber so sollte es erst einmal nicht sein. Im Oktober 1954 kam noch einmal Heinz Krieger (s.o ,Religion im Rechtsstaat) zu Wort, dessen Einwände 1947/48 gegen Schlüpmanns Unterricht zu dessen unbegründeter Suspendierung geführt hatten bis anschließend die Rechtslage geklärt und die Vorwürfe als unhaltbar sich erwiesen hatten. Im Gespräch mit Robert Euler sagte Krieger, daß Schlüpmann die Vokation nicht erhalten werde. Herr Weber (s.o.) habe ihm den Märzartikel 1952 aus dem Freien Christentum zugeschickt, Schlüpmann wolle die Vokation nicht, also werde er sie auch nicht erhalten. Die Kirchenleitung werde dem Kultusministerium entsprechende Mitteilung machen, und der Lehrer würde dann nicht mehr unterrichten können. Euler machte Krieger darauf aufmerksam, daß der Artikel zwar die Vokationsordnung kritisiert habe, aber die Vokation ausdrücklich nicht ablehne. Schlüpmann schrieb für alle Fälle eine Notiz, die der Kollege Euler las und für richtig befand. Zwei Jahre später stand seine kirchliche Bevollmächtigung tatsächlich in Frage, als nämlich die Landesregierung die Schulleitungen per Erlaß vom 22. November 1956 bat, gemäß Artikel 34 der Landesverfassung über einen Beschluß der Kirchenleitung zu wachen, daß ab 1. April 1957 kein Lehrer mehr ohne die Bescheinigung der Kirche unterrichte. Schlüpmann schrieb unter dem 1. Dezember 1956 an das Kultusministerium, er habe bisher die im Erlaß zitierte Bescheinigung nicht erhalten, er erteile seit 1926 Unterricht und er habe nicht die Absicht den Anspruch auf sein ordnungsgemäß erworbenes Recht aufzugeben.

Die Landesregierung schrieb daraufhin unter dem 19. Dezember, sie verweise auf Artikel 34 und empfehle, sich wegen des Vokationsscheines mit der Kirchenleitung in Verbindung zu setzen. Schlüpmann wandte sich am 31. Dezember noch einmal an das Ministerium "in Kenntnis des Grundgesetzes, der Verfassung ... jedoch noch ohne juristisch beraten zu sein": Die Tatsache, daß er dem Personenkreis angehöre, dem der Vokationsschein laut Ordnung ohne Einschränkung und ohne weiteres zugesichert sei, böte ihm nicht die Veranlassung sich an die Kirchenleitung zu wenden. Jetzt wies das Ministerium am 29. Januar den Direktor an, sich mit dem Landeskirchenamt in Verbindung zu setzen. Schlüpmann stellte in einem Brief vom 4. Februar an den Landesvorsitzenden des Philologenverband, Fritz Flammersfeld, seine Angelegenheit dar und bat um Rechtsschutz. In einem zweiten Schreiben an Flammersfeld vom 14. Februar hieß es:

"Von der Anweisung des Ministeriums an den Direktor meiner Anstalt vom 29.1.57 verspreche ich mir wenig. Ich habe den Eindruck: Das Landeskirchenamt will mir unter Vermeidung jeder Diskussion den Vokationsschein einfach vorenthalten, damit das Ministerium mir den Religionsunterricht nimmt, und das Ministerium will sich nach Möglichkeit jeder Verantwortung für den evangelischen Religionsunterricht in sachlicher und personeller Hinsicht entziehen, indem es letzten Endes die Absicht des Landeskirchenamtes vollstreckt, obwohl der evangelische Religionsunterricht doch immer "ordentliches Lehrfach" in unter Staatsaufsicht stehenden Schulen war und noch ist..."

Der Schreiber gab auch noch einmal seiner Auffassung hinsichtlich der Verfassungsbestimmung zum Unterricht "im Auftrag und in Übereinstimmung mir den Lehren und Satzungen der betreffenden Kirche..." Ausdruck:

"1. Landeskirchenamt und evangelische Kirche sind nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche etwas so Verschiedenes, daß ein Konflikt eines Mitglieds der evangelischen Kirche mit einem Landeskirchenamt nicht ohne weiteres als ein Konflikt mit der evangelischen Kirche angesehen werden kann. Daraus folgt, daß das Ministerium vor der Anwendung des Artikels 34 der Landesverfassung auch erst prüfen müßte, ob die Entscheidung des Landeskirchenamtes im fraglichen Falle als Entscheidung der evangelischen Kirche angesehen werden kann. / 2. Was ist im Sinne evangelischen Kirchentums unter "Lehren der (ev.) Kirche" zu verstehen? Eine "Normaltheologie" gibt es im Sinne evangelischen Kirchentums nicht, auch ein Landeskirchenamt ist nicht legitimiert und auch nicht legalisiert, seine Theologie dafür zu nehmen..."

Unter dem 23. März bat Edgar Boué Schlüpmann zu einem Gespräch im Landeskirchenamt. Schlüpmann antwortete am 25. März, daß er grundsätzlich bereit sei, daß er aber um einen späteren Termin bitte, weil er zunächst die Dienstreise beantragen müsse und daß er aus Gründen der Loyalität fände, wenn möglich solle ein Vertreter des Ministeriums hinzugezogen werden, weil letztendlich dort entschieden werde, ob er mit oder ohne Kirchenschein Unterricht erteilen könne. Doch solle das Gespräch daran nicht scheitern.

Das Ministerium verweigerte per Erlaß vom 29. April die Dienstreise und bekräftigte diese Entscheidung unter dem 15. Mai, nachdem der Direktor um Revision gebeten hatte. Das Ministerium war der Ansicht, der Sachverhalt sei durch Schriftwechsel zu klären. Das schrieb Schlüpmann am 17. Juni an Boué und bat, ihm mitzuteilen, warum die Erlaubnis bisher nicht erteilt worden sei und gegebenenfalls, ob und welche Bedenken von welcher Seite bestünden. Boué antwortete zehn Tage später:

"Es ist ein Irrtum Ihrerseits, wenn Sie meinen, die Erteilung der Vokation ist eine staatliche Angelegenheit. Sie ist ein rein kirchlicher Vorgang. Daher ist es auch durchaus verständlich und folgerichtig, daß das Ministerium für Kultus und Unterricht Ihren Antrag (zur Dienstreise KS) abschlägig beschieden hat. Wir müssen Sie also bitten, zur Klärung der Erteilung der Vokation an Sie zu uns zu kommen. Ich bitte Sie, am Mittwoch, den 3. Juli nachmittags zu einem Gespräch über diese Angelegenheit in das Landeskirchenamt in Düsseldorf, Inselstraße 10, zu kommen."

Schlüpmann schrieb am 29. Juni noch einmal an Boué:

"Soweit ich unabhängig von Ihrem Brief zur Zeit sehe, können Sie über mich bezüglich der Erlaubnis zur Erteilung evangelischen Religionsunterrichts entscheiden, ganz, wie Sie es für richtig halten, selbst, ohne mich zu hören, ohne daß ich es Ihnen verwehren könnte. Auch dagegen, daß mir der Religionsunterricht im Falle Ihrer entsprechenden Entscheidung genommen würde, könnte ich mich nicht wehren. Das nimmt mir viel Verantwortung und erleichtert mir die Situation. / Ihr Schreiben ignoriert die Meinung des Ministeriums, daß sich der in Frage stehende Sachverhalt durch Schriftwechsel klären ließe. Sie ist auch meine Meinung. Ebenso ignoriert Ihr Schreiben meine Fragen in meinem Schreiben vom 17. 6. 57. Über Jahre hin wurde mir die zu erteilende Erlaubnis vorenthalten, ohne daß ich dazu auch nur irgendeine Mitteilung erhalten hätte. Ich kann nicht leugnen, daß mir über alledem die meinen Religionsunterricht betreffenden Ereignisse von 1947-49, die auch bei Ihnen noch aktenkundig sein werden, wieder recht lebendig geworden sind. / Ich nehme Ihre Einladung zu meinen finanziellen Lasten an, vorausgesetzt, daß ich den notwendigen Urlaub vom Dienst bekomme, nachdem das Ministerium die Reise für nicht notwendig erachtet und erklärt hat."

Das Gespräch fand statt und vom 2. September 1957 datierte die fragliche Bescheinigung gemäß Artikel 34 der Landesverfassung und nach Ziffer 11 der Vokationsordnung. Das Landeskirchenamt hatte keine Einwände mehr, dem Lehrer die ihm ohne weiteres zustehende Erlaubnis nach all dem Hin und Her ohne weiteres, daß heißt ohne einen schriftlichen Satz der Erklärung oder des Bedauerns, zu geben. Es mag anzumerken sein, daß Schlüpmann den örtlichen Gottesdienst äußerst selten besucht hatte, und daß sich daran auch nichts änderte. Aber er (und später seine Frau) hörten nicht auf, Kirchensteuer zu zahlen. Den Religionsunterricht erteilte er noch 16 weitere Jahre bis zu seinem Tod 1973.

* * *

In zwei Aufsätzen versuchte Schlüpmann 1952 seine religionspädagogischen und theologischen Ansichten zu untermauern: "Erinnerung zum Thema: Der evangelische Religionsunterricht der Schule und die Pädagogik", "Die altchristlichen Glaubensbekenntnisse heute". Der erstgenannte Text wurde für die Juni-Beilage "Schule und Kirche" der Gewerkschaftszeitschrift "Die Neue Schule" geschrieben[12a]. Mit der historischen Erinnerung verband sich die (polemische) Kritik an der gegenwärtig dominanten Religionspädagogik:

"... es ist das Verdienst Lessings, in seiner Schrift "Die Erziehung des Menschengeschlechts" im Zusammenhang mit dem neuen Geistesleben (der Aufklärung KS) über die Erziehungsidee einem "christlichen Humanismus" eine theologische Prägung gegeben zu haben... Eben dieser heute in der theologischen Diskussion sehr umstrittene "christliche Humanismus" hielt die Tür offen zwischen der neuen Allgemeinen Pädagogik und einer konfessionellen evangelischen Religionspädagogik, die erst viel später kommen sollte. Es entfaltete sich vor allem in Deutschland auf dem Grunde des Evangeliums innerhalb der evangelischen Kirche eine Theologie, die mit "liberal" nicht glücklich bezeichnet und viel und nicht immer würdig geschmäht wurde... Sie hatte ausgeprägten Sinn für Laientheologie - ein lutherisches, pietistisches und aufklärerisches Erbe zugleich - und ließ die dem undogmatischen Christentum wie der "Aufklärung" immanenten pädagogischen Impulse wirken... So konnte es geschehen, daß diese Theologie die große Anregerin wurde für eine unter anderem mit den Namen Kabisch und Niebergall verbundene konfessionelle evangelische Religionspädagogik, die sich gleichwohl der Allgemeinen Pädagogik erschloß, sich ihrer Erkenntnisse bediente und sie organisch ergänzte und bereicherte..." "Diese skizzierte Entwicklung ist nun seit etwa 30 Jahren überlagert von dem Aufkommen und Überhandnehmen einer Theologie, die sich in richtigem Selbstverständnis auf der ganzen Linie von der "liberalen" Theologie bewußt distanziert. Als Theologie der "Diastase", des äußersten Auseinandertretens von Gott und Welt, betrachtet sie das neuzeitliche Geistesleben mindestens als im Grunde nicht existent... Als "dialektische" Theologie, unter welchem Namen sie vor allem bekannt ist, hat sie eine besondere Vorliebe für das Widersprüchliche... Nach dem Vorgange der "liberalen" Theologie hat auch diese Theologie sogar eine recht rührige "Religionspädagogik" ausgelöst und die Religionspädagogik des 1. Jahrhundertdrittels überwuchert. Die Verdienste dieser neuen Religionspädagogik sollen nicht geschmälert werden, vor allem kann sie uns vor leichtfertigem religionspädagogischem Optimismus warnen, auch mag sie als eigentümlich "kirchliche" Pädagogik wertvolle sozialpädagogische Impulse enthalten. Aufs Ganze gesehen aber fehlt ihr, wie es nichts anders sein kann, letztlich der innere Kontakt mit der Allgemeinen Pädagogik, um so mehr, als in ihr die Theologie den absoluten Vorrang hat; die christliche "Unterweisung" ist hier etwas "ganz anderes" als der übrige Unterricht... Die christliche Unterweisung soll nicht den Menschen und seine Erziehung in den Mittelpunkt stellen, sondern "Christus in seiner Herrlichkeit".

Diese Erinnerungen zur Religionspädagogik waren vermutlich ein relativ müheloses Unterfangen. Dagegen bedeutete die Niederschrift zu den Glaubensbekenntnissen wohl erheblich größeren Arbeitsaufwand. Es hatte - das war allen Theologen geläufig - einen berühmten Streit um das Glaubensbekenntnis gegeben. Im Juli 1891 hatte der württembergische Pfarrer und Theologe Christoph Schrempf bei einer Kindtaufe nicht das vorgeschriebene Glaubensbekenntnis, das ,Apostolikum` verwendet. Die Gemeinde und 6 Monate später die Kirchenbehörde entließen Schrempf aus dem Amt. Berliner Studenten Adolf Harnacks ergriffen Partei für den Pfarrer. Harnack antwortete ihnen in seinem kirchengeschichtlichen Kolleg. Ja, die Kirche sei gut beraten, wenn sie neben dem Apostolikum eine kurze Glaubensformel billigen würde, die dem nachreformatorischen Verständnis gerechter würde. Nein, um Abschaffung könne es nicht gehen, die würde dem Atheismus Vorschub leisten. Es entwickelte sich der ,Apostolikumsstreit` von 1892 unter protestantischen Theologen und Laien, der vielleicht um so mehr die Gemüter bewegte und die Geister schied, als gleichzeitig ein Gesetzentwurf zur Festigung der Konfessionsschule zu größerer Aufgeregtheit und zum Sturz des preußischen Kultusministers führte. 60 Jahre später war die Situation (kirchen-)politisch und theologisch eine völlig andere. In der Behandlung der Bekenntnisformel sollte laut Lehrplan der Unterricht gipfeln? Welche Bedenken standen der kirchlichen Auffassung von der Bedeutung des Apostolikums entgegen? Schlüpmann stellte seine Arbeit zu den altchristlichen Glaubenbekenntnissen[13] unter das Motto des Luther-Satzes:

"Ein Christ ist eine Person für sich selbst; er glaubt für sich selbst und sonst für niemand"

Der Aufsatz war ursprünglich Teil eines "kühnen Plans". Unter dem 28 August 1952 schrieb er an Karl Hansmeyer:

"Gestern sollen 40 000 in Stuttgart (Kirchentag KS) das Glaubensbekenntnis gesprochen haben. Die Zahl bedeutet wenig im Verhältnis zur Gesamtzahl der Deutschen, aber sie bedeutet eine Ungeheuerlichkeit, wenn man bedenkt, was da im Einzelnen geschieht. Wer sprach mit, ohne "mitgerissen" zu sein? Wer verstand, was er sagte? Wer verstand richtig, was im Glaubensbekenntnis gesagt ist? ... Ich erwäge nun folgenden kühnen Plan: einen Vorstoß gegen die wieder so akut gewordenen altchristlichen Glaubensbekenntnisse mit dem noch kühneren Endziel - nicht ihrer Abschaffung, wohl aber eines offenen Zugeständnisses absoluter Lehrfreiheit ihnen gegenüber von Seite einer Kirchenleitung. Ein beträchtliches Teilziel wäre es, wenn das Exempel statuiert würde, daß eine Kirchenleitung eine rückhaltlose Kritik an den Glaubensbekenntnissen durch einen bestallten Religionslehrer in aller Öffentlichkeit durchgehen lassen müßte. Eine solche Kritik ist meine beigefügte Arbeit, von der ich hoffe, daß sie sachlich in Ordnung ist. Wenn ich sie einfach der für mich zuständigen rheinischen Kirchenleitung vorlegen würde, würde mein Protest im Sande verlaufen... Ganz anders stände der Fall da, wenn ich meine Aktion in Verbindung mit der GEW und dem Bund für freies Christentum startete... Daher wüßte ich gern, ob und in welcher Weise ihr interessiert seid."

Aus dem Plan wurde nichts. Die Arbeit zirkulierte bei wenigen Interessierten und blieb praktisch ohne Resonanz[14]. Schlüpmann hatte sich über 25 eng beschriebene Seiten (32 Zeilen a 28 Anschläge) bemüht, Konstantinopolitanum (griechisch, Konzil von Konstantinopel 381), Apostolikum (griechisch und lateinisch, Ende 4tes, Anfang 5tes Jahrhundert) und Athanasianum (lateinisch, Südgallien, 5tes Jahrhundert) in Wortlaut und Übersetzung zu erläutern und dann hinsichtlich der Lehre vom Glauben, von der Kirche, vom Heil, von der Welt, von Gott und von Christus kritisch zu untersuchen. Zum Beispiel schrieb er zur Lehre von der Welt:

"Im Zusammenhang mit der Heils-"geschichte" äußern sich die altchristlichen Bekenntnisse auch über die "Welt". / Im Konstantinopolitanum und im lateinischen Text des Apostolikums wird Gott (Vater) als Schöpfer von "Himmel und Erde" bezeichnet. Dieses Begriffspaar wird in der religiösen Sprache der Gegenwart weithin uneigentlich gebraucht und ist daher weithin synonym den Begriffspaaren Jenseits und Diesseits, Metaphysik und Physik, Transzendenz und Immanenz. In den Altchristlichen Bekenntnissen aber ist es durchaus eigentlich gemeint; denn nimmt man die weiteren Aussagen hinzu, wird unbezweifelbar deutlich, daß den Bekenntnissen die recht widerspruchs- aber phantasievollen antiken Vorstellungen vom Weltgebäude zu Grunde liegen, wie sie sich sehr ausführlich im Alten Testament einschließlich der apokryphen Literatur, weit spärlicher aber auch im Neuen Testament finden..."

Der Glauben des Athanasianums - die beiden anderen Bekenntnissse handeln von der Kirche, aber nicht vom Glauben - stelle sich als eine reine fides quae creditur (Glaube, an den geglaubt wird) dar und schließe den Glauben, aus dem heraus geglaubt wird (fides qua creditur) und damit die paulinische und lutherische Auffassung restlos aus. Die Glaubens-"wahrheit" ist nicht die wissenschaftliche. Darin liege eine große Versuchung zur Wahrheitsbeugung für religiöse Menschen, denen das Heil alles, Wahrheit nur insofern etwas bedeute, als sie dem zuvor erhofften Heil nicht im Weg stehe.

Die "apostolische" (auf die Apostel zurückzuführende) Kirche in Konstantinopolitanum und Apostolikum sei, kritisch betrachtet, eine Legende. Ihre Katholizität, von Cyrill konzipiert, nicht biblisch. Die Heilsnotwendigkeit der Zugehörigkeit zur Kirche, da es mehrere christliche Kirchen gebe, stark in Frage gestellt.

Das Heil liege, den Glaubensbekenntnisssen zufolge in der Auferstehung. Der krasse Materialismus körperlicher Auferstehung sei biblisch nicht gegeben:

"So sehr der materialistische Auferstehungsglaube den Ernst des Todes dem menschlichen Bewußtsein wach erhält und zugleich dem sinnlichen Lebenshunger des Menschen entgegenkommt, so unerträglich ist er dem modernen naturwissenschaftlichen Gewissen wie übrigens auch der Glaube an das Eingehen ins ewige Feuer, der ein Restbestand der biblischen Geenna (Tal bei Jerusalem, zeitweilig imaginärer Ort der Hölle KS) -Vorstellungen ist. Dagegen hat sich der Unsterblichkeitsglaube, von seiner dogmatischen Verklammerung gelöst, besonders im Denken der christlichen Aufklärung und des deutschen Idealismus als fruchtbar erwiesen und wird, abgewandelt, von den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Gegenwart kräftig genährt."

Wenn der Autor hier seinen Unsterblichkeitsglauben durch die Naturwissenschaft seiner Gegenwart genährt sah, folgte er wohl eher einer willkürlichen und reduktionistischen Interpretation von Fachwissen, vielleicht auch verbreiteten Bemühungen von "Popularisierung".

Die Gotteslehre des Athanasianums, die Trinität, der "Trimisimplizitheismus" (die Dreifaltigkeitseinfaltigkeit des Gottes) sei im Neuen Testament nicht zu finden: keine einzige Trinitätsformel unter den Dreiheitsformeln:

"...nur Tertullians verhängnisvolles "creo quia absurdum" (ich glaube, weil es absurd ist) und ein vernunftverlassener Glaube an die Heilsnotwendigkeit können diese Lehre im Verein mit kirchenregimentlichen Maßnahmen heut noch "stützen"."

Die Christologie der Bekenntnisse schließlich schien dem Autor in den unterschiedlichen Gott-Mensch-Vorstellungen (Zweinaturenlehre des Athanasianums), in der Hypostasen- und Trinitätslehre unglaubwürdig, mangelhaft für heute aber auch darin, daß der Mensch Jesus in den drei Bekenntnissen viel zu kurz kommt, nämlich ausschließlich als der der Passion erwähnt wird. An dem "Christus"-Gott der Bekenntnisse kritisierte er mit Karl Jaspers, daß Gott durch viele Menschen spricht, nicht nur durch Jesus:

"der Christus in mir ist nicht an jenen einmaligen Jesus-Christus ausschließend gebunden, und der Jesus ist als Christus, als Gottmensch ein Mythus. Die Entmythisierung darf hier nicht willkürlich halt machen"[15]

Schlüpmann dazu und seinen Aufsatz abschließend:

"An diesem Wort sollten Theologie und Kirchen unserer Tage nicht achtlos vorübergehen. Es gibt Antwort auf die Gegenwartskrise und verspricht dem Christentum viel Möglichkeit zur Überwindung der Krise. Was wäre mit den altchristlichen Glaubensbekenntnissen heut noch gerettet? Es könnte aber viel gewonnen sein mit einem Christusbegriff, der im Einklang mit dem wissenschaftlichen Gewissen unserer Tage von den Bekenntnissen weg in entgegengesetzter Richtung ans erlösend Unbegrenzte führt."

Am 1. Januar 1954 bat ihn Heinrich Brenne in Dortmund noch einmal kurzfristig um einen Beitrag zur (Februar-)Beilage ,Schule und Kirche` der GEW-Zeitschrift Die Neue Schule. Ob er zum Thema "Der pädagogische Gehalt der Gleichnisse und Reden Jesu" etwas schreiben könne, "weil heute oft gesagt wird, daß das Evangelium keine pädagogische Größe sei...". Unter dem 18. Januar schickte Schlüpmann ein achtseitiges Manuskript[15a].

Von Adolf Harnacks Vorlesungen "Das Wesen des Christentums" von 1899/1900, die zur Überraschung des Autors einen Skandal auslösten, hatte Rudolf Bultmann, Schlüpmanns einstiger Lehrer, geschrieben, daß sie zu Recht eine Christologie anprangerten, die ,Lehre` sein wollte, wo die Unmittelbarkeit des Kerygma (der Verkündigung) zu begreifen war. Harnack hatte im Vorwort zu seinen Vorlesungen geschrieben:

"Nein - diese Verkündigung ist einfacher, als die Kirchen es war haben wollen, einfacher, aber darum auch universaler und ernster",

Adolf Jülichers "Die Gleichnisreden Jesu" waren etwa gleichzeitig mit Harnacks Vorlesungen erschienen und sollten die Theologen überzeugen, daß es sich bei den Gleichnissen nicht um Allegorie im eigentlichen Sinn handele. Die Allegorie ist ein Versteckspiel mit einem eigentlichen Sachverhalt, während das Grundelement des Gleichnisses der sinnvolle Vergleich eines schwerer verständlichen eigentlichen Sachverhaltes mit einem einfacheren, anschaulicheren, deutlicheren, überzeugenderen ist. Das Gleichnis ist ein genuin pädagogisch-didaktisches Mittel. Jesus liefere "Musterbeispiele unübertrefflicher pädagogischer Didaktik".

Das Bild im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ist - Heinrich Weinel[16] hatte das gezeigt - ähnlich einem talmudischen: der König (Gott), der seine Arbeiter beobachtete, nahm nach zwei Stunden einen besonders geschickten und fleißigen bei der Hand und wanderte den ganzen Tag lang mit ihm auf und ab. Als er ihm am Abend den gleichen Lohn zahlte und die anderen murrten, sagte der König: er hat in zwei Stunden mehr geleistet, als ihr den ganzen Tag. Der Talmud läßt Rabbi Sera beim Tod seines 28 jährigen Kollegen sagen: So hat auch Bun bar Chija in 28 Jahren mehr geleistet als manch einer in 100 Jahren. Weinel und mit ihm Schlüpmann fanden, es sei eine Binsenwahrheit, daß einer mehr leiste als ein anderer, pädagogisch-didaktisch sei mit der Erzählung nicht viel gewonnen. Die Geschichte, die Jesus (Math. 20) erzählt sei viel gewichtiger: Der gute Hausvater (Gott) schickte morgens Tagelöhner in seinen Weinberg, im Laufe des Tages schickte er weitere, die letzten, die bis dahin keine Arbeit hatten finden können, eine Stunde vor Feierabend. Alle ließ er, trotz ungleicher Arbeitszeit, mit einem Silberling entlohnen, die zuletzt eingestellten zuerst. Zu dem, der sich beklagte, sagte er: ich tue Dir nicht unrecht, der Silberling war doch der verabredete Lohn. Den letzten gebe ich das gleiche, oder darf ich mit meinem Geld nicht machen, was ich will. Bist du neidisch, daß ich gütig bin? Schlüpmann kommentierte:

"Niemand darf müßig gehen, niemand darf im Lohn zu kurz kommen. Niemand verachte den Wert formaler Gerechtigkeit. Kämpfen nicht heute, im Zeitalter entpersönlichter Arbeitsverhältnisse ganze Berufsorganisationen um den "gerechten" Lohn? Aber die murrenden Arbeiter haben hier ihren gerechten Lohn bekommen und die anderen ein "Übriges". Darf man um ein "Übriges" rechten wollen, daß ein guter Hausvater diesem und jenem Arbeiter antut?"

Das Gleichnis veranlasse, dem "ewig menschlichen Neid" abzuschwören; vor Gott, wie Rudolf Bultmann schrieb, keinen Anspruch vorzubringen[17], darin sei Jesus mit den Grundgedanken der rabbinischen Ethik einig[18]. Schlüpmann hob auf die besondere ethische und pädagogische Forderung ab, die darin liege, der Güte des Hausvaters zu vertrauen. Sich auszumalen, wie der scheinbar ungerecht handelnde vielleicht die ausgleichende Gerechtigkeit im Sinn habe.

"Um mit solchem Gleichnis innerlich mitzugehen, braucht man weder schon von vornherein ein ausgemachter ,Christ` mit sicherem christlich-theologischem Besitz, noch ein Erwachsener mit womöglich ,abgeschlossener` Lebensreife zu sein, und wen man ein ,dezidierter Nicht-Christ` ist, nur sei man ein denkender, empfindender, wollender Mensch."

Es folgten weitere Beispiele zum Lob der pädagogischen Talente Jesu und schließlich zitierte der Autor Hans-Emil Weber, den Mitstreiter Karl Barths im Kirchenkampf 1933:

"Die unüberbietbare Intensität dieser ,Pädagogik` aber ruht in der Freiheit: "Man sucht in allen Evangelienbüchern vergeblich nach einem Beispiel, wo Jesus einem Menschen gegenüber auch nur den Schatten eines Zwanges ausgeübt oder gefordert hätte. Er ist in Wort und Werk und Person der Beweis für den Satz: ,Gott überwältigt wohl; aber er vergewaltigt nie!"

Das Evangelium sei gewiß nicht nur Pädagogik und die Pädagogik sei auch nicht als Rechtfertigung für das Evangelium zu verstehen, aber:

"die Gegenwart befindet sich im Zustande einer verhängnisvollen pädagogischen Depression. Diese erstreckt sich nicht bloß auf die "religiöse Erziehung" und muß keineswegs zwangsläufig aus dem christlichen Bewußtsein der menschlichen Existenz abgeleitet werden. Jesu Worte, das "Evangelium, wie es Jesus verkündet hat", legitimieren das Ringen um eine echte evangelische Religionspädagogik sowohl vor der Pädagogik als auch vor dem Wesen des Christentums."

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Vielleicht galt für Schlüpmann, was Heinz Zahrnt (s.o.) von Lessing vermutete: "daß er zeit seines Lebens wenig geglaubt und am Ende sogar noch weniger". Aber er hielt offenbar an der Vorstellung von einer (christlichen) Wahrheit fest, die in der Welt zu finden ist, sich der (natur-)wissenschaftlichen (logischen) Erkenntnis entzieht, und durch deren glaubhafte Existenz ,Gott` zum Ausdruck kommt (sich offenbart). Diese ,innerweltliche Transzendenz` schien ihm unverzichtbar als Leitvorstellung im Zusammenleben und in der Pädagogik. Sie begründete eine ,Weltfrömmigkeit`, die der intellektuellen Einsicht und Erkenntnis nicht entgegenstand, sondern diese forderte. Die logische Wahrheit und die ,transzendente` waren in seiner Vorstellung qualitativ verschieden und unvergleichbar (,Diastase`), doch die eine ohne die andere inexistent oder unwirklich (,Dialektik`).

Die ,Autorität` der ,tranzendenten` Wahrheit war der Angelpunkt seiner ,antiautoritären` (im Sinn der Reformpädagogen in der Weimarer Republik) Pädagogik und seines Demokratieverständnisses. Sie spiegelte sich in äußeren Normen - oder nicht - , darüber hatte das innere Gewissen zu entscheiden. Erziehung erschien dem Lehrer vor allem als Gewissensbildung, ein Selbst-Bewußtsein ohne innerweltliche ,Gotterkenntnis` (,Gottesfurcht`, ,Ehrfurcht`) unzureichend oder gar unmöglich. Die unumgängliche Entscheidungsnotwendigkeit (,Entscheidungsnot`) im Leben bringt ,in letzter Instanz` jene Wahrheit zum tragen, die sich jenseits der rational erkennbaren findet. Ihre Erkenntnis bedeutet immer einen ,Glaubenssprung`, ungeachtet der Religion oder Kirche. Sie ist individuell und gesellschaftlich entscheidend, aber sie entzieht sich dem Wissen. Ethische und rechtliche Normen, die christliche oder eine andere Überlieferung bilden als einsichtige Wahrheiten ihren ,dialektischen` Gegenpol und sind somit nicht minder entscheidend. So oder auch ganz anders könnte der Lehrer sich ein paar (Grund-?)Wahrheiten zurecht gelegt haben.


[1] "Evangelische Religionspädagogik in zeitgeschichtlicher Perspektive", Jb. f. Rel. päd. (Neukirchen-Vluyn) 12, 1996, s.35

[2] Ebenda, S. 38ff. Der Autor schrieb dann noch: "Am meisten hat die evangelische Unterweisung dem Kapitalismus darin gedient, daß sie sich geradezu programmatisch unpolitisch gab und damit einer nicht immer demokratischen Entwicklung ihren ungestörten Lauf überließ... Evangelische Unterweisung. paßte aber auch gut in die kirchliche Landschaft des Nachkriegsprotestantismus. Denn sie läßt sich gut verstehen im Zusammenhang eines als Programm zu umreißenden Leitbilds der "Rechristianisierung" der Gesellschaft beziehungsweise der Aufrichtung und Durchsetzung einer umfassenden christlichen Gesellschaftsordnung..." (Vgl.a. M. Greschat, "Die Ev. Kirche" in W. Benz (Hg.), Die Geschichte der Bundesrepublik Bd.3, Gesellschaft, Fischer Tb 1989, 97 ).

[3] Stuttgart 1958

[4] Gütersloh 1959

[5] Göttingen 1961

[5a]Karl Hansmeyer (1895-1981) war Lehrer, wurde Offizier (Hauptmann) im Krieg 1914-1918, war Sozialdemokrat in der Republik, verlor sein Lehramt 1933, übernahm nach 1945 Funktionen als Kommunalpolitiker (in Castrop Rauxel, später in Dortmund) und als Gewerkschafter in der GEW auf Landesebene in NRW.

[6] Die Denkschrift war verfaßt von O. Hammelsbeck und fand am 5. Juni 1950 die Zustimmung der Kirchenleiter des Rheinlands und Westfalens, Held und Wilm.

[7] Zu Althaus s. o. ,Religion im Rechtsstaat`. Seine ,Erlanger` lutherische Theologie galt als weder als ,liberal` noch ,dialektisch`.

[8] Im Dezember meinte das in Essen erscheinende Gewerkschaftsblatt ,Die Neue Schule` zu den "Rengsdorfer Sätzen": "Mit den Vereinbarungen ist ein gutes Stück Weg zur Befriedigung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat zurückgelegt". Das Blatt zitierte die Lüdenscheider Nachrichten: "Präses D. Held bezeichnete die Rengsdorfer Sätze als ein bedeutsames Ereignis in der geistigen Situation unserer Zeit... Die Landessynode bezeichnete die Rengsdorfer Sätze als eine gute Grundlage für weitere Gespräche zwischen Landeskirchen und Lehrerverbänden und forderte die Kirchen auf, im Sinn dieser Gespräche auf der Gestaltung der künftigen Schulgesetze zu bestehen." (Die Neue Schule 2, 1950 Heft 12, S.9). Satz 1 der ,Rengsdorfer Sätze`: "Jede evangelische Unterweisung (Religionsunterricht) ist der Sache nach gebunden an das biblische Evangelium". Satz 2: "Sie kann nur erteilt werden von Lehrern, die selber Ja sagen zum Evangelium, also dienend und nicht nach persönlicher Willkür". Satz 7: "Die(se) kirchliche Bevollmächtigung begründet kein Vorgesetzten- oder Aufsichtsverhältnis und legt nicht auf eine bestimmte Lehrmeinung fest. Der Lehrer ist als Glied der Gemeinde ebenbürtiger Partner im Lehrdienst. Die Arbeitsgemeinschaften von Pfarrern und Lehrern leisten im gemeinsamen Bemühen um ihre theologische und katechetische Erkenntnis Förderung im gegenseitigen Austausch." Im Text zitiert ist Satz 10.

[9] S. a. Freies Christentum 3, Nr. 7, Juli 1951, S.6

[10] Die am 18. Juli 1950 durch Volksabstimmung mit 3,6 Mio gegen 2,2 Mio Stimmen in Kraft gesetzte nordrhein-westfälische Landesverfassung - der parlamentarische Vorschlag von CDU und Zentrum - bestimmte in Artikel 14: "Für die religiöse Unterweisung bedarf der Lehrer der Bevollmächtigung durch die Kirche oder der Religionsgemeinschaft. Kein Lehrer darf gezwungen werden, Religionsunterricht zu erteilen."

[11] So ein im kirchlichen Auftrag erstellter Lehrplan für die Grundschulen (Volksschulen). Wenn mit der Anweisung gemeint sein sollte, daß nicht das Reden über Erziehung den Unterricht ausmachen sollte, erübrigt sie sich als pädagogische Binsenwahrheit. Also soll wohl gesagt sein, wie Schlüpmann auch meinte, daß keine pädagogische Absichten mit der Lehre zu verbinden seien. Über ,Pädagogik` ließe sich streiten, aber jede Lehre bedarf immerhin der Vermittlung im realen Umfeld.

[12] Edgar Boué, geb. 1898, als Pfarrer in Oberkassel 1934 Mitglied der Bruderschaft

[12a] Paul Schlüpmann, "Der evangelische Religionsunterricht der Schule und die Pädagogik", Schule und Kirche. Mitteilungsblatt der evangelischen Religionslehrer in der GEW, Nr.5, Dezember 1952

[13] Zu heutigen Glaubensbekenntnissen vgl. die Sammlung von Gerhard Ruhbach, Glaubensbekenntnisse für unsere Zeit, Gütersloh, Mohn, 1985 (dort u.a. auch die ,Barmer Erklärung` 1934); Wissenschaftlich zu den alten Bekenntnisformeln vgl. John Norman Davidson Kelly, Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie, Göttingen 1972 (Early Christian Creeds. 3te London, Longmans, 1972)

[14] Georg Wünsch streifte in anderem Zusammenhang in einem Brief vom 12. September 1953 kurz das vermeintliche Anliegen Schlüpmanns: "Ihre Meinung geht dahin, daß man sich heute aus intellektueller Ehrlichkeit vom historischen Lehrgut des Glaubens losmachen müsse. Das ist eine lediglich negative Maßnahme. Aber was soll nun positiv geschehen? Bisher war das Ergebnis einer derartigen Haltung gerade das, was so viele echte Christen vom Freien Christentum abgestoßen hat: Oberflächlichkeit, Verschwommenheit und Subjektivismus. Tatsächlich stehen wir aber in einer Tradition, aber es ist die Tradition der Sache und nicht die des Ausdrucks, und da kann nur helfen, was ich vorgeschlagen habe: Interpretation..." Das Anliegen Schlüpmanns war nicht das ,Losmachen` vom historischen Lehrgut, sondern eher die Aufgabe, im historischen Lehrgut die ,Spreu vom Weizen` zu scheiden, vermutlich mit gehöriger Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der ,Interpretation`.

[15] Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, München 1948, 4. Vorlesung: Philosophie und Religion

[15a] Paul Schlüpmann, "Von den Worten Jesu und der Legitimation einer evangelischen Religionspädagogik". Schule und Kirche. Mitteilungsblatt der evangelischen Religionslehrer in der GEW Nr1, Februar 1954, S.1

[16] Heinrich Weinel, Die Gleichnisse Jesu, 4te Aufl. Leipzig, Teubner, 1918, S. 75

[17] Rudolf Bultmann, Jesus, Berlin, Deutsche Bibliothek, 1926, S.70

[18] Bultmann fuhr fort (S.71):"Aber die Bindung an eine rein formale Autorität, der blinder Gehorsam zu leisten ist, erfährt nun bei ihm eine Ablehnung, die über alles hinausgeht, was uns von gelegentlicher rabbinischer Kritik bekannt ist." Ist der Gehorsam gegenüber einem ,(Leistungs-)gerechten König` denn tatsächlich ,blinder` als der gegenüber einem ,gütigen Hausvater`?