Unruhe im Kuratorium.

Fritz Stenger wäre 1927 mit allen Ehren in den Ruhestand gegangen, wäre es ihm nicht eingefallen, das Schuljubiläum zum 25-jährigen Bestehen und dazu eine schmale Festschrift - die erste der Schule - noch einmal besonders 'schwarz-weiß-rot' zu gestalten ("Eine schwarzweißrote Jubiläumsfeier in Betzdorf" titelte die Rheinische Zeitung vom 29. Juli 1926)[1]. Er sah sich in seinen Ansichten doppelt gestärkt, nachdem die Reichstagswahlen im Dezember 1924 der DNVP im Kreis 24 % bescheert hatten und Hindenburg sich gegen den Zentrumskandidaten Marx durchgesetzt hatte, der im hiesigen Kreis der Sieger geblieben war.[2]

Doch seit der Kreistagswahl Ende Dezember 1925 saß unter den Abgeordneten im Kreistag, jung und mutig, der Lehrer Jakob Daum aus Biersdorf als erster und einziger Vertreter der DDP. Daum wurde am 26.3.26 in das Kuratorium der Schule gewählt und so konnte eine politische Spekulation entstehen, die sich beim gewagten Versuch, sie umzusetzen, prompt anders entwickelte, als geplant. Dinkelacker beteiligte sich beratend und unterstützend. Sehr zu seinem persönlichen Nachteil, wie sich zeigen sollte, von einer letztendlichen (1933) Enttäuschung über den Parteifreund ganz abgesehen. Augenscheinlich hatte Daum, wenn auch nur vorübergehend, das ziemlich verrückte Ziel, Dinkelacker zum Nachfolger Stengers zu machen. Und was wäre mit dem Kollegium passiert? Wie hätte die Schulbehörde reagiert? Daum hatte nur die Kräfteverhältnisse im Kuratorium im Auge und selbst da hätte er sich total verkalkuliert. Die Vorstellung geriet aus dem Blickfeld, bevor sie jemand überhaupt zur Kenntnis nehmen konnte.

Noch vor der Jubiläumsfeier vom 29 Juli hatte sich Daum in einer Kuratoriumssitzung am 22. Juni mit dem Direktor angelegt (ihn damit provoziert, daß er anregte, die Verfügung über politische Betätigung der Schüler im Jahresbericht abzudrucken. Stenger hatte einen "Einmischungsversuch" zurückgewiesen, der nach dem Schulstatut wohl rechtens war). Daum hatte dann nach der Schulfeier (und nach einer Anfrage der SPD-Fraktion im Kreistag) am 11. August im Kuratorium den Antrag gestellt, Stenger mit einer Reihe von Fragen zu seiner Amtsführung zu konfrontieren und in vier Punkten zu beschließen, daß künftig die Verfassungsfeiern öffentlich sein sollten; daß das Kuratorium von Vorgängen, die eventuell Gelegenheit zu politischer Ausbeutung geben könnten, zu unterrichten sei; daß das Kollegium bei der Abfassung der Jahresberichte hinzuzuziehen sei; daß die (vorgeschriebene) staatsbürgerliche Arbeitsgemeinschaft (die Stenger leitete, und an der sich 1925 45 Schüler beteiligt hatten - weit mehr als an anderen Arbeitsgemeinschaften) einem Leiter mit positiver Einstellung zum neuen Staat anzuvertrauen sei.

Daum schrieb unter dem 1. Oktober 1926 an Theodor Bohner, den Magdeburger Studiendirektor und Preußischen Landtagsabgeordneten, an den sich Dinkelacker seinerzeit gewandt hatte:

"Als demokratischer Abgeordneter im Kreistage Altenkirchen gestatte ich mir, Ihnen einiges Material zu unterbreiten ... Unglaubliche Vorgänge bei der Jubiläumsfeier (25jähriges Bestehen), sowie der Inhalt der Festschrift und der beiden letzten Jahresberichte veranlaßten mich zu einer Aktion. Auf meinen Antrag hin kam die Sache auf die Tagesordnung der letzten Sitzung (des Kuratoriums KS) und ich machte dabei ungefähr die schriftlich beigelegten Ausführungen. Der Direktor erklärte sich bereit, mit mir persönlich zu verhandeln, ehe im Kuratorium über die Angelegenheit endgültig beschlossen werden soll. Aus taktischen Gründen möchte ich jetzt den derzeitigen Direktor nicht zum Märtyrer der Reaktion machen. Er muß in naher Zukunft gehen und mein jetziges Unternehmen soll nur eine Einschüchterung der sich hier breit machenden Reaktion, sowie ein Vorzeichen für die dann zu unternehmenden Schritte sein, um unter allen Umständen einen republikanischen und wenn möglich demokratischen Studiendirektor der Anstalt zu sichern. Da wir dem Zentrum dafür andere Vorteile bieten können, die Mehrzahl der Schüler protestantisch ist und das Zentrum allein nicht die Mehrheit im Kreistage hat, kommen wir hoffentlich zum Ziele. Es wird dann unbedingt erforderlich sein, daß wir an höherer Stelle entsprechende Hilfe finden. Ich sende Ihnen heute einen Abdruck der Festschrift, damit Sie sich selber über die ganz merkwürdigen Verhältnisse, die hier herrschen, ein Bild machen können."

Am 5. Oktober traf sich Daum mit Fritz Stenger und schrieb dem Direktor am nächsten Tag, daß er die erhaltenen Antworten auf seine Fragen als unbefriedigend betrachten müsse und die gleichen Unterlagen (zu den Fragen), die er ihm gegeben habe, jetzt auch dem Vorsitzenden des Kuratoriums habe zukommen lassen, mit der Bitte um baldige Verhandlung seines Antrags vom August. Weiter schrieb er:

"will ich Ihnen auch nicht vorenthalten, daß ich neben diesem Versuche, staatbürgerlichen Notwendigkeiten auf dem Wege über das Kuratorium zu ihrem Rechte zu verhelfen, es auch als eine staatsbürgerliche Pflicht betrachtet habe, einem Parteifreunde im Preußischen Abgeordnetenhause die Jubiläumsschrift zur Kenntnisnahme und Verwertung einzureichen."

Unter dem 19. Oktober erklärte Daum Einzelheiten seines Plans in einem weiteren Schreiben an Bohner. Es sei nämlich mit einem Wechsel im Landratsamt zu rechnen:

"und gegen einen katholischen Landrat hätten wir nichts einzuwenden. Uns erscheint die Stelle des in so merkwürdiger Weise mit der Kreisverwaltung verquickten Direktors des Gymnasiums in Betzdorf - der Landrat ist Vorsitzender des Kuratoriums - wichtiger als die Besetzung des Landratspostens mit einem Protestanten, der vielleicht ziemlich rechts stehen könnte. Das Zentrum müßte zu dem einiges Interesse daran haben, diese Stellenbesetzungen möglichst ohne großen Kampf durchzusetzen, das geht aber nur, wenn Zentrum, Demokraten und Sozialdemokraten im Kreistag in diesen beiden Fragen Hand in Hand arbeiten... Abgemacht ist mit dem Zentrum noch nichts. Aber die Sozialdemokraten würden es mit großer Freunde begrüßen, wenn Herr Dr. Dinkelacker Direktor des Gymnasiums werden würde. Natürlich würden wir die Sache nicht parteipolitisch aufziehen. Ich habe mit Herrn Dr. Dinkelacker darüber bereits vertraulich Rücksprache genommen. Wenn er sich auch zunächst dagegen wehrte, so habe ich doch die Überzeugung, daß er im Interesse der demokratischen Sache die Ernennung zum Direktor nicht ablehnen würde. Allerdings werde ich seinem Wunsche entsprechend bei den Verhandlungen mit dem Zentrum, die vorläufig noch etwas Zeit haben, zunächst keinen Namen nennen... Nun möchte ich gerne Ihre Meinung hierüber hören, vor allem, in wieweit sie uns an den maßgebenden Stellen unterstützen könnten."[3]

Der Landrat sollte jedoch nicht wechseln, Daums parteipolitischer Kalkül wurde hinfällig. Im nächsten Schritt folgte das Kuratorium seinem Antrag und forderte den Direktor auf, zu Daums brieflicher Darstellung von der gehabten Unterredung und zu seinen schriftlichen Fragen Stellung zu nehmen. Fritz Stenger war in einer Antwort (die 8 engstens getippte Seiten umfaßte) vom 31. Oktober nicht zimperlich. Zu den Vorwürfen Daums in dem Gespräch schrieb er:

"In allen ihren Einzelheiten wie in ihrer Gesamtheit bedeuten sie einen Versuch einer ungeheuerlichen, durch nichts gerechtfertigten Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Schule. Wäre dies nach §18 des Statuts begründet, so wären Direktor und Lehrerkollegium ja in allen Einzelheiten ihres Dienstes der Kontrolle des Kuratoriums unterworfen... Auf die Fragen des Herrn Lehrers Daum überhaupt wie im Einzelnen einzugehen, halte ich mich deshalb in keiner Weise für verpflichtet... Zu dem ganzen Vorgehen des Herrn Lehrers Daum möchte ich dabei noch Folgendes bemerken: Das Ganze ist eine politische Aktion, ein Vorstoss von demokratischer Seite gegen den nicht demokratischen Direktor des Realgymnasiums. Es handelt sich hier letzten Endes nicht um pädagogische, sondern um politische Forderungen. Die Politik wird in die Schule hineingetragen."[4]

Auf den letzten Satz kam es an. Niemand im Kuratorium konnte daran zweifeln, daß Daum eine politische Aktion betrieb. Doch auch wenn es sich 'letzten Endes' um politische Forderungen handelte, pädagogische standen zur Debatte und im weiteren Sinn 'politisch' waren (und sind) pädagogische Vorstellungen ja wohl auch. Stenger konnte allenfalls mit dem Wort spielen und sich auf einen populären Begriff von 'Politik' berufen, der in erster Linie eine Inszenierung von 'gewissenlosen' Machenschaften bezeichnete. Er führte weiter aus:

"Wenn er dann in aller Bescheidenheit sich zum Richter über meine Amtsführung aufwirft und zu der Behauptung sich versteigt, die 25-Jahrfeier habe ihm gezeigt, daß mein ganzes Verhalten - gemeint ist also meine ganze Amtsführung nicht durch erzieherische, sondern durch politische Rücksichten bestimmt werde, so wird für diesen Vorwurf auch nicht der Schatten eines Beweises erbracht... Es ist also eine Unterstellung, zu behaupten, die Schulfeier habe berechtigte Gelegenheit zu politischer Kritik gegeben und das Kuratorium habe bei ihrer Vorbereitung es an der nötigen Sorgfalt fehlen lassen. Wie haltlos der dem Herrn Landrat hiermit gemachte Vorwurf ist, wissen ja die Herren Mitglieder des Kuratoriums, die bei der Besprechung über die geplante Feier anwesend waren, selber. Besonders unerhört ist die Forderung, daß die Reden (Der Inhalt oder wohl gar der Wortlaut?) vorher hätten festgelegt werden müssen. Wo ist in all den Reden irgend etwas gesagt worden, was als eine Entgleisung mit Recht bezeichnet werden müßte?"[5]

Ja, was wurde gesagt? Einiges läßt sich im Jahresbericht der Schule nachlesen. Die Feier begann am Vorabend mit Fackelzug und Kranzniederlegung. August Wolf, der nach seinen Assessorjahren in Betzdorf gerade seine erste Stelle in Duisburg angetreten hatte, kam und hielt die Rede:

"In unermüdlicher Erziehungsarbeit hatte die höhere Schule in jungen Knabenseelen deutsches Volk, deutsche Art, deutsches Heldentum, deutsche Seelengröße, das deutsche Vaterland mit seiner ruhmvollen Vergangenheit zum Erlebnis gemacht... Das dulce et dedorum est pro patriam mori, dh. die Anschauung, daß der Tod fürs Vaterland süß ist und eine hohe Ehre, das sog ein jeder auf der Schulbank wie lebensnotwendigen Atem in sich hinein. Herrlich schön erschien dieser Jugend so das Los, für Deutschlands Ehre, für die Liebe zur Heimat kämpfend fallen zu dürfen... Ja für uns, für das überlebende deutsche Volk haben sie ihr Opfer gebracht, weil sie glaubten, daß dieses Volk durch die große Not nun endlich zu einer Schicksalsgemeinschaft, einer Volksgemeinschaft zusammengeschweißt sei, die dem Vaterlande den sicheren Sieg und den gerechten Frieden verbürgen werde... Schlicht und einfach, aber tief aus dem Herzen heraus, wollen wir also alle ... den heiligen Schwur erneuern, dessen Befolgung uns jene unsere lieben Toten so ruhmvoll vorgelebt haben; Vaterland, dir bin ich ergeben mit Herz und mit Hand!"[6]

Am darauffolgenden Abend schloß Fritz Stenger die Feier mit einer Ansprache, die Franz Wagner im Jahresbericht 1926 zusammenfassend wiedergab:

"Schwer und ernst sei die Zeit, das gewaltige Erleben des Weltkrieges liegt hinter uns. Ein herrliches Wiederaufleben deutscher Tapferkeit, wie sie die Welt vielleicht noch nicht gesehen, habe der Krieg gebracht... Die Seele des deutschen Volkes sei krank. Die älteren ehemaligen Schüler hatten die Ehre, dem Heere während des Krieges anzugehören ... Sie haben ihre Kameraden für Deutschland bluten und sterben sehen. Viel zu wenig wird erkannt, was das Vaterland ihnen allen und besonders denen zu danken hat, die die Treue mit dem Tode besiegeln. Soll das alles vergeblich gewesen sein?"[7]

Man mußte kein Pazifist sein, um in solchen Reden einen fragwürdigen Patriotismus zu erkennen. Soll das alles vergeblich gewesen sein? Fast scheint es, als riefe die sicher manchen quälende Frage noch fast ein Schülerleben nach Kriegsende einen morbiden Heldenkult hervor, nur um die Antwort Nein! vorwegzunehmen oder ein noch so moderates Ja! ( - vielleicht nicht alles, aber...!) zu unterdrücken. Im Verbund mit dem verabsolutierten Heldenkult war es möglich, den eigenen Patriotismus nicht als politisch zu verstehen ("Ich kenne keine Parteien ... " hatte der Hohenzoller 1914 erklärt). Über Politik war in der Tat dann kaum noch zu streiten. Ein ehemaliger Schüler der ersten Betzdorfer Oberschulklasse, Regierungsrat Eintz, beschwor den Geist der Schule und schloß:

"Kommen mag, was kommen soll! Wir wollen stets bereit sein, unsern Lehrern unser Lehrgeld heimzuzahlen. Die Zeit soll uns finden, wie unsere Lehrer es wollten, als pflichttreue, wahrhaftige, furchtlose, opferbereite, gerade, ganze, deutsche Männer. Deutsche des Worts und Männer der Tat."[8]

So wenig die Reden zur 25-Jahrfeier in Stengers Augen mit Politik zu tun hatten, so wenig hatte auch seine Einstellung zu Daums 'Hintermann' (Stengers Bezeichnung) damit zu tun:

"Ein Ordinariat hat Herr Studienrat Dr. Dinkelacker in den letzten Jahren nicht mehr erhalten, weil seine aufgeregte und unbeherrschte Persönlichkeit ihn dazu nicht geeignet erscheinen ließ und insbesondere auch noch deshalb, weil er bei seinem letzten Ordinariat als Klassenleiter der Oberprima seine Stellung so sehr verkannte, daß er mit großer Zähigkeit für durchaus ungerechtfertigte Wünsche seiner Schüler eintrat... Daher habe ich seitdem Bedenken, einem Herrn, der seine Ordinariatspflichten derartig verkannt hat, von neuem eine Klassenleitung zu übertragen."[9]

Zur Frage Daums, wie es käme, daß Inschriften auf den Toilettenwänden nicht wenigstens stillschweigend beseitigt würden, es sei doch "so merkwürdig, daß alles sich nur auf einen einzigen Herrn bezieht[10]", meinte der Direktor, das sei ja nun die Höhe, solche Eindeutigkeit ihm anzulasten:

"Die richtige Erklärung dafür ist doch wohl nicht schwer zu finden"[11]

Fritz Stenger war wirklich nicht zimperlich. Und sich offenbar seiner Durchsetzungsfähigkeit sehr sicher. Mußte denn nicht der Verdacht aufkommen, daß mit im Spiel war, was heute mit 'mobbing' bezeichnet wird? Im restlichen Schreiben erörterte er noch einmal seine 'unpolitische' Einstellung, verteidigte den Abdruck von Reden aus der Kaiserzeit in der Festschrift und würdigte den Hintermann 'endgültig':

"Wenn aber Parteipolitik in die Schule hineingetragen wird, so geschieht es wahrlich nicht von mir, denn ich weiß, wie sehr unser Vaterland, und zwar nicht erst seit der Revolution, wenn auch seitdem noch ganz besonders, unter der gegenseitigen Befehdung der Parteien und ihrer Machtgelüste leidet und wie sehr freilich eine nicht von dieser oder jener Partei gewünschte Volksgemeinschaft, sondern eine solche uns nottut, wie es 1914 war, die angesichts unserer Notlage die innern Gegensätze überwindet und nach außen hin unsern vielen Feinden den zur Selbstbehauptung entschlossenen Willen eines einigen Volkes zeigt..."[12]"Nach dem bekannten Ranke'schen Wort hat der Geschichtsschreiber - und das gilt auch für den schlichten Chronisten - lediglich die Aufgabe "zu zeigen, wie es gewesen ist". Daher bin ich auch nicht der Meinung, daß das republikanische Deutschland nunmehr die Pflicht oder auch nur das Recht habe, das was Zeiten und Männer früherer Zeit - und seien es auch die Hohenzollern - geleistet haben, der Jugend zu verschweigen oder tendenziös zu entstellen. Zur Ehrfurcht vor der großen Vergangenheit unsres Volkes u. seiner großen Männer die Jugend zu erziehen, ist vielmehr auch heute noch Aufgabe der Schule u. heute vielleicht ganz besonders, angesichts der vielfach beobachteten Pietätlosigkeit in manchen Kreisen unserer Jugend..."[13]"Herrn Dr. Dinkelackers ganzes Bestreben geht dahin, in unserer Schule nur seinen Willen maßgebend sein zu lassen, seine Anschauungen durchzusetzen... Er sieht in sich immer nur den Märtyrer, der für seine vermeintlichen idealen Bestrebungen kein Verständnis findet. Sein ganzes Verhalten macht mir den Eindruck des pathologischen und Krankhaften u. scheint mir mindestens mit dem verwandt zu sein, was man als Querulantentum zu bezeichnen pflegt."[14]

Oh je, was tat sich der Schreiber mit diesen letzten Sätzen über seinen unliebsamen Widersacher selber an? Das Kuratorium bildeten damals ex officio der Landrat Boden und er selbst und als gewählte Mitglieder außer Daum die Herren Pfarrer Heckenroth/Altenkirchen, Studienrat Lake, die Bürgermeister Lorsbach/Gebardshain und Stein/Wissen, Rektor Rausch/Herdorf, Fabrikant Sohn/Betzdorf, und der Arzt Dr. Wurm/Betzdorf. Stengers Schreiben richtete sich ausschließlich an diesen Kreis. Er erwähnte aber, daß er zwei, nach seiner Ansicht falsch gestellte, Fragen[15] beantwortet habe wie auch in seiner Reaktion auf eine Beschwerde, die Daum an einen Abgeordneten gesandt habe, "d.h. dann natürlich durch diesen an den Herrn Minister".

Daum schrieb unter dem 6. November an den Landrat mit der Bitte um schnelle Einberufung des Kuratoriums zur Beratung über Stengers Antwort und, Dinkelacker betreffend, über die Aberkennung des Rechts, Klassenlehrer zu sein, "die nach meiner Auffassung innerhalb des Schullebens etwas Ähnliches bedeutet wie die Absprechung der bürgerlichen Ehrenrechte im staatlichen Leben"[16] Auf einen Durchschlag für Dinkelacker schrieb er:

"Nach Abgang! Lieber Herr Doktor! Vorstehendes zur Kenntnis. Die Sache dauert mir doch etwas zu lang, ich kann sie nicht länger ruhen lassen. Ich hoffe, daß Sie mit meinem Schritte, von dem ich auch Herrn Dr. Bohner Kenntnis gab, einverstanden sein werden..."

Die Zeilen widerlegen die Rede und den Eindruck vom 'Hintermann'. Im übrigen sei daran erinnert, daß Anna Hartmann gerade (am 9.11.) gestorben war und Dinkelackers in diesen Tagen andere Dinge im Kopf hatten.

Unter dem 19. November, nachdem öffentlich geworden war, daß gegen Stenger eine Voruntersuchung in Gang kam (s.u.), und Daum als Zeuge gehört werden würde, ging er zum 'Angriff' über, schrieb eine ausführliche Stellungnahme zu Stengers Antwort in Form einer Beschwerde an das Ministerium, an die Schulbehörde und an das Kuratorium und ersuchte um gründliche Aufkärung über Stengers Vorgehen, die staatsbürgerliche Erziehung[17] an der Schule betreffend. Er schloß mit der Bitte um Genugtuung für Dinkelacker und sich selbst, und mit der Bitte, die Folgerungen aus der Untersuchung auch gradlinig umzusetzen. Er wehrte sich gegen Stengers Versuch, ihm andere unfreundliche Vorgänge, als die im Kuratorium, in die Schuhe zu schieben:

"Und daß ich die Festschrift lange nach der Jubiläumsfeier einem Abgeordneten einsandte, ist mein gutes Recht und hätte auf keinen Fall nachteilig für Herrn Direktor Stenger sein können, wenn die Festschrift einwandfrei oder sogar musterhaft gewesen wäre. Jedenfalls habe ich bei der Einsendung der Festschrift nicht gebeten oder auch nur angeregt, über ihren Inhalt beim Herrn Minister Beschwerde zu erheben, daß es aber doch geschah, trotz meiner ausdrücklichen gegenteiligen Stellungnahme, nachdem lange vorher schon beim Provinzialschulkollegium von anderer Seite Beschwerde eingereicht worden war, ist ein deutliches Zeichen dafür, daß auch noch andere Leute als der kleine und unbedeutende und erfahrungslose junge Volksschullehrer diese Gegensätze als über die Grenzen jedes Zulässigen hinausgehend empfanden, und diese Stellen werden auch wohl ihre Verantwortung zu tragen wissen. Schritte außerhalb des Kuratoriums habe ich jedenfalls bis jetzt zu dieser Beschwerde hin nicht unternommen... Ohne sein "freundliches" Verhalten bei der Kuratoriumssitzung vom 22.Juni wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, die Festschrift an einen Abgeordneten zu senden, der dann von sich aus, ohne mein Wissen, besondere Schritte unternahm... Allerdings wäre im weiteren Verlauf der Entwicklung auch für mich , wie sich gezeigt hat, der Zwang zum Handeln gegeben gewesen, nachdem die vermittelnde Haltung ohne jeden Erfolg geblieben ist. Jetzt mögen die zuständigen Stellen entscheiden."

Zwei Tage später, unter dem 21., schickte Daum noch eine "Besondere Erklärung" nach, in der er nach der "rein menschlichen Seite" ergänzt, daß er Stenger, obwohl das manchmal schwer fiele, zugestehe, daß er "stets in seiner Weise das Beste erstrebt" habe. In diesem Sinn schrieb er:

"Es würde nun nach meiner Meinung, die ich hier darlegen zu dürfen bitte, vielleicht kein moralischer Gewinn für den neuen Staat sein, wenn das eingeleitete Verfahren nicht nur in angemessener Weise die Verhältnisse, auf die er sich nicht mehr einzustellen vermag, seelisch schwer getroffenen alten und ersten Direktor des Gymnasiums, der in Kürze die Altersgrenze erreicht, in seiner schon durch die Schularbeit im alten Staate verdienten wirtschaftlichen Sicherstellung beeinträchtige."


[1]Auffiel die Auswahl der Redner und der entsprechend ausgefallenen Ansprachen, auffielen in der Festschrift die Chronik mit ausführlichen Zitaten aus Reden der Kaiserzeit, aus einer Rede zur Einweihung des Kriegerdenkmals der Schule 1924, die deutlich monarchistische Orientierung des Verfassers. Dem heutigen Leser mag auch ein Totenkult ins Auge springen, als eine schlechte Ewigkeitsbeschwörung, die durch die Geschichte, auch die Schulgeschichte geisterte und sich nie ganz verlor.

[2]Der Kandidat der DDP im ersten Durchgang war der Psychologe Willy Hellpach, für den sich auch eine überparteiliche Liste von Frauen einsetzte, auf der unter anderen bekannten Persönlichkeiten Helene Lange, Elisabeth Lüders, Alice Salomon standen.

[3]Durchschlag

[4]Abschrift, S.1

[5]Ebenda S.2

[6]Jahresbericht über das Realgymnasium des Kreises Altenkirchen zu Betzdorf a.d. Sieg für das Schuljahr 1926-27, erstattet von dem stellvertretenden Direktor, Betzdorf, 1927, S.4/5

[7] Ebenda, S.10/11

[8] Ebenda, S.10

[9]Schreiben Stengers an das Kuratorium vom 30.10 1926, Abschrift, S.3

[10]Entwurf Jakob Daums "Für die Vertretung meines Antrags im Kuratorium" vermutlich vom August 1926, Durchschlag

[11]Schreiben vom 30.10., a.a.O., S.3

[12]Ebenda, S.4

[13]S.5

[14]S.8

[15]Warum Sedansfeier, aber keine zur Auefnahme in den Völkerbund? Warum noch immer Kaisers Geburtstag, aber die Verfassungsfeier kaum der Rede wert?

[16]Schreiben Daum an Boden 6.11.26, Durchschlag

[17]Diesbezügliche Richtlinien enthielten ministerieller Erlasse vom 30. Dezember 1921, vom 4. August 1922, vom 23 Dezember 1922.

* * *

 

Desinformation und Aufruhr in der Schulgemeinde

Das Provinzialschulkollegium hatte (am 9. , mit Nachricht an Stenger am 15.) bereits entschieden. Einen Tag zuvor, am 18. November, war in der Betzdorfer Zeitung unter dem Titel "Eine Denunziation" eine längere Notiz erschienen, (Verfasser B., vermutlich Redakteur Böckelmann):

"Gegen Studiendirektor Stenger zu Betzdorf hat der Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ein Disziplinarverfahren eingeleitet, weil er angeblich gegen die Republik gerichtete Bestrebungen gefördert habe..."

Die Zeitung ließ an Sympathie für Fritz Stenger und Antipathie für seine Gegner nichts zu wünschen übrig. Sie polarisierte nach Kräften. Die Nachricht werde nicht verfehlen, großes Aufsehen zu erregen und:

"hellodernder Entrüstung über die feige Hinterhältigkeit, mit der man uns den Mann zu nehmen trachtet ... man sieht, daß andauernde Minierarbeit doch etwas fertig bringt. Und wie ist diese Minierarbeit betrieben worden! Öffentlich von den sozialdemokratischen und Reichsbannerzeitungen und geheim von demokratischer Seite durch endlose Anzeigen an Provinzial-Schulkollegium, Regierung, Minister und Abgeordnete ... Die ganze Bevölkerung wird aufstehen wie ein Mann und die Hand zum Schwur erheben, an den lassen wir nicht rühren, seiner Lauterkeit und Wahrheit wegen."

Stenger war vom Dienst suspendiert. Schüler 'seiner' Untersekunda protestierten mit Streik, dem sich Schüler der Oberklassen anschlossen. Die SB mißbilligten das Schülerverhalten. In der "Siegener" war später zu lesen, daß der Elternbeirat zwar mißbillige, aber doch mit Rücksicht auf die außerordentliche Erregung, milde beurteilt wissen möchte. In der BZ erschien eine Anzeige:

"Aufruf. / Die Oberklassen des Realgymnasiums Betzdorf nehmen mit Entrüstung Kenntnis von der erzwungenen Entlassung ihres verehrten Lehrers / Herrn Direktor Stenger. / Sie weisen alle ehemaligen Schüler und alle Freunde der Anstalt auf das ihrem langjährigen Direktor angetane Unrecht hin und bitten sie, sie in den Bestrebungen zu unterstützen, daß die ihren veehrten alten Lehrer schwer kränkende vorläufige Entlassung zurückgenommen wird. / Die Oberklassen des Realgymnasiums."

Am 19. berichtete die BZ von einer "Vertrauenskundgebung für Direktor Stenger":

Ein Treugelöbnis brachten gestern abend die Schüler des Realgymnasiums, vor allen aber die der Oberklassen, die zum Protest gegen die Amtserhebung des Direktors Stenger gestern vormittag 11 Uhr die Schule verlassen hatten, ihrem verdienstvollen, hochgeschätzten Erzieher dar. Mit Fackeln zogen sie vom Deutschen Eck aus in den Park des Gymnasiums. Ein großer Teil der Bürgerschaft, der nicht nur ein Kopfschütteln, sondern entrüstete Worte über das Vorgehen gegen diesen vorbildlichen deutschen Mann hatte, schloß sich dem Zuge an. Als Direktor Stenger vor die große Schar trat, klang ihm das begeistert gesungene Lied entgegen: "Ich hab mich ergeben""

Fritz Stenger darauf hin:

"Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt. Das deutsche Vaterland und alle seine großen Männer des Rats und der Tat, von Arminius bis zum Alten Fritz, von Bismarck bis zu Hindenburg, Hoch, Hoch, Hoch."

Und die BZ:

"Begeistert sangen die Schüler und die übrigen Teilnehmer das Deutschlandlied. Direktor Stenger teilte dann noch mit, daß eine unparteiische Untersuchung die Haltlosigkeit der ihm unterschobenen Vergehen klarstellen würde und daß er sich dann auf ein gemeinsames Zusammenarbeiten wieder freue."

Der ausufernde Zorn richtete sich alsbald gegen Alfred Dinkelacker. Nachdem am 19. der Elternbeirat im Beisein des Oberschulrats Jungbluth getagt hatte, nahmen am nächsten Tag 335 Eltern an einer Elternversammlung teil, die von Amtsgerichtsrat Schlüter/Kirchen, dem Vorsitzenden des Elternbeirats und Freund Stengers, einberufen wurde[1]. Einstimmig wurde eine Entschließung verabschiedet, die die BZ in der hier folgenden Form abdruckte, während die Siegener Zeitung ihren Lesern den Namen Dinkelackers nicht vorenthielt:

"... Direktor Stenger genießt die höchste Verehrung, Achtung und Liebe der Schüler, der Eltern und der gesamten Bevölkerung. Die von ihm als Schulleiter und Lehrer verfolgten pädagogischen Ziele entsprechen völlig den Wünschen der Eltern. Wir Eltern erblicken in der vorläufigen Beurlaubung vom Amte einen übereilten und durch nichts gerechtfertigten Schritt und verlangen unbeschadet des Fortgangs des Disziplinarverfahrens die sofortige Zurücknahme dieser Maßnahme. Nur dadurch können bei der ungeheuren Erregung unter den Eltern und Schülern weitere Erschütterungen des Schullebens vermieden und schwere, mit der Schuldisziplin und den Schulgesetzen nicht vereinbare Folgen abgewendet werden. / In der Öffentlichkeit gilt der an der Anstalt beschäftigte Studienrat ... als derjenige, welcher durch seine fortgesetzten Anfeindungen gegen Direktor Stenger die strenge Maßregel letztenendes verschuldet hat. Diese Überzeugung hat sich bezeichnender Weise auch unter den gesamten Schülern festgesetzt, so daß uns Eltern ein weiteres Verbleiben des Herrn ... an unserer Schule aus Gründen der Schulzucht unmöglich erscheint."[2]

Die "Siegener" vom 22. berichtete aus den einleitenden Erläuterungen Schlüters, daß der Oberschulrat Jungbluth leider aus dienstlichen Gründen an der Versammlung nicht hätte teilnehmen können:

"Wir (der Elternbeirat? die Zeitung? KS) haben dies lebhaft bedauert, der Herr Schulrat würde dann zu der Ansicht gekommen sein, daß die Herrn Direktor Stenger gemachten Vorwürfe der "planmäßigen Propaganda gegen die republikanische Staatsform" und daß er bei der Bevölkerung und den Eltern "kein Vertrauen mehr genieße", gemeine Lügen eines hinterhältigen Denunzianten sind. In der sich anschließenden Besprechung kam dann auch diese Ansicht in unverblümter teilweise volkstümlicher Art zum Ausdruck. Rechtsanwalt Schneider, Betzdorf, bezeichnete das Vorgehen des Ministers als unerhört ... Herr Stenger hat den Eid auf die Verfassung allzeit gewissenhaft beobachtet ... Den einen Fehler nur habe er, "er sei zu anständig" ... Dieser Herr (Dinkelacker KS) habe das meiste Material zu der Anklage herbeigetragen. Wenn dann der "Lautsprecher aus Biersdorf" das Faß zum Überlaufen gebracht habe, so könne er nur den Vorschlag machen, Herrn Dr. Dinkelacker zu entfernen, da ein gedeihlicher Schulbetrieb mit diesem Herrn unmöglich sei ... Als ehemaliger Schüler sprach Herr Dr. Hassel (Abiturient 1915, Zahnarzt Wissen, 1946-1950 Kuratoriumsmitglied) ebenfalls Direktor Stenger in warmen Worten sein Vertrauen aus..."

Am 18. war Dinkelacker von dem Kollegen Wagner vor dem Unterrichtsbeginn eine Vorladung als Zeuge für den 20. morgens halb neun "auf Anordnung des Untersuchungskommissars Herrn Oberregierungsrats Dr. Zimmermann" übergeben worden. Dinkelacker verfaßte eine 'Erklärung', die er Fritz Stenger über Wagner zukommen lassen wollte. Stenger verweigerte die Annahme. Dinkelacker verlaß seine Erklärung unter Eid bei der ersten Zeugenvernehmung der Voruntersuchung:

"Hiermit erkläre ich, dass ich das gegen Herrn Studiendirektor Stenger eingeleitete Disziplinarverfahren nicht gewollt habe, dass es vielmehr meinem Empfinden durchaus widerstreitet. / Auch ich bin, ebenso wie die anderen Herren des Lehrerkollegiums, fest davon überzeugt, dass Reden und Handeln von Herrn Direktor Stenger stets idealen Motiven entsprungen sind. / Aber ich kann auch nicht verschweigen, dass vieles von dem, was er aus diesen Motiven heraus im Schulleben durchzusetzen, bezw. zu erhalten oder zu verhindern suchte, für die heutigen Verhältnisse einfach nicht mehr tragbar war. / Wenn ich auch eine entschiedene Abstellung der meiner Ansicht nach zweifellos vorhandenen Mißstände erwarten muss, so würde ich es andererseits doch sehr bedauern, wenn aus dem eingeleiteten Verfahren eine den Herrn Direktor schädigende Verurteilung sich ergeben sollte."

In einer weiteren Erklärung unter Eid (zu Stengers Weigerung, ihm eine Klasse anzuvertrauen) sagte er dann noch:

"Wenn man bei solchen Erfahrungen, wie ich sie während meiner hiesigen Amtstätigkeit immer wieder gemacht habe, ab und zu einmal die Nerven verliert, so ist das Temperamentssache. Herr Direktor selbst wird wissen, dass er mir darin keinesfalls nachsteht."

Nicht jeder war bereit, anzuerkennen, daß Dinkelacker - im Bewußtsein dessen, was er ständig von dem Vorgesetzten gefordert hatte? - den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht aus den Augen verlor. Seine Lage und die seiner Familie waren eher bedrückend, zumal seine älteste Tochter gerade von der 'Töchterschule' zum Gymnasium gewechselt hatte[3]. Andererseits gab es sowohl seitens mancher Eltern[4], wie auch der Schüler, Sympathiebezeugungen[5]. Freunde und sogar gelegentlich ganz Fremde schrieben ihm[6]. Die Siegblätter druckten am 26. 11. in der Rubrik Briefkasten die Notiz:

"B.L.G.Tü.H.M.A.K.Th.F. Außer Ihren Zuschriften haben wir noch eine größere Anzahl von Mitteilungen erhalten, in denen ausnahmslos Herrn Studienrat Dr. Dinkelacker das Vertrauen ausgesprochen wird. Wir werden bei gegebener Zeit davon Gebrauch machen. Aber wir raten Ihnen, nicht in den Fehler der anderen zu verfallen und sich nur vom Gefühl hinreißen zu lassen."

Die SB hatten sich am 23. kritisch über den/die Kollegen der 'Betzdorfer Zeitung' und ihre Informanden geäußert.

"Mit dem materiellen Inhalt der Resolution wollen wir uns heute nur insofern beschäftigen, als Herr Studienrat Dinkelacker in Frage kommt. Welche Gründe die Betzdorfer Zeitung veranlassen, seinen Namen nicht zu nennen, ist uns unbekannt. Aber es muß festgestellt werden, daß die über Herrn Dr. Dinkelacker ausgestreuten Behauptungen vollkommen falsch sind. Das ist auch, wenn unsere Informationen zutreffen, aus berufenem Munde leitender Personen der Elternversammlung mitgeteilt worden. Trotzdem fährt man fort, diese Behauptungen zu kolportieren..."

Am 24. November berichtete die Siegener Zeitung:

"Wie die Betzd. Ztg hört, hat das gesamte Lehrerkollegium des Realgymnasiums, mit Ausnahme des Studienrats Dr. Dinkelacker, seinemStudiendirektor Stenger schriftlich einstimmig das Vertrauen ausgesprochen (Dr. Dinkelacker soll nach Ansicht des Elternbeirats diejenige Person sein, welche die Amtsversetzung von Studiendirektor Stenger veranlaßt hat.)"

Unter dem 27. November schrieb Daum an Dinkelacker in einem kurzen Brief, Theodor Bohner sei der Meinung, daß "Herrn Direktor Stenger nicht viel passieren" werde, "aber an eine Rückkehr ins Schulamt glaubt er nicht mehr, und das wäre der wesentliche Erfolg". Drei Tage später, am 30. November schrieb Daum an Bohner, der ihn wegen einer eventuellen Auseinandersetzung im Landtag um Auskünfte gebeten hatte:

"Auch Herr Dr. Dinkelacker, so sehr er seine von rein menschlichen Erwägungen diktierte besondere Erklärung für richtig hält, geht mit aller Klarheit und Bestimmtheit vor, weil die Haltung der Gegner einfach jede Zurückhaltung als lächerliche Schwäche erscheinen lassen würde ... Zu dem Verfahren selbst möchte ich bemerken, daß allem Anschein nach mit jeder wünschenswerten Klarheit vorgegangen wird und es der untersuchenden Behörde - P.S.K. - (Provinzialschulkollegium KS) jetzt wohl um eine klare Scheidung zu tun ist...

Am 28. November schrieb Dinkelacker an Otto Müller, einen Schüler seiner letzten Abiturienten-Klasse (1924), der in Berlin studierte. Müller hatte ihm beim Abiturientenausflug zur Freusburg erzählt, daß sein Mitschüler Helmut Siebel bei der Verteilung der Verfassung an die Klasse durch den Direktor gemeint hatte, er könne verzichten, weil er sie von früheren Schulabgängen schon doppelt habe. Da hatte Stenger mit deutlicher Anspielung auf Dinkelacker gesagt, das ginge nicht, weil man ihn sonst denunzieren würde. Dinkelacker schrieb an Müller auch, daß Stenger von ihm behauptet habe, er sei "für durchaus ungerechtfertigte Wünsche" der Schüler dieser Klasse für den Abitur-Termin eingetreten, um sich selbst damit "eine nicht unerhebliche Erleichterung" zu verschaffen und den Schülern "im Lichte eines ihnen sehr wohlwollenden und tapferen Vorkämpfers gegen die Härte des selbstherrlichen Direktors" zu erscheinen:

"Ich weiß nicht, ob ich mich täusche, wenn ich annehme, dass Sie ebenso wie die übrigen ehemaligen Klassenkameraden mich doch in einem etwas anderen Lichte sehen, als Herr Direktor Stenger tut."

Otto Müller schrieb eine Woche später (6.12.) zurück, daß es ihm zwar sehr peinlich sei, auf diese Art und Weise zwischen einstigen Klassenlehrer und Direktor gestellt zu werden, daß er aber, wenn seine Vernehmung nicht zu vermeiden sei, selbstverständlich die Wahrheit sagen würde. Es sieht so aus, als habe man auf sein Zeugnis verzichtet.

Am 29. November brachte die BZ in ihrer Rubrik "Heimatliche Nachrichten" noch einmal eine längere Polemik. Die Kölner Volkszeitung hatte eine Zuschrift "aus dem Kreise Altenkirchen" unter der Überschrift "Bedauerliche Vorgänge" publiziert, die recht genau die Vorwürfe gegen den Direktor wiedergab und dann hinzufügte: "Gegen solchen Geist wehrte sich schon lange die republikanische Öffentlichkeit von Betzdorf ohne Unterschied der Parteien." Die BZ polemisierte:

"Dabei ist (besteht? KS) die "republikanische Öffentlichkeit" nur aus den Drahtziehern des Reichsbanners. Die andere "Öffentlichkeit" weiß nichts anderes, als daß es sich um einen verdienten Schulmann handelt... Man sieht wieder, daß die Menschen, so aufrichtig, wie sie tun, nicht sind. Es kleben ihnen immer die Eierschalen an. Wir aber haben alle Ursache, dem Ausgang der Sache mit Ruhe entgegen zu sehen und dann sind wir vielleicht in der Lage, über sie zu schreiben: Bedauerliche Vorgänge."

Die DNVP ließ es mit einer kleinen Anfrage bewenden, die nicht zu einer Landtagsdebatte um den 'Fall Stenger' führte. Die Leser der BZ wurden am 2. Dezember unterrichtet:

"Im preußischen Landtag ist folgende kleine Anfrage (Bachem D.Ntl.) eingegangen: Der Studiendirektor Stenger in Betzdorf/Sieg, gegen den durch den Minister Becker ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden ist, ist, trotzdem die gegen ihn zum Teil von berufsmäßigen Denunzianten gemachten Vorwürfe, die überwiegend belanglos erscheinen, zum Teil viele Jahre zurück liegen und schon als erledigt angesehen wurden, mit sofortiger Wirkung vorläufig seines Amtes entsetzt worden. Diese Form der Maßregelung steht in schroffem Gegensatz zu der Geduld und Langmut, die der Herr Minister gegenüber einem Manne von der Art des Herrn Lessing in Hannover walten ließ. Billigt das Staatsministerium die Haltung des Herrn Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung?"

Bachem war Landtagsabgeordneter des hiesigen Wahlkreises Koblenz-Trier. Theodor Lessing (1872-1933), Journalist, Philosoph und Hochschullehrer in Hannover, hatte neuerdings, 1925 mit einer Charakterstudie Hindenburgs vor dessen Wahl gewarnt, was nach Hindenburgs Sieg 'folgerichtig' zu einer antisemitisch gefärbten Kampagne der politischen Rechten gegen ihn führte. Lessing mußte sein Lehramt an der Hochschule aufgeben (lehrte dann, physisch bedroht, nur noch an der Volkshochschule). Er floh zwar 1933 gleich ins Ausland, aber seine Verfolger ermordeten ihn am 8. August 1933 in Marienbad. In den Augen des Abgeordneten Bachem war Lessings 'Beleidigung' Hindenburgs (vor der Wahl) offenbar vergleichbar mit Stengers Mißachtung der Verfassung.

Am 14 Dezember erschien in der sozialdemokratischen Kölner "Rheinischen Zeitung" eine Notiz, teilweise fett gedruckt: "Der Kultusminister greift ein / Disziplinarverfahren gegen Studiendirektor Stenger - und die anderen?":

"Der Kultusminister teilt auf eine Kleine Anfrage im Landtag mit, daß gegen den Studiendirektor Stenger aus Betzdorf das förmliche Disziplinarverfahren eingeleitet worden ist. Stenger, dessen Hetzreden in der "Rheinischen Zeitung" mehrmals angeprangert worden sind, wird beschuldigt, sein Amt planmäßig zu Förderung von Bestrebungen gegen die Republik verletzt zu haben. Auch soll er außerhalb des Amtes die ihm als Beamten gezogene Grenze verletzt haben. - / Mit der Eröfffnung des Disziplinarverfahrens wird endlich einem ganz unhaltbaren Zustand ein Ende gemacht. Endlich greift der Minister in die Wespennester, die in gewissen Schulen im Kreise Altenkirchen zu finden sind. Stenger ist kein Einzelfall. Auch in Altenkirchen fühlen sich Rektor und Lehrer berufen, Reden zu halten, in denen die Verfassung lächerlich gemacht wird, und Schüler gegen das Reichsbanner und die Reichsfarben aufzuhetzen ... Wir verlangen, daß die Schulen im Kreise Altenkirchen endlich von gewissen monarchistischen Gehaltsempfängern gesäubert werden."

Zu dem nunmehr klaren Vorgehen, von dem Daum in seinem Brief an Bohner gesprochen hatte, zählte, daß Dinkelacker, während die Voruntersuchung lief,. unter dem 8. Dezember über das Provinzialschulkollegium eine Beschwerde an den Kultusminister einreichte, die Fritz Stengers Äußerungen über ihn in der Antwort des Direktors auf die Fragen im Kuratorium zum Gegenstand hatte, nämlich die Behauptungen, er sei als Klassenlehrer nicht geeignet und habe ungerechtfertigte Wünsche der Schüler vertreten, er habe Parteipolitik in die Schule getragen, er habe schon mal beim Minister Beschwerde erhoben und leichtfertige Behauptungen aufgestellt, er habe seine Rechte als Lehrer in "gehässiger Weise und unvornehmer Art" verfochten, er sei 'Hintermann' und 'Inspirator' Daums. Letzteres habe Stenger auch zu Heinrich Lake und zu dritten Personen, außerhalb des Kollegiums, geäußert. Da diese Behauptungen zu einem guten Teil die Voreingenommenheit der Elternversammlung verursacht hätten, bitte er den Minister, Stenger aufzufordern, den Beweis für seine ehrenrührigen Behauptungen anzutreten.

"ich halte es daher vorher nicht für nötig, mich meinerseits zu den erhobenen, mich schwer kränkenden Vorwürfen zu äussern, sondern begnüge mich damit, zunächst nur auf das zu verweisen, was ich bei meiner Zeugenvernehmung in dem Disziplinarverfahren zu Protokoll gegeben habe. / Wenn aber, woran ich nicht zweifle, ein Beweis für diese beleidigenden Vorwürfe nicht erbracht werden kann, muss ich im Interesse meiner ferneren Amtstätigkeit die Zurücknahme dieser Beleidigungen durch den Herrn Direktor verlangen und meiner vorgesetzte Behörde dringend darum bitten, für die Wiederherstellung meines guten Rufes überall da, wo es meiner Berufstätigkeit wegen erforderlich ist, Sorge zu tragen."

Mit der Beschwerde wollte Dinkelacker vermutlich erreichen, daß vom Disziplinarverfahren abgesehen, die Koblenzer Behörde die öffentlichen Beschuldigungen gegen ihn (Elternversammlung, Zeitungsmeldungen) nicht auf sich beruhen ließ, was zu befürchten war.

Die Koblenzer teilten ihm am 24.12 mit, daß sie seine Eingabe nicht prüfen könnten, weil die fraglichen Dokumente, Bestandteile der Verfahrensakten geworden seien und diese zur Zeit nicht zugänglich seien. Am 8. Januar schrieb Dinkelacker dann, daß er doch ein berechtigtes Interesse an baldiger Prüfung habe und daher Daum gebeten habe, Kopien der Dokumente an die Behörde zu schicken. Ausserdem bitte er um eine vollständige Abschrift der Resolution der Elternversammlung. Darauf kam die Antwort am 3. Februar, in der Herr Jungbluth mitteilte, daß auch die fragliche Entschließung Bestandteil der Akten sei, die inzwischen beim Minister lägen. Am 4. März 1927 schließlich wurde mitgeteilt, daß man nach rechtskräftiger Erledigung des gegen den Studiendirektor Stenger eingeleiteten Disziplinarverfahrens auf die Beschwerde ("Ihre Bescheide") zurückkommen werde. Irgendwo war wohl doch der Wurm in dem Verfahren.

* * *


[1]"Zur Besprechung der durch die vorläufige Amtsenthebung des Herrn Direktors Stenger entstandenen Lage findet am Samstag, den 20. November ds. Js. abends 8 ½ Uhr in der Aula des Realgymnasiums eine Elternversammlung statt. Zu dieser Versammlung werden die sämtlichen Eltern der Schüler des Gymnasiums (Väter und Mütter) dringend eingeladen. Diese Einladung ist als Ausweis am Eingang in die Aula vorzuzeigen. Der Vorsitzende des Elternbeirats am Realgymnasium Betzdorf-Kirchen."

[2]Zitiert nach Betzdorfer Zeitung vom 19.11.26

[3]Von der Aufregung, die innerhalb der Famlie entstand, zeugt ein Brief von Klaras Bruder Karl vom 10 Dezember, der offenbar 'aus allen Wolken gefallen war', als man ihm die Siegener Zeitung zugeschickt hatte. Er schrieb an Alfred: "Da die ganze Angelegenheit dort offenbar Auswirkungen von tief einschneidender Bedeutung für unsere ganze Familie zu haben scheint, finde ich es erstaunlich, daß ich nicht von Dir bis in alle Einzelheiten über die ganze Affäre unterrichtet worden bin. - Es handelt sich doch nicht nur um Dich, sondern um uns alle aus unerer Heimat. - Ich bitte um ungehenden ausführlichen Bericht und wenn ich gebraucht werde, stehe ich zur Verfügung." Alfred antwortete umgehend und konnte den Schwager beruhigen.

[4]Vermutlich wäre hier der Oberberginspektor Peter/Betzdorf zu nennen, ein Mitglied des 8 köpfigen Elternbeirats.

[5]In einem Brief Daums an Dinkelacker vom 25.11.26 ist die Rede von Rudolf Bühring, der sich durch Clara Dinkelacker von der Unrichtigkeit der verbreiteten Ansichten über ihren Mann hatte überzeugen lassen und seine Mitschüler in der Oberprima zumindest in einen Zwiespalt gebracht hätte. Daum schlug Dinkelacker vor, sich mit einer verständnisvollen Erklärung in den 'Siegblättern' zum Verhalten der Schüler den Zwiespalt zu Nutze zu machen, worauf der nicht einging. (Durchschlag PALS). Bühring, Arztsohn aus Eiserfeld, wohnte in Pension bei Dinkelackers. Zum ersten des folgenden Monats beendete sein Vater wortlos die bis dahin freundschaftliche Unterbringung.

[6]H. Nies ('und Familie') schrieb aus Frankfurt am 20.2.27: "Wer, wie ich die Betzdorfer Pappenheimer kennt, kann nicht anders, als Ihnen recht zu geben. So bin ich ganz ihrer Meinung und kann Ihnen nur raten, jetzt, wo sich alles gegen Sie verschworen hat, rücksichtslos vorzugehen. Endlich muß es an maßgebender Stelle bekannt werden, daß gerade in Betzdorf auch ein Herd derjenigen Widerstände zu suchen ist, die eine Annäherung der einzelnen Volksglieder im Inneren und eine Verständigung mit unseren ehemaligen Feinden verhindern wollen und, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nur ihre eigenen "Belange" (verzeihen Sie den abgedroschenen "völkischen" Ausdruck für Interessen) im Auge haben. Daß ich mit der Politik der sog. bürgerlichen Rechen nicht einverstanden war, war in Betzdorf ja auch bekannt und hat mir zum Glück wahrscheinlich auch meine Versetzung nach hier gebracht..." Unter dem 1. 12. 26 schrieben drei Kollegen aus Bad Kreuznach: "Aus den Zeitungen hören wir von den Vorgängen am Gymnasium zu Betzdorf. Sie sind dem Direktor, der monarchistische Bestrebungen an der Schule anregte und förderte, entgegengetreten und haben auf Abhilfe gedrängt. Dafür werden Sie jetzt von Eltern und Schülern angefeindet. Wir wissen, wie rücksichtslos der Gegner ist. Daher möchten wir Ihnen in den schweren Kampfstunden unsere Sympathie aussprechen." Beide Briefe handschriftlich.

 

 

Endspiele

Inzwischen formierte sich die Anhängerschaft Fritz Stengers: am 4. April 1927 schrieb die BZ: "Vereinigung ehemaliger Schüler des Realgymnasiums"[1]:

"Als im vorigen Jahre das Jubiläum des 25jährigen Bestehens des Realgymnasium festlich begangen wurde, waren aus diesem Anlaß die ehemaligen Schüler der Anstalt aus Nah und Fern herbeigeeilt, um der Schule und ihren Lehrern, die ihnen lange Jahre hindurch Erzieher und Berater waren und ihren Geist für die harten Aufgaben des Lebens stählten, einen Beweis ihrer Treue und Dankbarkeit zu geben. Schon damals war geplant, eine Vereinigung aller ehemaligen Schüler zu gründen, die den Geist christlich-deutscher Sitte und Art, wie er auf der Schule gelehrt wurde, weiterpflegen und ein Band guter Kameradschaft um alle Schüler schlingen sollte ... Samstag abend fand nun im Deutschen Haus eine Versammlung von ehemaligen Schülern mehrerer Jahrgänge statt, die den Gedanken der Gründung wieder aufgriff und in die Tat umsetzte. Nach Festsetzung der Statuten wurde der engere Vorstand gewählt, der sich aus folgenden Herren zusammensetzt: Ehrenvorsitzender Studiendirektor Stenger, 1. Vorsitzender Dr. Holschbach/Wissen, 2.Vorsitzender Fabrikant Erich Reckling/Eiserfeld, Schriftführer Lehrer Erich Sabath/Betzdorf, Stellvertreter Dr. W. Meyer/Betzdorf, Kassenwart Anton Gödinger/Betzdorf. Ferner wurden Vertrauensleute für die Hauptorte der Kreise Altenkirchen, Siegen und Waldbröl gewählt, die engere Fühlung mit den Schülern ihrer Bezirke halten sollen. Diese Vertrauensleute bilden den weiteren Vorstand. Es sind die Herren: Dipl. Ing. Kurt Vogel für Kirchen, Hannes Siebel, Kaufmann, für Freudenberg, Karl Thomas, Kaufmann, für Herdorf, Zahnarzt Dr. Hassel für Wissen; Dr. Peil, Arzt, für Hamm; Emil Fuckert, Kaufmann für Daaden; Erich Reckling, Fabrikant für Siegen und Umgebung, Rendant Hermann Roth für Neunkirchen, Dr. Pfeiffer für Altenkirchen; Dipl.Ing. W. Ständebach für Gebardshain und Umgebung; Franz Poppel für den Kreis Waldbröl, Regierungsrat Eintz/Hagen für alle übrigen Schüler."

Das war also der erste "Verein Ehemaliger" der Schule. Der heutige ist eine freiere Neugründung der fünfziger Jahre. Gab es keine Erinnerung mehr an den Vorgänger?

Der "Fall Stenger" blieb im Kreis Altenkirchen nicht ganz einmalig. Die SB schrieben am 14 Februar 1927, daß dem Rektor Wagner in Altenkirchen aufgrund einer Beschwerde der Republikanischen Beschwerdestelle von der Regierung ein Verweis erteilt worden sei:

"Ganz abgesehen davon, daß Sie in Ihrer Ansprache bei der diesjährigen Verfassungsfeier mit keinem Worte die hohen idealen und sittlichen, in unserer Verfassung festgelegten Werte berührt haben, ist die von Ihnen gewählte Begriffserklärung des Wortes Verfassung zum mindesten in hohem Maße geschmacklos und war geeignet, erhebliche Mißverständnisse, wie sie tatsächlich zu Tage getreten sind, hervorzurufen..."

Willkommener Anlaß für die BZ, unter dem 24. Februar 1927 an den Fall Stenger zu erinnern:

"Die Hetze des Reichsbanners und der Republikanischen Beschwerdestelle gegen die höheren Schulen des Kreises Altenkirchen nimmt infernalische Formen an. Sattsam bekannt ist das Vorgehen gegen den Studiendirektor Stenger vom Realgymnasium zu Betzdorf, an dem die gesamte Bevölkerung des Kreises mit Liebe und Verehrung hängt. Das gegen ihn auf Grund übelster Denunziation herbeigeführte Disziplinarverfahren scheint nun ins Endlose hinausgezögert zu werden..."

Im Juni 1927 tagte die Kreissynode in Altenkirchen und die BZ berichtete:

"Endlich erwähnte der Superintendent (Pfarrer Leibnick) noch die uns Evangelischen rätselhafte und geradezu unerträglich erscheinende Behandlung des hochverdienten Studiendirektors Stenger in Betzdorf. Einmütig faßte die Synode folgende Entschließung, die auch dem Herrn Kultusminister und den Franktionen des preußischen Abgeordnetenhauses mitgeteilt werden soll: "Die Synode spricht einstimmig ihr tiefstes Bedauern aus, daß der so verdienstvolle Direktor des Realgymnasiums zu Betzdorf, Herr Studiendirektor Stenger, der treue Christ und Bekenner des Evangeliums, der glühende Patriot, der sein Volk und Vaterland so lieb hat, der es so meisterhaft verstand, vor seinen Schülern die Größe Deutschlands in der Vergangenheit in lebendiger Weise aufleben zu lassen immer mit dem Hinweis auf die religiös-sittlichen Kräfte, ohne die auch ein Aufbau unseres Volkes in der Gegenwart nicht möglich ist - daß dieser Mann nach unserer Überzeugung ohne Grund aus seiner reich gesegneten Arbeit vorläufig entfernt worden ist. Sie tut ihm ihre einmütigste innigste Teilnahme kund mit dem Ausdruck der Entrüstung über die ganze Behandlung dieses Falles, der vielleicht erst zur Erledigung kommen soll, wenn Stengers Ausscheiden aus dem Amte nach Vollendung des 65. Lebensjahres notwendig wird."

'Seilschaften' aus der Kaiserzeit? Sollte wirklich kein Synodaler Verständnis für den 'Freund evangelischer Freiheit' und Leser der 'Christlichen Welt' gehabt haben?[2]

Im nächsten Akt des Theaters wurde im Kuratorium der Wunsch geäußert, Fritz Stenger (der nach wie vor vom Dienst suspendiert war und im September 1927 die Altersgrenze erreichen würde) mit einer Feier in den Ruhestand zu verabschieden. Jakob Daum wies in einem Schreiben an Landrat Boden auf die Problematik einer solchen Feier hin:

"... Eine solche Feier müßte doch in der ganzen Öffentlichkeit, besondrs aber in den Kreisen, denen der Herr Direktor Stenger durch seine amtlich und außeramtlich in so starkem Maße zutage getretene extrem politische Stellungnahme immer und immer wieder vor den Kopf gestoßen hat, geradezu als gewollte Demonstration gegen das noch schwebende Disziplinarverfahren aufgefaßt und von seinen nächsten Anhängern wohl auch dargestellt werden und damit einen das Ansehen der Staatsbehörden schädigenden Charakter erlangen."

Bei Gelegenheit konnte man dann in der BZ lesen, das Kuratorium habe dem Pensionär zum Abschied ein sehr schönes Hindenburgporträt überreicht. Eine salomonische Lösung.

In Betzdorf fand selbstverständlich eine 'großartige' Abschiedsfeier statt. Die Titelseite der BZ vom 1. Oktober war ganz "Unserem Hindenburg" (Überschrift) zu seinem achtzigsten Geburtstag gewidmet, und auf der zweiten Seite erschien - fast ganzseitig - der Bericht über die "Abschiedsfeier für Studiendirektor Stenger". Veranstalter war der im Frühjahr gegründete Verein ehemaliger Schüler. Der Germaniasaal war 'übervoll', Fabrikant Reckling/Eiserfeld hielt die Rede zum Hindenburg-Motto: "Die Treue ist das Mark der Ehre". Die Schülerkapelle spielte den Pilgerchor aus Tannhäuser. Und natürlich wurden "Ich hab mich ergeben", "Was ist des Deutschen Vaterland" und "Der Gott, der Eisen wachsen ließ" gemeinsam gesungen, der Männergesangverein Germania trug "Gott grüße dich" und "Flamme empor" vor, und der Kirchenchor, dem Stengers angehörten sang "Nun zu guterletzt". Geredet hatten außer Reckling Studiendirektor Heer, ein ehemaliger Betzdorfer Kollege, Fabrikant Sohn, das älteste Mitglied des Kuratoriums, Amtsgerichtsrat Schlüter, der Vorsitzende des Elternbeirats, Pfarrer Winterberg, der Ortspfarrer, und natürlich Direktor Stenger, der zum Schluß das Realgymnasium und die ganze Schulgemeinde hochleben ließ. Die BZ formulierte zusammenfassend: "Treue um Treue".

Die Schulverwaltung kam schließlich auf Dinkelackers Beschwerde zurück, zunächst in einem Brief vom 16. September 1928 an den neuen Direktor der Schule:

"Über den Fall Stenger ist allmählich glücklicherweise etwas Gras gewachsen. Da ist es denn sicherlich der Wunsch aller Einsichtigen, dass der Frieden an der dortigen Anstalt und ihre ruhige Arbeit nicht irgendwie aufs neue gestört wird. Diese Gefahr droht aber insofern, als eine alte Beschwerde von Herrn Studienrat Dr. Dinkelacker noch nicht entschieden ist, weil sie mit Rücksicht auf das Disziplinarverfahren Stenger hatte zurückgestellt werden müssen. Nachdem das Verfahren selbst aber abgeschlossen ist, würde es an sich notwendig sein, nunmehr auf Herrn Dinkelackers Beschwerde einzugehen. Andererseits läge es wohl im Interesse aller, die alten Dinge nun auch wirklich ruhen zu lassen. Da wir aber die Behörde auf keinen Falle Anschein aussetzen wollen, als bo sie eine Sache "totgeschwiegen" habe, möchten wir uns das Einverständnis von Herrn Studienrat Dr. Dinkelacker mit einem stillschweigenden Ruhenlassen der nunmehr Jahr und Tag zurückliegenden Dinge vergewissern. Im Einvernehmen mit Herrn Oberschulrat Dr. Jungbluth bitte ich Sie daher, Herrn Dr. Dinkelacker in diesem Sinne zu befragen und mir demnächst Mitteilung darüber zukommen zu lassen."

Dinkelacker antwortete am 5. Oktober:

"... Nachdem ich indirekt von Seiten des Ministeriums (siehe Anlage) darüber unterrichtet bin, wie in Sachen Stenger die Entscheidung gefallen ist, bin ich gerne bereit, von jeder Genugtuung seitens des Direktor Stenger abzusehen. Das Ergebnis der Untersuchung ist mir ihm gegenüber, mit dem ich dienstlich nichts mehr zu tun habe, Rechtfertigung genug. / Anders liegt für mich die Sache bezüglich des Lehrerkollegiums und des Elternbeirats, bezw. der Elternschaft der Schule."

Man hatte es nicht für notwendig (oder nicht für opportun?) gehalten, das Untersuchungsergebnis mitzuteilen. Dinkelacker verlangte daher, daß das anliegende Schreiben von Staatssekretär Lammers an Theodor Bohner vor Lehrerkollegium und Elternbeirat offiziell verlesen werde und gleichzeitig die Erwartung ausgesprochen würde, daß ihn niemand mehr mit anzüglichen Bemerkungen behellige. Auch solle die Behörde bedauern oder mißbilligen, daß seinerzeit in der Resolution der Elternversammlung das Vorgehen des Ministers als "übereilter, durch nichts gerechtfertigter Schritt" bezeichnet wurde, und die nächste Elternversammlung solle von der Stellungnahme der Schulverwaltung in Kenntnis gesetzt werden. Inzwischen hatte der Beschwerdeführer sich nämlich genötigt gesehen, unter dem 14. Februar 1928 noch einmal auf den ausstehenden Bescheid hinzuweisen, weil im Kollegium jemand gegen seine Wahl zum Kuratoriumsmitglied (es mußte ein Protestant sein) argumentiert hatte, daß sein ganzes Verhalten in der Sache Stenger es einem großen Teil der Herren des Kollegiums, insbesondere der evangelischen, unmöglich mache, ihm ihr Vertrauen zu schenken. Dinkelacker hatte, auch in Anbetracht der neuen Kollegen, nur sein gutes Gewissen betont und gemeint, er hätte gehofft, man würde endlich (in amtlichen Angelegenheiten) über diese Dinge hinwegkommen. Da hatte der Kollege (vermutlich Wilhelm Arnold, der dann gewählt wurde) gesagt, es sei unmöglich, diese Dinge zu vergessen.

Ende Januar hatte der Staatsrechtsprofessor Helfritz in Wroclaw die öffentliche Mißbilligung des Kultusministers erfahren. Helfritz hatte in der "Schlesischen Zeitung" geschrieben:

"Wer sich ein klares Urteil und den Sinn für Gerechtigkeit bewahrt hat, denkt warmen Herzens und voll innerer Anteilnahme seines ehemaligen obersten Kriegsherrn, seines Kaisers und Königs. Die freventliche Revolution such nachträglich nach Entschuldigungsgründen..."

Die BZ kommentierte am 13.3. 1928:

"Nach der vorausgegangenen Einleitung dieser Mitteilung ist ohne weiteres klar, daß in diesen Ausführungen auch nicht ein Tüpfelchen über dem i auszusetzen ist. Aber der Kultusminister Dr. Becker, der sich in der Stengeraffaire in Betzdorf mit so viel Ruhm bedeckt hat, kann es doch nicht über sich gewinnen, hier keinen Anstoß zu nehmen.

Mit Schreiben vom 3. November 1928 teilte die Behörde Dinkelacker endlich mit, daß sie den Direktor ersucht habe, in einer Konferenz den Einstellungsbeschluß des Verfahrens nebst Gründen zu verlesen und ihn auch ermächtigt habe,

"in derselben Weise dem Elternbeirat von der Entscheidung des Herrn Ministers vertraulich Kenntnis zu geben. Zu weiteren Maßnahmen sind wir teils aus rechtlichen, teils aus sachlichen Gründen nicht in der Lage."

Das wars. Der Elternbeirat sei keine amtliche Instanz, an die sich die Behörde wenden könne. Wenn aus Kreisen der Elternschaft beleidigende Behauptungen kämen, stünde ja der Weg der gerichtlichen Klage offen. So 'vorsichtig' war die Schulverwaltung. Kollegium und Elternschaft wurden 'vertraulich' in Kenntnis gesetzt. Dinkelacker hoffte, seine Ruhe zu haben. Hier das entscheidende Endergebnis der Untersuchung im Wortlaut:

"Auf das Schreiben vom 19. August d. Js. erwidere Ich ergebenst folgendes: / Nach dem Ergebnis der Voruntersuchung hat Studiendirektor Stenger in Betzdorf/Sieg sich in den Jahren 1919 bis 1926 einer Reihe von Amtspflichtverletzungen schuldig gemacht, die in ihrer Gesamtheit an sich die Fortführung des Verfahrens mit dem Ziele der Entfernung aus dem Amte gerechtfertigt hätten. Stenger war aber vor Abschluss des Verfahrens auf Grund des Altersgrenzengesetzes mit dem 30. September 1927 in den Ruhestand getreten. In der Erwägung, dass seine Verfehlungen lediglich die Aberkennung des Anspruchs auf Ruhegehalt nicht rechtfertigen würden, habe ich damals davon abgesehen, das Verfahren weiter fortzuführen, und es durch Beschluss vom 21. März 1928 eingestellt. In besonderer Hochschätzung Ihr sehr ergebener[3]"

Das war die "Entscheidung des Herrn Ministers" in Gestalt einer Antwort seines Staatssekretärs an den Abgeordneten, der in der Sache schon 1925 die Initiative ergriffen hatte, fast zwei Jahre nach der Eröfgfnung des Verfahrens und 5 Monate nach seiner Einstellung. Jahre, die die Betzdorfer Schule veränderten. Sie verschloß sich nicht länger der Republik.

* * *

Damals, als die Untersuchung in vollem Gang gewesen war, provozierte ein Brief des Kollegen Wilhelm Arnold vom 21. Dezember 1926 an Clara Dinkelacker, die Patin seiner Tochter und Freundin seiner Frau, zu einer Rückschau und einem Urteil aus ihrer Sicht. Arnold hatte ihr geschrieben:

"Ich frage mich nur - und alle ihre guten Freunde und Bekannten von ehedem tun das - wie ist das möglich? Was ist es anders als Wortklauberei, wenn Ihr Mann behauptet, er habe mit den Dingen, die zur Beurlaubung des Herrn Stenger geführt haben, nichts zu tun. Möglich wäre ja immerhin, dass er hinter der letzten Sache nicht unmittelbar steht. Doch hat er in jahrelanger planmässiger Wühlarbeit das Material zusammen getragen auf Grund dessen letzten Endes gegen Herrn Stenger das Verfahren mit dem Ziel der Amtsenthebung und der Entziehung der Pension(!) eröfgfnet worden ist... Sollte all das in Ihnen nicht vielleicht doch die Vermutung aufkommen lassen, dass Ihr Mann schuld ist an den geradezu unerträglichen Verhältnissen, wie wir sie jetzt hier haben? ... Die ganze Untersuchung hat ja bewiesen, dass er fast hinter allem steht... Und wenn Sie nun wirklich so überzeugt von der Unschuld Ihres Mannes sind, warum rücken Sie dann nicht von dem Herrn D. ab? Oder hat dieser vielleicht mit der ganzen Sache auch nichts zu tun? ... Ich bin völlig irre an Ihnen geworden: ich konnte mir eben nicht denken, dass Sie - falls Ihnen nichts verschwiegen worden ist - die ganze Handlungsweise Ihres Mannes verstehen und gutheissen ... In Anbetracht der ganzen Lage führen unsere Wege leider auseinander, einer Erkenntnis, der sich auch meine Frau nicht verschliessen kann."

Darauf hin schrieb Clara Dinkelacker nach Weihnachten, unter dem 29. 12. 26:

"...Nach fast zwanzigjähriger Freundschaft sind Sie an mir irre geworden, weil ich an meinen Mann glaube und ihn nicht für schuldig halte ... Als mein Mann hierher kam, hat er es bald empfunden, dass Herr Stenger in manchen Dingen für den Schulbetrieb eine Hemmung war. Das ist ihm durch Äusserungen von verschiedenen Seiten bestätigt worden, und ich kann mich noch daran erinnern, dass Sie mir persönlich einmal erklärten, schon so vieles versucht, aber nichts erreicht und darum alle Bemühungen aufgegeben zu haben. Wenn mein Mann an dieser Tatsache nicht stillschweigend vorüber gehen konnte, einfach aus einem Verantwortungsgefühl der Jugend gegenüber, so habe ich das verstanden. Ich habe mich aber auch immer bemüht, Herrn Stenger gerecht zu werden, weil er mir als Freund meines Vaters wert war ... Ich bin auch nicht kritiklos an allem (was ihr Mann tat KS) vorübergegangen, weil ich auch den nächsten Menschen gegenüber wahr sein muss. Das gehört für mich zu dem Begriff Liebe... Ich habe auch einmal, um nichts unversucht zu lassen, mit Herrn Dr. Wolf über diese Dinge gesprochen. Er hat aber , wohl aus dem Gefühl heraus, mir "Wahrheiten" über meinen Mann sagen zu müssen, in einer so gefühlsrohen Weise auf mich eingeredet, daß sich mein ganzes Empfinden als Frau darüber empörte... Hier wird mit zweierlei Maß gemessen, Herr Dr.. Was man Herrn Stenger zugute hält als mannhaftes Eintreten für seine Überzeugung, das wird meinem Mann verdacht u. man versucht es auf alle Art und Weise, sein Tun herunterzuziehen und ihm Dinge zu unterschieben, an die er nie gedacht hat. Er hat doch wahrhaftig um seiner Überzeugung willen, dass man in der Jugend das Verantwortungsgefühl vor den Aufgaben im neuen Staat wecken und pflegen müsse, Dinge auf sich genommen, die fast unerträglich waren. Nur der Gedanke, dass Herr Stenger bald pensioniert würde, hat ihn schliesslich bewogen, sich in die Verhältnisse zu schicken ... Sie erwähnen in Ihrem Briefe auch Herrn Daum und können nicht verstehen, dass ich von diesem Mann nicht abrücke. Ich nehme vorweg, dass ich auch ihm keine Schuld an diesem Verfahren gegen Herrn Stenger beimesse... Da ich durch den Briefwechsel zwischen Herrn Stenger und Daum einen ganz klaren Einblick in die Dinge bekommen habe, kann ich den Schritt von ihm voll und ganz verstehen, weiss aber zugleich, dass er mit diesem Verfahren nichts zu tun hat, so sehr auch der Schein gegen ihn spricht ... Mein Mann hat mir in meinem Handeln völlige Freiheit gelassen und es immer verstanden, dass ich mich mit den Menschen hier durch gemeinsame Erinnerungen an frühere Zeiten verbunden fühlte. Das gilt auch noch besonders in Bezug auf meine Freundschaft mit Ihnen, Herr Dr.. Heute muss ich allerdings aus Äusserungen schliessen, dass man dieses falsch gedeutet und es mir so ausgelegt hat, als stände ich in meinem Urteil eigentlich auf der Gegenseite... Wenn ich persönlich es auch versuchen will, innerlich über Herrn Stengers Verhalten meinem Mann gegenüber hinwegzukommen und es von ganzem Herzen bedauere, dass er am Schluss seiner Amtstätigkeit solch ein Verfahren erleiden muss, so kann ich es von meinem Mann aber voll und ganz verstehen, dass er alle Rücksichten fallen lassen musste, nachdem man sich in der Elternversammlung auf diese Weise über ihn äusserte und Behauptungen in die Öffentlichkeit brachte, die durch nichts erwiesen waren. Für ihn war es jetzt ein unumgängliches Muss, um seiner Familie willen für Ehre und Wahrheit einzutreten, ganz abgesehen davon, dass der Zeugeneid ihn dazu verpflichtete, nichts zu verschweigen und dieses letztere wiederum nicht allein um seinetwillen sondern der Sache willen.Aus diesen ganzen Gedankengängen heraus bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass mein Mann auch nicht "letzten Endes" die Schuld an dem Verfahren trifft. Meiner Meinung nach liegen die Dinge so: Die Tatsache, dass Herr Direktor Stenger bei seiner Einstellung zum neuen Staat im Amte blieb und damals nicht die letzten Konsequenzen um seiner Überzeugung willen zog, musste mit Notwendigkeit zu diesem ganzen tragischen Konflikt führen, sobald ihm ein Mann mit positiver Einstellung gegenübertrat. Letzten Endes trägt meiner Ansicht nach Herr Stenger selbst die Schuld an dem ganzen Geschehen, unter dessen Folgen alle leiden. / Ich möchte aber eigentlich überhaupt von keiner Schuld sprechen. Ich muss, unter Zurückstellung all der schweren persönlichen Dinge, sowohl für Stengers wie für uns die ganze Angelegenheit als ein Zeitgeschehen ansehen und sie unter das Wort Raabes stellen: "Schweigend geht Gottes Wille über den Erdenstreit". Nur das bewahrt mich vor Bitterkeit und Enttäuschtsein... Unsere wahren Freunde sind uns alle geblieben und, so schwer die Ereignisse der letzten Wochen auch gewesen sind, eins haben sie mir gebracht: Klarheit über Menschen und Dinge!"

* * *


[1]Auf derselben Seite druckte die BZ, ausführlich 'kommentiert', eine Antwort der SB auf einen anonymen Artikel der BZ vom 28. März, "Ist der Kreis Altenkirchen reaktionär", zusammen mit einer ebenso kommentierten Antwort des eben (planmäßig) versetzten (protestantischen) Regierungsassessors Dr. Hübner im Landratsamt, der von dem Anonymus offenbar aufs übelste angegriffen worden war. Die SB hatten über den anonymen Artikel geschrieben: "Das Geschriebene ist geistiger Unrat. Das ungeschriebene, das man zwischen den Zeilen lesen muß, ist der in der Überschrift bestrittene Haß gegen die Republik und die Republikaner, ist ferner das Bestreben, bewußt und mit Absicht den Regierungsassessor Dr. Hübner der Liebedienerei, des unehrlichen Strebens nach der Gunst der höheren Behörde zu zeihen." Die BZ kommentierte: "Staatspolitisches Denken kommt nicht in Betracht, parteipolitische Agitation ist ihnen alles; selbst wenn darunter der Bürgerfrieden leidet und der Bürgerkrieg heraufbeschworen wird."

[2] Ein Freund der Familie, Theo Müsse, war einige Zeit Pfarrer in Hamm, bevor er 1933 nur knapp der Amtsenthebung entkam und in ein Hunsrückdorf versetzt wurde. Aber das mag später gewesen sein.

[3]Schreiben von Staatssekretär Lammers im RMWKV an Theodor Bohner vom 28.8.1926. Abschrift


 

 

Eine neue Schule?

Vielleicht konnten gerade 'kriegserprobte' Menschen mit 'friedlichen Niederlagen' nicht gut umgehen, weil die Kriegspsychologie das "Sieg oder Niederlage" Denken suggerierte und den absoluten Willen gegen das Realitätsbewußtsein setzte. Doch war erstaunlich, wie schnell nach dem Sturm wieder Ruhe einkehren konnte, jedenfalls einigermaßen. Gewiß war Fritz Stenger tief gekränkt. Aber sein Disziplinarverfahren hatte schließlich glimpflich geendet.

Mit Heinrich Lake war zum 1. Dezember 1927 ein Nachfolger berufen worden, von dem Stenger einmal anerkennend geschrieben hatte, daß er "am Krieg von Anfang bis zu Ende als Mitkämpfer teilgenommen hat"[1]. Nur hatte er die andere Konfession und die Betzdorfer Zeitung reagierte, gut unterrichtet, mit ausführlicher Polemik. Sie brachte am 24. September 1927 den Beschluß des Kuratoriums zur Anzeige, daß die Konfession des neuen Direktors die katholische sein soll und kommentierte:

"Aber es muß als eine Verletzung des Grundsatzes der Parität und als Störung des konfessionellen Friedens bezeichnet werden, wenn die Besetzung der Direktorstelle trotz der überwiegenden Mehrheit des evangelischen Bekenntnisses bei den Schülern mit einem Katholiken erfolgt."

Am 29. folgte, nach weiteren Kommentaren, auch zur Meinung der Konkurrenz und zu einem gegebenenfalls präjudizierenden Beispiel in Essen (Burggymnasium) ein ausführlicher Artikel, in dem festgestellt wurde, daß an der Schule fünfzehn katholische Lehrer sechs evangelischen gegenüberstünden und, nicht zu vergessen, daß der "ganz ungeheuerliche Vorwurf" gemacht worden sei, an der Schule habe ein 'katholikenunfreundlicher' Geist geherrscht:

"Für das Betzdorfer Realgymnasium fordert die evangelische Elternschaft einen evangelischen Direktor, der ihr nach der Schülerzahl und der Zusammensetzung des Lehrerkollegiums zusteht."[2]

Übrigens hatten Dinkelacker und Daum zunächst auch einen evangelischen Direktor im Auge (wenn auch keinen aus dem Kollegium), nach (bei Bohner) eingeholten Auskünften zum Essener Fall den Gedanken, dafür zu kämpfen, jedoch als sinnlos verworfen. Alfred Dinkelacker schrieb am 7. November 1927 an Theodor Bohner:

"Nun ist der einzige Kollege, der sich von unserer Anstalt gemeldet hatte, Studienrat Lake, gewählt worden, ohne dass man noch irgend einen der über 100 Bewerber in die engere Wahl gezogen hätte ... Ich habe mich mit diesem Kollegen persönlich stets gut vertragen, habe aber das vermisst, dass er nie eine entschiedene eigene Meinung vertreten hat und so, trotzdem er auch Kuratoriumsmitglied war, Direktor Stenger in seinem Tun und Treiben hat ruhig gehen lassen. Ich hätte es ja grade nach all dem, was hier vorgekommen ist, entschieden für richtiger gehalten, wenn ein ganz anderer Mann von einem anderen Ort, dazu ein möglichst tüchtiger Schulmann, als Direktor hierher gekommen wäre. Aber freilich, nachdem die katholische Mehrheit des Kuratoriums unbedingt auf einem Katholiken als Nachfolger bestand, weiss man bei H. Lake wenigstens, dass er ein in konfessioneller Hinsicht durchaus versöhnliche, allen diesbezüglichen Zänkereien abholde Persönlichkeit ist... Direktor Stenger aber ist nun, wie schon erwähnt endgiltig von der Bühne abgetreten und auch in den ersten Oktobertagen von hier nach Siegen weggezogen."[3]

Im September 1927 schrieb August Monzen, ein früherer Schüler der Oberprima 1923/24 (später Landrat in Wetzlar):

"Daß die Direktorstelle ausgeschrieben ist, teilte meine Schwester mir mit; hoffentlich erhält ein guter Mensch das Amt, der der ganzen Anstalt einen anderen, besseren Geist aufzuprägen weiß! ... Bald ist auch der Oktober wieder da. In diesen Tagen erinnere ich mich stets mit großer Freude jener schönen Tageswanderung, die Sie vor Jahren mit uns, Ihren damaligen Primanern, durch die Berge und hohen Buchenwälder der Umgebung Freusburgs machten. S'ist eigentlich sehr schade, daß wir solch schöne Wanderungen nicht häufiger machen durften, zumal Sie mit so großer Liebe und Hingabe sich Ihrer damaligen Prima widmeten, eine Hingabe, die leider nur von wenigen aus uns bemerkt und verstanden wurde; leider, leider! Möchten doch Ihre künftigen Klasse Ihnen mehr Verständnis entgegenbringen, jedenfalls aber glaube ich mit Bestimmtheit sagen zu können - nur das mag Ihr großer Lohn und Trost sein für all den Ärger den Sie beim Unterricht haben müssen - daß der große, schöne Eindruck Ihrer starken Persönlichkeit doch nicht ohne Wirkung bleibt..."

Fast zu viel des Guten für einen Leser von heute, aber der Lehrer damals wird sich gefreut haben.

* * *

Die Jahresberichte ab 1927/28 zeugen von der Erneuerung im Schulbetrieb. Die Trauer um die 'große nationale Vergangenheit' trat in den Hintergrund und in Beiträgen jüngerer Kollegen (Josef Teipel, "Die Bedeutung des humanistischen Gymnasiums für die Bildungsaufgaben der Gegenwart", Hans Klingelhöfer, "Der deutsche Aufsatz am hiesigen Realgymnasium, die Schüler und das Elternhaus") öfhfnete man sich gelöster als bisher der bildungspolitischen Diskussion. Die Animositäten im Kollegium hielten sich in Grenzen. Das Verhältnis Dinkelackers zu Wilhelm Arnold blieb gespannt, auch durch dessen Sitz im Kuratorium und den damit verbundenen Einfluß auf die Reproduktion des Lehrkörpers. Besonders jüngere Kollegen, wie Otto Blosen (seit 1929), Walter Elfering, Fritz Flur, Hans Klingelhöfer, Johann Kohlhaas, Franz Matern (1930 gestorben), Josef Teipel, pflegten dagegen freundschaftliche Beziehungen mit ihm, in der Schule und privat. Der Lehrkörper war bunter geworden, vermutlich auch im Hinblick auf die 1928/29 eingerichtete Gabelung in einen gymnasialen und einen realgymnasialen Zweig. Allerdings war die Fluktuation groß, Assessoren kamen und gingen. Im ganzen ließ sich die neue Ära wohl gut an. Noch ahnte niemand die Weltwirtschaftskrise und die soziale und politische Problematik, die mit ihr aufkam.

Alfred Dinkelacker hatte seit Ostern 1927 wieder eine Klasse, eine Untertertia, die 1933 Abitur machen würde. Aus den zurückliegenden Auseinandersetzungen war ihm ein gutes Verhältnis zu dem Oberschulrat Jungbluth, dem Dezernenten der Schule, geblieben. Er mobiliserte mit neuem Elan die eigenen pädagogischen Fähigkeiten und begann eine astronomische Arbeitsgemeinschaft. In einem Brief an Jakob Daum (der im Frühjahr 1927 eine Lebensbedrohliche Lungenentzündung überstanden hatte) schrieb er:

"Meine astronomische Arbeitsgemeinschaft, um deren Übernahme ich gebeten worden war, wird, trotzdem sie ja freiwillig ist, von 30 Schülern besucht, darunter ein Klappert etc. Ich wollte, ich würde da mehr boykottiert..."[4]

Ein 2,5 Zoll 'Kosmos' Universalfernrohr, das dem Verein Volkswohl in Betzdorf gehört hatte, ging in den Besitz der Schule über, und Dinkelacker stellte sein eigenes 'Kosmos' 3-Zoll-Instrument zur Verfügung.

"Ein besonderes Ereignis war die Beobachtung der Sonnenfinsternis in der Frühe des schulfreien 29. Juni, zu der sich denn auch freiwillig fast sämtliche Teilnehmer der Arbeitsgemeinschaft gegen 6 ½ Uhr morgens auf dem Schulhof einfanden, wobei beide Fernrohre fortdauernd eifrigst benutzt wurden..."[5]

Als im Frühjahr 1928 ein Neubau geplant wurde, stellte Dinkelacker unter dem 21.April einen "Antrag auf Errichtung einer Schulsternwarte auf dem neuen Anbau des Realgymnasiums":

"Als Fachlehrer für Naturwissenschaften und Mathematik und auf Grund der besonderen Erfahrungen, die ich als großer Freund der Sternkunde gerade auch hier, u.a. durch Abhaltung eines Volksbildungskurses für Astronomie im Jahre 1921, sodann jetzt durch Abhaltung einer 'Astronomischen Arbeitsgemeinschaft' für die Oberklassen unserer Anstalt im letzten Schuljahr gesammelt habe, möchte ich die Schaffung einer einfachen, aber gediegenen Schulsternwarte auf dem jetzt zu errichtenden Erweiterungsbau des Realgymnasiums dringend beantragen..."

Am Schluß der dreiseitigen Begründung hieß es:

"Ich möchte die Begründung für den Bau einer Schulsternwarte an unserer Anstalt, die durch ihre Lage wie selten sonst eine Schule dafür geeignet wäre, schließen mit dem Hinweis darauf, daß die Schaffung einer solchen, idealen und allgemeinbildenden Zwecken dienlichen Anlage, die bis jetzt in der gedachten Ausführung noch nicht viele höhere Lehranstalten besitzen, eine besondere Zierde der Schule und damit eine Ehre für den Kreis als Patronatsbehörde bilden würde."[6]

Heute würden Straßenbeleuchtung und Ausdehnung der Wohngebiete bergaufwärts astronomische Beobachtungsmöglichkeiten einschränken, die Schule hat längst mit ihrer idyllischen Lage auch den Nachthimmel über ihr verloren. Der 'Astronom' fuhr im Sommer aus seinem Ferienort Calw zum Ulmer Blauring-Realgymnasium, um von den Erfahrungen der Kollegen mit ihrer Sternwarte zu lernen, Baupläne einzusammeln und den Kreisbaurat Metzler, den Baumeister des Betzdorfer Neubaus (und schon des Altbaus) zu beraten. Bei Baubeginn im September waren eine 3,5 m Kuppel und eine umlaufende Plattform für 30 Personen fester Bestandteil des Bauplans. Natürlich wurden auch Angebote eingeholt für ein geeignetes Instrument. Das Optische Institut Merz in Pasing bot ein Spiegelteleskop mit Zubehör für 14000 RM an und alternativ einen 5-Zoll Refraktor mit Zubehör für 3700 RM[7]. Aber als die Schule im Dezember des nächsten Jahres bezogen wurde, stand den potentiellen Geldgebern die Wirtschaftskrise ins Haus und an ein Fernrohr war vorläufig nicht mehr zu denken. Der gesamte Bau hatte 330 412 RM gekostet. Die Kuppel erschien nun als unnötiger Luxus. Der Arzt und Abgeordnete Weber/Kirchen verlangte drei Jahre später bei der Endabrechnung im Kreistag Auskunft über die zusätzlichen Kosten. Baurat Metzler bezifferte den 'Luxus' auf 6000-6500 RM[8].

* * *


[1]Fritz Stenger, Jahresbericht 1924/25, S.15

[2]Wenn man nicht annimmt, daß die Betzdorfer Zeitung Dinkelacker zum Direktor machen wollte, muß man wohl annehmen, daß sie an einen Kandidaten von außen dachte, wenn man nämlich die Namen im Kollegium durchgeht, waren Wilhelm Arnold vermutlich zu alt und Max Lohmann, zwar als deutschnationaler Politiker der richtige, aber doch wohl zu jung.

[3]Dinkelacker meinte dann noch zum Kollegen Brauneck: "Die Aussicht, mit einem solchen Fachkollegen, falls er bestätigt wird, auf die Dauer hier zusammenarbeiten zu müssen wäre die einzige bittere Pille, von dem ganzen Fall St. , der naturgemäß nie ganz überwunden werden könnte. Man sollte aber meinen, man würde einen solchen Mann, der in dem Stengerschen Verfahren zweifellos mit kompromittiert ist, wenigstens lieber an einer anderen Anstalt fest anstellen. Er hat ja als Mathematiker, Physiker und Chemiker gute Anstellungsmöglichkeiten." Zum Schluß kam er noch einmal auf die zwischen ihm und Bohner bestehende Differenz zu sprechen: "Wir können mit dem Standpunkt, dass man den Kirchen, speziell der evangelischen den Religionsunterricht so weitgehend ausliefern soll, wie Sie es vertreten, offen gestanden nicht befreunden, vor allem im Hinblick auf das wissenschaftliche Niveau dieses Unterrichts an höheren Schulen..."

[4]Brief vom 29.5.1927

[5]Heinrich Lake, Jahresbericht 1927/28 S.20

[6]Antrag in Maschinenschrift vom 21.4.25

[7]zum Vergleich: Dinkelackers eigenes 'Kosmos' Instrument kostete damals 800 RM

[8]Altenkirchener(?) Zeitungsbericht über die Abrechung der Erweiterungsbauten des Kreisständehauses und des Kreisgymnasiums vom 10(?) 11. 1932. Unter dem 31. Januar 1937(? - jedenfalls nach 35 Jahren des Bestehens der Schule) schrieb die Betzdorfer Zeitung: "Der Neubau ist später oft bekritelt worden, weil er in der pompösen Art der Schaffung einer teueren Wandelhalle und einer ebenso kostspieligen und heute völlig ungenutzten Sternwarte weit über ein vernünftiges Ziel hinausschoß." Tat er daß, oder war hier der Wunsch, einen positiven Gedanken zur Republik gar nicht erst aufkommen zu lassen, der Vater des Gedankens?

 

 

 

Die Republik in der Krise

1928 war wieder ein Wahljahr. Im Wahlkampf der DDP hatte Oberregierungsrat (Kultusministerium?) Ernaz Varrentrapp/Berlin in Altenkirchen, Hamm und Betzdorf gesprochen. Dinkelacker berichtete an die Provinz- und Reichsgeschäftsstellen:

"Die Versammlung in Betzdorf erzielte einen beinahe überfüllten Saal, es war die bis dahin bestbesuchte Wahlversammlung am Platz. Selbst das hier an Stimmenzahl zwanzig mal so starke Zentrum hatte ein paar Tage vorher ... keine so gut besuchte Versammlung ... (übrigens sprachen an diesem Abend Herr Daum und ich mit sichtlichem moralischem Erfolg in der Diskussion für die Simultanschule). Eine anregende Diskussion, an der sich je ein Vertreter der Nat. Soz., der Sozialdem. und des Jungdo (Jungdeutscher Orden KS) beteiligten, schloß sich an den zweistündigen Vortrag des Redners, dessen vornehme Haltung selbst den Nat.Soz. nach anfänglichen Versuchen, pöbelhaft zu werden, einigermassen zur Sachlichkeit zwangen. So blieb bei angespanntester Aufmerksamkeit alles bis ½ 1 Uhr zusammen."[1]

Varrentrapp hatte über die Partei hinaus Anklang gefunden. Am Tag nach dem Vortrag schrieb der Eisenbahnarbeiter und Betzdorfer Gemeinderat (SPD) Johann Becher an den 'Kameraden' im Reichsbanner:

"Zu dem grossen Erfolg am gestrigen Versammlungsabend Ihrer Partei meine aufrichtigen Glückwünsche. Stehen doch allem Anschein nach die Wahlen am 20. Mai unter dem Zeichen unserer Fahne Schwarzrotgold, auch hier im dunklen Bezdorf. Der Herr Referent vom gestrigen Abend muss grosses geleistet haben. Die Stimmung im Betrieb war heute ausgezeichnet... Mit einem kräftigen "Frei Heil"..."[2]

Varrentrapp bedankte sich bei Dinkelacker in einem Brief noch vor den Wahlen und schrieb u.a.:

"... Aus solcher Stimmung des Verstandenwerdens redet "es" sich eben anders als vor einer Mauer. So haben Sie alle beigetragen, im Widerspiel selbst die Nationalsozialisten, dich ich neben der eigentlichen - deutschnationalen - Gefahr immer noch im großen gesehen für "harmlos" halte. Sie wollen wenigstens - wie und ebenso verrückt wie die Kommunisten etwas neues, nicht die lähmende Starre des ewig Gestrigen...

Zum Wahlkampf gehörte, daß man sich an der Diskussion bei Versammlungen der Konkurrenten beteiligte. Fünf Tage vor der Wahl sprach Robert Ley, Landtags-Spitzenkandidat der NSDAP, die 1924 im Wahlkreis immerhin 4,8 % erreicht hatte. Am anderen Tag berichteten die Siegblätter:

"...Redner wies auf den Staat eines Mussolini hin, der eine Diktatur zum Besten seines Volkes geschaffen habe und es gegen das Großkapital nach oben führe und wieder geordnete Zustände in Italien geschaffen habe... Es schloß sich eine erregte Diskussion an. Frau Dr. Dinkelacker führte aus, das ein Ton, wie er die Ausführungen Dr. Leys durchzogen habe, es der deutschen Frau unmöglich mache, die Wahlversammlungen zu besuchen. Die Frauen wollten ehrlich mitarbeiten, würden aber immer wieder durch so etwas abgestoßen. Die Ausführungen seien unsachlich gewesen, auch habe sie ein Eingehen des Redners auf die großen Kulturfragen vermißt. Lehrer Daum-Biersdorf kritisierte die Ausführungen des Redners vom Standpunkt der demokratischen Partei und wandte sich gegen die Verherrlichung eines Mussolini, der über 200 000 gute Deutsche in Südtirol schamlos knechte. Dr. Dinkelacker wandte sich gegen die Ausführungen des Hauptredners betr. der Minderwertigkeit der Demokratie, ferner dagegen, daß der neue Staat noch nichts geschaffen... Die Demokratie gebe dem Einzelnen mehr Rechte und sichere ihm auch ein Leben und weitgehende Freiheit in seiner Weltanschauung. Der Versammlungsleiter W. Ermert führte als Gegenteil das Beispiel von Studiendirektor Stenger an, an dem sich diese Freiheit nicht bewahrheitet habe. Dr. Ley sprach sodann das Schlußwort."

Der spätere Arbeitsfrontführer machte, bevor er Betzdorf verließ, eine Stippvisite bei Dinkelackers, und meinte, als er wieder ging, er hoffe, er habe "die gnädige Frau überzeugen können, daß ein Nationalsozialist sich auf dem gesellschaftlichen Parkett zu bewegen weiß". Clara hielt gesellschaftliche Floskeln für lächerlich und noch konnte man über Robert Ley ruhig lachen. Dinkelacker kommentierte die Wahlversammlung privat:

"Die ganze niedrige Gehässigkeit gegen uns Demokraten entlud sich dann vollends im Schlusswort des Referenten und zuletzt konnte der Versammlungsleiter, ein ehemaliger, hochnäsiger Schüler von mir es sich nicht versagen, völlig grundlos unter Nennung des Falles "Stenger" noch persönlich unverschämt zu werden, wobei er starken Beifall fand"[3]

Das Wahlergebnis war für die DDP enttäuschend. Sie hatte nicht, wie erhofft, zugelegt, sondern im Reichstag nochmal Sitze verloren und im Landkreis Altenkirchen nur noch 1,4 % der Stimmen erhalten. Dinkelacker wollte sich, wie er sagte, "mit Jemandem, der mit den massgebenden Stellen enge Fühlung hat, persönlich aussprechen". Die DDP wurde von Antisemiten als Partei der Juden angegriffen, und Antisemitismus war bekanntlich ein verbreiteter Faktor in politischen Lagern und gesellschaftlichen Gruppen. Dinkelacker stand auch nach den enttäuschenden Wahlergebnissen von 1928 zur DDP, um so mehr war zu überlegen, was an ihr nicht stimmte. Da zeigte sich, daß auch er, wie hier am Schluß, leichtfertig antisemitische Sätze schreiben konnte:

"Machtlos steht man da, wenn einem in einer Versammlung mit Zahlenbeleg der ungesunde kapitalistische Einschlag der Partei etwa durch die Zahl der Aufsichtsratsposten der Abgeordneten dargelegt wird. Wenn das stimmt, dass der Abgeordnete Fischer 49 solcher Posten bekleidet, so ist das, mag die Entschädigung für den einzelnen Posten auch bescheiden sein, einfach Unfug und für eine Partei wie die unsrige, die doch immer wieder lebendige Kreise nicht durch hohle Schlagwörter, sondern durch grosszügige, in die Tiefe gehende Gedankengänge anzieht, einfach untragbar. Auch ohne besonderes Gesetz müssen solche Dinge verschwinden. Denn entweder ist es sinnlos, künftig noch zwischen Sozialdemokratie und Volkspartei als besondere liberal-demokratische Partei zu bestehen, oder wir müssen klar zeigen, dass wir zwar nach Leistung abgestufte Entlohnung und in anständiger Weise erworbenen Privatbesitz (mit den nötigen Schranken), sowie das schaffende Kapital anerkennen, aber arbeitsloses Einkommen und Anhäufung von Riesenbesitz, vor allem auch durch unbeschränkte Vererbung, durch die Tat bekämpfen ... Kurz, wir müssen, ohne sozialistisch zu sein, ganz entschieden sozial werden, mögen uns auch noch diese oder jene kapitalistischen Kreise verlassen, wobei auch die "Judenfrage", mag noch so viel Unfug von gegnerischer Seite damit getrieben werden, nicht mit einer einfachen Handbewegung abgetan werden kann. Wenn wir auch den Juden als Staatsbürger voll anerkennen, so sollte man wenigstens taktisch so klug sein, den Gegnern nicht unnötig Stoff zur Agitation zu geben."[4]

Demnach müßte die Kritik den Juden unter den Kapitalisten besondere Aufmerksamkeit widmen, damit der DDP keine Politik zu Gunsten der Juden vorgeworfen werden könnte. Taktische Klugheit hin oder her, der Gedanke war ein antisemitischer[5] und wenn er zur Ausführung kam, Wasser auf die Mühlen der Antisemiten. Gewiß bei Dinkelacker kein "absichtlicher" Antisemitismus. Im Übrigen steht auf den Anwesenheitslisten der Mitgliederversammlungen seiner Partei konstant bis 1933 ein Gutteil der Familiennamen, die Günter Heuzerot 1975-1978 in seinen Aufsätzen "Jüdisch-Deutsche Bürger unserer Heimat"[6] zusammengetragen hat: Tobias, Rosenberg und Kleestadt (ab 1928) in Betzdorf, Löwenstein (Moritz Löwenstein starb schon 1923) und Moses in Kirchen, Grünebaum und Königsheim in Altenkirchen, Hirsch in Hamm. Was das Gymnasium anging: In den Abiturientenlisten der Jahre 1925-1930 findet sich nur einmal die Konfessionsangabe "isr.", nämlich 1930 bei Erich Hirsch aus Hamm, der damals Arzt werden wollte und auch wurde. 40 Jahre später fand Heuzeroth ihn im 'Medical Arts Building' , 35 Masson street, New York.

Ein Artikel zu den Verfassungsfeiern im August 1929 in E.A. Böckelmanns Blatt zeigte, welche 'Pressefreiheit' die Zeitung sich nehmen konnte, und was Bürger tolerierten, die in ihrer Mehrheit politisch nicht hinter ihrer 'Betzdorfer' standen. Pressefreiheit im Geist der Verfassung und Agitation in der Verfassungswirklichkeit klafften auseinander:

"Wir haben keine Veranlassung, die heutige Verfassung besonders zu feiern ... Es gärt und brodelt überall und so lange das andauert, vermögen wir nicht eine Verfassung über den grünen Klee zu feiern. Man denke nur daran, was eben noch auf der Jugendburg Freusburg (vom 28. Juli bis 4. August) war, wo internationale Sozialisten, Kommunisten, Radikalinskis aller Sorten, überhaupt Revolutionäre aller Länder, weiße und farbige in weißen Gewändern, etwa 100 an der Zahl, über Mittel und Wege berieten, wie man zum Vernichtungskampf gegen Imperialismus und Kapitalismus kommen kann ... Nein, wir haben wahrhaftig keine Veranlassung, uns als zufriedene Staatsbürger zu zeigen; wissen wir doch nicht, ob diese fremden Brüder, die da auf der Freusburg und anderswo in Deutschland sich herumtreiben, nicht nächstes Jahr schon die Machthaber des internationalen Rummels sind ... Das möchten wir auch dem Studienrat Dr. Dinkelacker sagen ... Wir halten den durch seine Verdächtigungen gegen Studiendirektor Stenger bekannten Mann übrigens für am wenigsten geeignet, unserm heutigen Staatsprinzip neue Freunde zuzuführen..."[7]

Dinkelacker stand zwar zur DDP, aber die war sich ihrer politischen Linie nicht mehr sicher. Im örtlichen Reichsbanner analysierte er 1928 das Wahlergebnis und hielt im Frühjahr 1929 (27. April) einen Vortrag über die Ideen von Adolf Damaschke, "Bodenreform und Heimstättengesetz". Fritz Stenger hatte die lokale politische Bühne nicht verlassen: Die BZ berichtete unter dem 2. April 1929 von einer Bismarckfeier der DNVP im Saal Heikaus in Kirchen. Redner: Studiendirektor a.D. Stenger:

"Ein Bismarck fehlt uns heute, er fehlte uns im Weltkrieg, denn nur so konnte es möglich werden, daß jene dem Deutschen so fremden Ideen der Aufklärung, verbunden mit materiellen und sozialistischen Strömungen bei uns mächtig wurden."

Dann kam die Wirtschaftskrise. Im Frühjahr 1930 redete Dinkelacker über die Rolle des Reichsbanners ("Das Gewissen der republikanischen Parteien") und gab seiner Erleichterung über Hindenburgs Unterschrift unter den Youngplan Ausdruck. Dann kam das Präsidialsystem ins Blickfeld, wie es in der Verfassung für Notlagen vorgesehen war (Minderheitskabinet Brüning am 30.3.30). In der Krise schien es, als seien parlamentarische Mehrheiten, egal welcher Zusammensetzung, nicht mehr zu gewinnen. Die Herausforderungen für eine Neuorientierung der DDP, für ein neues Programm, ja für eine neue Partei lagen auf der Hand. Der spätere Berliner CDU-Abgeordnete Ernst Lemmer (geb.1898), damals DDP, hatte, zunächst unter den Jüngeren ('Kriegsgeneration'), einen 'Sozialrepublikanischen Kreis', gegründet, der Ziele eines Aktionsprogramms vorlegte:

Wahlreform: Mehrheitswahlrecht. Reichsreform: Justiz- und Polizeihoheit beim Reich, Kulturhoheit bei den Ländern. Wirtschaftsdemokratie: Gleichberechtigte Mitwirkung der Arbeitnehmer an der Ordnung und Regelung der deutschen Wirtschaft Ostsiedlung: Zurückdrängung des Großgrundbesitzes und Intensivierung der Siedlungspolitik in Ostdeutschland. Grossdeutschland: Zusammenschluß mit Österreich.

Ernaz Varrentrapp meinte: "In der sozialen und verantwortungsbewußten Richtung steht die Arbeit des Kreises allem nahe, was wir seinerzeit 1928 in Betzdorf gesprochen und was ich geredet habe."[8] Daum und Dinkelacker traten dem Kreis im Frühsommer 1930 bei. Dinkelacker schrieb, angeregt durch den ersten Punkt des Aktionsprogramms, "Grundgedanken zu einer Wahlreform". Hier sein erster Paragraph:

"Das Prinzip des Verhältniswahlrechts muss aufrecht erhalten werden, die Wiedereinführung eines Mehrheitswahlrechts früherer Art oder auch nach heutigem englischem Muster ist abzulehnen, denn die Arbeit und die Stimmabgabe für eine Partei wie die demokratische, deren wertvollstes Gedankengut leider kein Artikel für Massenagitation ist, aber darum erst recht stets als Sauerteig fürs Ganze nötig ist, würde damit in weiten Bezirken unseres Vaterlandes bei den gegebenen Verhältnissen praktisch aussichtslos und wertlos werden."[9]

Am 18. Juli 1930 verweigerte das Parlament dem Kabinet Brüning die erhoffte Zustimmung zur Realisierung seiner Finanzierungskonzepte (für Arbeitslosenversicherung etc.) per Notverordnung, wohl wissend, daß der Kanzler für diesen Fall den Auflösungsbescheid des Präsidenten parat hatte. Neuwahlen wurden auf den 14. September festgelegt. Jetzt mußte die zerfallende DDP improvisieren. Der Jungdeutsche Orden (Jungdo) war eine mitgliederstarke (880 000) bündische Organisation, die im Unterschied zu anderen bündischen, paramilitärischen Verbänden kein antifranzösiches Ressentiment pflegte, und die, wenn auch nur in ihrer politischen Organisation, die antisemitische Haltung (nach außen hin) abgelegt hatte. In der Erkenntnis, vor allem ein Potential jüngerer Wähler erschließen zu müssen, einigten sich DDP-Politiker mit dem Jungdo auf eine Neugründung, die Deutsche Staatspartei. Das Kalkül, der Rechten 'national-sozial' denkende Wähler zu entziehen, ging nicht auf. Nach den Septemberwahlen saßen 107 uniformierte NSDAP-Abgeordnete im Wallotbau. Die Staatspartei hatte gegenüber der DDP 5 Sitze verloren (im Landkreis Altenkirchen hatte sie gegenüber 1928 ein paar Stimmen gewonnen, die NSDAP war von 3,2 auf 20,2% gestiegen). Dinkelacker kommentierte:

"Dass alle, die die Gründung der Staatspartei freudig begrüsst haben, davon sehr enttäuscht sind, ist klar... Einmal ist es der zur Genüge bekannte Zug der Unzufriedenen, der Arbeitslosen und wirklich Notleidenden nach den extremen Flügeln, der von grossen ideellen Gesichtspunkten, wie sie grade einer Staatspartei so wesentlich sind, heute einfach nichts wissen will, der auch vor allem nicht Erkenntnis dafür zeigt, dass dauernde Besserung unserer wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse nicht durch Einzelmaßnahmen, wie Abbau von Gehältern und Ministerpensionen geschaffen werden kann, sondern nur durch grosszügige weitschauende Reformen, die sich darum aber auch nicht von heute auf morgen durchführen lassen und vor allem auch keine plötzliche Besserung bringen können. Zum anderen ... sind bei den Wahlen von beiden Seiten (DDP und Jungdo KS) viele abgesprungen... Speziell sind von den Demokraten zweifellos die jüdischen Staatsbürger in grösserer Zahl wegen der bekannten Einstellung des jungdeutschen Ordens abgeschwenkt, was ich aus verschiedenen örtlichen Wahlergebnissen, sowie auch aus Unterredungen deutlich feststellen konnte. Ich möchte aber an dieser Stelle, wo ich es vertraulich tun kann, doch auch aussprechen, dass ich es nicht bedauere, wenn die jüdischen Staatsbürger, denen ich wahrhaftig ihre vollen Staatsbürgerrechte zugestehe, nicht in relativ so starker Zahl in der Staatspartei hervortreten wie es in der DDP mehr und mehr der Fall war."[10]

Für Juli 1930 hatte Dinkelacker eine Landschulwoche beantragt und fuhr mit der Obersekunda, 24 Schülern und 2 Schülerinnen, und dem jungen Kollegen Franz Sester an die Möhnetalsperre[11], Quartier in der Jugendherberge.[12] 1931 sprach er in der Schulverfassungsfeier. Das Schulorchester spielte Mozartsymphonie op 210, langsamer Satz, und J.J. Fuchs, Ouvertüre, Gedichte wurden vorgetragen, der Schulchor sang Mendelssohn, "Herr sei mir gnädig" und zum Schluß "Freude, schöner Götterfunke". Die Siegblätter druckten am 21. September seitenlang Dinkelackers Ausführungen im Wortlaut ab. Hier ein paar Kernsätze einer Rede, die nicht frei war von konventionellem Pathos und angepaßten Formulierungen ("Und wahrlich, unser hochverehrter Reichspräsident von Hindenburg stellt doch eine edle Verkörperung dieser höchsten Spitze eines demokratisch-republikanischen Staates dar!"), für heutige Begriffe zu sehr auf die revanchistischen Forderungen der politischen Rechten, zu defensiv auf sie überhaupt, eingeht, selbst wenn sie versucht, der simplen Führervorstellung eine entwickeltere entgegenzuhalten. Hier ein paar freiere Kernsätze:

"...möchte ich, ohne mich in Einzelheiten zu verlieren, heute 3 große Gesichtspunkte herausgreifen, die als Ziele in unserer Verfassung vorgezeichnet, bezw. verankert, ich sage nicht: durch sie schon verwirklicht sind, weil die Verwirklichung von den Menschen und nicht von den Buchstaben abhängt. Ich könnte sie kennzeichnen durch die 3 Worte unseres Deutschlandliedes: "Einigkeit und Recht und Freiheit", möchte aber genauer so formulieren: Einheitliches grossdeutsches Reich, Freiheit und Gleichberechtigung nach außen, wahre, echte Demokratie im Innern...Ist nicht, um nun mal im Rahmen der Schule zu bleiben, auch Euch, liebe Jungen und Mädels, die ihr neben starkem Freiheitsdrang ein gesundes Verlangen nach Führertum habt, der Lehrer der liebste und geachteste, der zwar, wo es nötig ist, energisch eingreift und Autorität zu wahren weiß, der aber doch durch seine ganze Tätigkeit erkennen läßt, daß er Euch zu selbständigem Urteil, zu freier, offener Aussprache, und soweit möglich , auch zur Mitarbeit im Schulleben erziehen möchte, dem bloßes Kommandieren und Pauken im Herzen zuwider ist, der es am liebsten hätte, wenn er schließlich nur euer älterer Kamerad sein könnte, der Euch in alles, was geistige und körperliche Bildung Euch an Werten zu geben vermag, einführt, damit ihr ihm in freier, ungezwungener Mitarbeit folgt und er so schließlich selbst entbehrlich wird. / Wenn ihr das, woran ich nicht zweifle, von Herzen bejaht, merkt Ihr dann nicht, daß es ein krasser Widerspruch wäre, wenn ihr etwa im staatlichen Leben den Diktator, dem sich die anderen mehr oder weniger willenlos zu unterwerfen haben, als den idealen Führer, die Diktatur, die ja vorübergehend mal notwendig sein mag, als die ideale Staatsform betrachten würdet?"

Ins Repertoire liberaler Rhetorik gehörte im übrigen das Beispiel Steins, Dinkelacker verwendete es mehrfach. Der "Lehrer-Kamerad"[13] und "Verfassungsrealist" ahnte wohl kaum, daß die Schule heute diesen Namen tragen würde. Herr Frey (vermutlich der Herausgeber der Zeitung) schickte ihm das Manuskript zurück mit der Bemerkung "Es ist nicht hoch genug einzuschätzen, daß unsere Jugend besonders in hiesiger Gegend auch einmal solche Gedankengänge hört."

Im Herbst löste sich die Ortsgruppe der DDP endgültig auf, zugunsten einer Kreisgruppe Betzdorf-Altenkirchen der Staatspartei, mit Dinkelacker als erstem Vorsitzenden.

Am 18. Januar 1931 (ein sonst von der politischen Rechten in Anspruch genommenes Datum) kam auf Anregung Dinkelackers Hubert Meurer nach Betzdorf zu einem öffentlichen Referat "für die Freunde und Anhänger des republikanischen Staatsgedanken". Thema: "Der Nationalsozialismus ohne Maske". Meurer, früher Redakteur der RWVZ und 'Kreisführer' des RB, jetzt in Magdeburg, reiste im Auftrag der Bundesleitung und hielt Vorträge überall in Deutschland. Seine alte Zeitung berichtete:

"Angehörige aller Parteien und Berufe füllten den großen Saal der Bürgergesellschaft. Man war gespannt, was der Redner zu diesem heiklen Thema zu sagen habe ... Die Versammlung wurde eröfifnet und geleitet von Herrn Studienrat Dr. Dinkelacker ... In seinen Begrüßungsworten wies er auf die schwere wirtschaftliche Not hin, die zusammenfalle mit einer Weltwirtschaftskrise, wie man sie bisher noch nicht gekannt habe. Diese Volksnot, die durch schwere innere und äußere Kriegslasten bedingt sei, habe zur Folge gehabt, daß Millionen Volksgenossen nicht mehr ein noch aus wüßten und ohne weiteres Nachdenken den Gruppen und Parteien zuströmten, die ihnen baldige Hilfe aus dieser Not versprächen."

Dinkelacker habe gesagt, das Programm der NSDAP müsse in ganz wesentlichen Punkten zurückgewiesen werden, schrieb die Zeitung. Dinkelacker am Rand: "falsch berichtet!" Sollte wohl heißen, so einfach habe er es sich nicht gemacht. Hubert Meurer ging dann mit der Hitlerpartei ins Gericht:

"An vielen Zitaten aus Hitlers Buch "Mein Kampf" und aus anderer nationalsozialistischer Literatur von Jung, Rosenberg usw. legte er dar, wie es um Hitlers Weltanschauung steht. Keine christliche Kirche, ganz gleich ob katholisch oder evangelisch, könne Hitler auf diesem Pfade folgen, sondern müsse die Vermengung solcher religiöser Begriffe ablehnen. Hitlers Werk zeige aber auch, wie er den Kampf um die Macht zu führen gedenkt: "Brutale Gewalt gegen Geist und Idee" so lautet eines seiner berühmten Zitate ... Der Kampf würde geführt zwischen Christenkreuz und Hakenkreuz, zwischen der schwarzrotgoldenen Reichsfahne und der Hakenkreuzfahne. Die Republikaner würden diesen Kampf kämpfen mit Waffen des Geistes und in anständiger Art, in der festen Gewißheit, daß der Nationalsozialismus als vorübergehende Zeiterscheinung sich selbst an der eigenen Lehre zugrunde richte."

1932 entwickelte Dinkelacker seinen Freuden in Partei und Reichsbanner "Leitgedanken zur Frage der Arbeitslosigkeit". Im vierseitigen Typoskript hieß es zum Schluß:

"Zweifellos fehlt es aber in der Welt heut noch keineswegs an der nötigen Basis (vgl. die riesige Getreideerzeugung der Welt und vieles andere), um der Menschheit ein menschenwürdiges Dasein samt dem Genuss kultureller Güter zu ermöglichen. Aber es gehört dazu eine Weltorganisation aus christlich-sozialer Gesinnung unter planvoller Verteilung der Produktion und Milderung der heutigen ungerechten Verteilung der Güter. Wenn sich die Menschheit hierüber nicht verständigt, dann müssen immer wieder in einzelnen Gegenden der Erde Elend, Kriege und deren Folgen herrschen."[14]

Das Wahljahr 1932 begann mit dem Sieg Hindenburgs (53%) gegen Hitler (36%) am 10 April. Drei Tage später wurde die SA verboten. Am 20. redete in der Betzdorfer Turnhalle Pfarrer Münchmeyer/Borkum vor 750 Zuhörern für die NSDAP (Landtagswahlen standen an). Die "Sieglätter" hatten ihre Leser vor dem Redner gewarnt. Jetzt berichtete die Betzdorfer Zeitung von Münchmeyers Rede:

"Er bezeichnete den Artikel in den Siegblättern als eine Gemeinheit. Den verantwortlich zeichnenden Redakteur müsse er als schlimmer wie Judas Ischariot bezeichnen. Wer in Betzdorf diese verlogene Zentrumszeitung noch lese, sei zu bedauern. Der Teufel in der Hölle könne nicht so lügen, wie dieses schmutzige Zentrumsblatt. Jeder echte Katholik, der sich nicht zum Zentrum bekenne, sollte es sich energisch verbitten, daß dieses Zentrumsblatt noch einmal in seine Wohnung komme oder Klage erheben, weil man es wage, die Wohnung des Lesers als Schuttabladeplatz zu benutzen. Redner hielt das Blatt mit Fingerspitzen hoch, um es dann fallen zu lassen und mit dem Fuße wegzustoßen. Den anwesenden Vertreter der Zeitung forderte er auf, sofort den Saal zu verlassen, da er nicht gewillt sei, seine Luft zu atmen ...In seinem Schlußwort gab Redner noch Äusserungen bekannt, die ihm zu Ohr gekommen. So habe Kaplan Kiefer-Betzdorf in einer Zentrumsversammlung in Scheuerfeld Friedrich den Großen, den größten aller Deutschen einen Lumpen genannt. Strafantrag sei hierwegen bereits gestellt. Ein Studienrat Dr. Dinkelacker-Betzdorf habe auf die Frage eines Klassenschülers "Warum SA und SS verboten seien" geantwortet: "Warum sperrt man Verbrecher ein." Für solche Gesinnung, ehrbare Leute mit Verbrechern zu vergleichen, so sagte der Redner, sei im dritten Reich kein Platz mehr. Solche Menschen seien nicht mehr wert, daß die Sonne sie bescheine, die kleinen Kinder müßten auf sie mit den Fingern zeigen..."

Noch war das "dritte Reich" nicht gekommen und unter dem 22. druckte die Betzdorfer Zeitung eine Erklärung der Schüler der erwähnten Klasse ab[15]: "Zur Richtigstellung"

"Wir werden gebeten, folgender Zuschrift Raum zu geben: "In einer Versammlung der NSDAP am 19. 4. hat Redner auf eine Äusserung des Herrn Dr. Dinkelackers in einer Aussprache über den Dank des Herrn Reichspräsidenten und seinen Aufruf zur Einigkeit Bezug genommen. Wir stellen fest, daß diese Äusserung gefallen ist und dass man sie doppelt verstehen kann. Wir wenden uns aber gegen die Art, auf die man Herrn Dr. Dinkelacker angegriffen hat. Oberprima A des Realgymnasiums""

In der Erinnerung von Hans Fritzsche stellt sich die Sache so dar als sei die Erklärung der Klasse gar nicht erschienen[16]. In Dinkelackers Papieren findet sich der Zeitungsausschnitt der 'Betzdorfer' angeheftet an folgende maschinenschriftliche Fassung:

"In einer Wahlversammlung der NSDAP am 19. April hat der Redner auf eine Äusserung des Herrn Dr. Dinkelacker Bezug genommen, die in einer etwas erregten Ausprache nach der Reichspräsidentenwahl am 14. April in der Klasse gefallen ist. Wir stellen fest, ohne parteipolitisch irgendwie Stellung zu nehmen, dass Herr Dr. Dinkelacker mit dieser Äusserung die SA und SS nicht als Verbrecher bezeichnen wollte, sondern er wollte seiner Meinung Ausdruck geben, dass gegen die SA vorgegangen werden müsse, wenn sie irgendwie gegen die Gesetze gehandelt habe. Eine persönliche Verunglimpfung unseres Klassenlehrers weisen wir einmütig zurück./ Im Namen der Oberprima A / Der Vertrauensmann gez. Albrecht Schrenk"

Es ist nicht mehr festzustellen, ob es sich bei dieser Fassung um den Entwurf der Schüler (unter ihnen der 'Kolporteur', der vermutlich über sein Ziel hinausgeschossen war) handelte. Das in Briefform geschnittene und gefaltete Blatt, die Schrift, die nicht von Dinkelackers Maschine stammte, deuten darauf hin, daß es sich um das Original handelt, das dann 'redigiert' wurde. Diese Vorstellung läßt sich jedenfalls besser mit der Erinnerung Fritzsches verbinden, daß die Zeitung den Abdruck abgelehnt habe. Die ursprüngliche Erklärung hätte sie dann in der Tat nicht wiedergegeben.

Im Reichstagswahlkampf zu den Juliwahlen 1932 redete für die Staatspartei in Betzdorf der Syndikus des Hansabundes, einer liberalen Arbeitgebervereinigung, Herr Reif, zum Thema "Soll der Mittelstand untergehen?" In Altenkirchen sprach Kurt Goepel, Anführer einer studentischen Gruppe der DVP, die sich der Staatspartei angeschlossen hatte, über "Hitler: Chaos in Preußen und Reich. Rettung: freiheitliche Mitte." Die Altenkirchener Zeitung druckte einen kurzen Bericht, einen Leserbrief, den vermutlich Dinkelacker verfaßt hatte:

"Die Ausführungen des Redners Dr. Kurt Goepel aus Berlin waren von strenger Sachlichkeit und getragen vom Ernst der Zeit. Es war wirklich eine Erhebung mit anzuhören, wie dieser Redner es verstand, seine Zuhörer zu fesseln, indem er auf die Gefahren einer ausgesprochenen Rechtsregierung hinwies und die Tätigkeit der Staatspartei in der Regierung so sachlich behandelte... Erfreulich war das Bekenntnis zum Wehrwillen, den man der Jugend durch noch so intensive pazifistische Propaganda nicht nehmen könne... Die Staatspartei steht bewußt auf dem Boden der Republik und hofft aufbauend das zischen SPD und DNVP stehende Bürgertum zusammen zu bringen..."[17]

Das Wahlergebnis war eine Katastrophe. Die Staatspartei hatte nur Theodor Heuß und Gustav Stolper in Direktwahl und den Finanzminister im Kabinet Brüning, Hermann Dietrich, und Ernst Lemmer auf der Reichsliste durchbringen können. Die Nationalsozialisten hatten jetzt 290 Abgeordnete. Der Sozial-Republikanische Kreis, jetzt - Bund, meldete sich noch einmal, unter dem 11.7., mit einer von Ernaz Varrentrapp unterzeichneten, programmatischen, wenn auch wenig konkreten Aufforderung zur Mitarbeit:

"Im deutschen Volk gibt es heute eine große Zahl von politisch Heimatlosen. Dieser Zustand kann den nicht verwundern, der erkannt hat, daß das ganze deutsche Parteiensystem sich in einer tiefgehenden Umwandlung befindet ... Die rechtsradikale Richtung hat mit ihrer skrupellosen demagogischen Agitation viel äußeren Erfolg gehabt ... Auf seine ehrliche Verwirklichung wartet aber immer noch der echte Volksstaat, der weder den nationalen Gedanken dem sozialen opfert, noch den sozialen dem nationalen, sondern gerade aus deren Verbindung und gegenseitiger Durchdringung die Kraft zu einer lebendigen und gerechten Neugestaltung des Gemeinschaftslebens zieht. Auf dem tätigen Willen zu diesem Staat muß die Partei aufgebaut sein, welche die neue Heimat der Suchenden zu werden bestimmt ist ..."[18]

Dinkelacker antwortete unter dem 25. September freundlich aber bestimmt, es sei ja mit Recht zum Ausdruck gekommen, daß

"zur Zeit eine Parteineugründung eine verfehlte Sache wäre, weil für etwas Zugkräftiges die Zeit noch nicht gekommen ist. Dann hat es auch keinen Wert, eine Organisation, die immerhin noch durch ihr Bestehen eine große Anzahl für gesunde politische Entwicklungen auifnahmebereiter Menschen zusammenhält, jetzt zu verlassen. Und gleichzeitig noch einer weiteren Organisation anzugehören, erlauben mir zur Zeit meine Finanzen beim besten Willen nicht."[19]

Auch, aber nicht nur wegen der knapperen Finanzen trat Dinkelacker im Herbst 1932 aus dem Reichsbanner aus. Er war frustriert vom politischen Desinteresse der Mitglieder. Als im November noch einmal gewählt wurde, zeigte sich bei der NSDAP zwar ein leichter Rückgang (im Landkreis Altenkirchen ebenfalls), aber die Staatspartei hatte nichts gewonnen. Im Gegenteil: sie brachte nur noch im Baden-Württembergischen Wahlkreis den Kandidat Reinhold Maier durch und aufs Reichsebene nur noch Dietrich. Im Wahlkampf vor diesen letzten freien Wahlen schrieb der Parteifreund Karl Königsheim/ Altenkirchen an Dinkelacker:

"... Bei der augenblicklichen Stimmung und Einstellung der Bevölkerung ist eine Aussicht auf Zuwachs vollkommen ausgeschlossen, selbst die wenigen Anhänger wollen nicht die St.P. wählen, damit die Stimmen nicht verloren gehen. Es ist kein böser Wille, aber leider liegen die Verhältnisse so. Von den mir bekannten Lehrern ist nicht ein einziger St.-P und die weiteren kommen selbst zu einer privaten Besprechung nicht. Wir müssen erst mal wieder einige Jahre vergehen lassen, um dann später zu sehen, wie die Verhältnisse sich geändert haben. Wenn Anhänger wie ich den Mut verlieren, dann können wir von der großen Wählerschaft nicht verlangen, daß solche uns unterstützt. Trotzdem wollen wir kleines Häuflein in Treue zusammenhalten, damit der Stamm dieser wissenschaftlichen und freiheitlichen Partei bestehen bleibt, die Zeit spricht für uns..."

Dinkelacker hatte noch einmal Theodor Bohner, inzwischen Oberschulrat, eingeladen und Königsheim nach den Aussichten einer Veranstaltung in Altenkirchen gefragt. Es gab keine Aussichten mehr. Im letzten Akt seiner parteipolitischen Tätigkeit lud Dinkelacker die Freunde mit Anschreiben zu einer "Staatsbürgerlichen Tagung" am 1. November 1932, nachmittags 4 Uhr im "Deutschen Haus" ein. Redner Dr. Bohner/Berlin über das Thema "Staat in der Krise":

"Bei der heutigen Art der politischen Agitation wenden wir uns bewusst nur an Menschen, die gewillt sind, ohne Illusionen und Schlagworte sich in sachlicher Aussprache mit den brennenden Lebensfragen unseres Volkes auseinanderzusetzen, und denen eine gesunde, von freiheitlichem und nationalem Geiste durchdrungene, von echtem, geistigem Führertum getragene Demokratie ein kostbares Gut bedeutet."[20]

Der Beamtenstatus des Studienrats sicherte auch in der Wirtschaftskrise das Einkommen. Allerdings brachte die "Brüningsche Notverordnung", die auch die Regierung Hitler nie zurücknahm eine Kürzung des Gehalts um 21%. Wie sich die Krise sonst noch in Dinkelackers persönlichen Umständen bemerkbar macht, klingt im schon zitierten Brief an Varrentrapp an[21]:

"Seit einem halben Jahr steht mir nämlich die kleine Mietwohnung im 2. Stock meines Hauses leer, der bei uns wohnende Schwager verdient nicht zur Hälfte das zu seinem Leben notwendigste. Um unsere mit Leib und Seele am Studium hängende älteste Tochter Hilde bis jetzt studieren lassen zu können - sie hat 3 Semester hinter sich - hat meine Frau nun schon über 1 Jahr den Haushalt ohne Mädchen, mit nur gelegentlicher Hilfe geschafft, und nun muss Hilde mal 1 Semester zu Hause bleiben, bis dann unsere Lore nächste Ostern die Reifeprüfung hinter sich hat."

Bald sollte es schlimmer kommen. Dinkelacker blieb aber noch Zeit, seine Klasse zum Abitur zu begleiten. Zu den formalen Vorbereitungen der Prüfungszulassung zählten vom Lehrer verfaßte 'Charakteristiken' seiner Schüler. Die hatten im Jahr zuvor ihre 'Lebensläufe' und schriftlichen Selbsteinschätzungen abgegeben, auf die der Klassenlehrer jetzt zurückgreifen konnte. Was kam dabei heraus? Als Beispiele hier drei von neunzehn seiner Lehrer-Hausaufgaben, willkürlich ausgewählt als die, in denen 'politisch' als Adjektiv vorkommnt:

"Er ist eine rauhe, aber gerade Natur; im elterlichen Geschäft, besonders nach dem Tode des im Sommer 1930 verunglückten Vaters, schon früh in Anspruch genommen, zeigt er eine etwas eigenwillige Selbständigkeit. Bei stärkerem Interesse für realwissenschaftliche Fächer wendet er sich in der Geschichte besonders politischen Meinungsfragen zu, während der Sinn für ideelle Werte weniger entwickelt ist. Seine Freizeit verwendet er mit Vorliebe für den Sport. Bei guter Denkfähigkeit hat er es früher an Eifer und Konzentration im Unterricht manchmal fehlen lassen, hat sich aber vor allem in der OI mit Ernst bemüht, einen im Durchschnitt genügenden Leistungsstand zu erreichenEine entschiedene musikalische Veranlagung hat sich bei dem Schüler in den letzten Jahren mehr und mehr entfaltet und schon erfreuliche Leistungen auf diesem Gebiete gezeitigt und seine Berufswahl klar bestimmt. Daneben liess er sich bei seiner auch sonst im ganzen guten Begabung durch die Schularbeit nicht allzusehr anfechten und ging dafür gerne Liebhabereien nach, zu denen in der Primazeit vor allem die Beschäftigung mit brennenden politischen Fragen gehörte. Auf Klassenfahrten sorgte er stets für musikalische und humoristische Unterhaltung.Ein kerndeutscher, von soldatischem Geiste erfüllter Vater und eine künstlerisch tätige, französische Mutter, dazu ein starker Wechsel des Wohnsitzes der Eltern während seiner Kindheit bedingten bei dem Schüler auch vielseitige, insbesondere schöngeistig-künstlerische und geschichtlich-politische Interessen. Er ist zu selbständigem Erfassen von Gedankengängen und Problemen fähig und überdurchschnittlich begabt. Wiewohl selbstbewusst, so dass er sich manchmal in jugendlicher Begeisterung an Urteilsvermögen zuviel zutraut, bleibt er höflich und für anderweitige Belehrung zugänglich. In der Jugendbewegung ist er mit zweifellosem Führertalent tätig; er verfügt über eine grosse Arbeitskraft und ist um Ausbildungsmöglichkeiten ausserhalb der Schule bemüht, zudem schon jetzt bestrebt, durch eigenen Verdienst sich wirtschaftlich unabhängig zu machen."[22]

Die beiden ersten wurden Ärzte, der dritte Architekt.

* * *


[1]Schreiben vom 13.5.1928

[2]Schreiben von S.(?) Becher an Dinkelacker vom 9.5.1928

[3]Brief an Varrentrapp vom 27.5.1928 PALS. Der ehemalige Schüler Willi Ermert hatte 1921 Abitur gemacht und war Jurist geworden. Anfeindungen hielten sich offenbar hartnäckig. An gleicher Stelle schrieb Dinkelacker: "Wie diese Sache immer noch nachwirkt, zeigt u.a. die Tatsache, dass man es, wie ich gestern erst hörte, Frl. Veith bereits übel vermerkt hat, dass sie kürzlich meine Frau auf offener Strasse grüsste und ihr die Hand gab."

[4]Ebenda

[5]Dinkelackers Wortgebrauch, auch in Anführungsstrichen war leichtfertig. Die 'Judenfrage' war durch die republikanische Gleichstellung erledigt. Im praktischen Umgang mit der verfassungsgemäßen Gleichstellung stellte sich allerdings, wenn man so will, eine 'Deutschenfrage'.

[6]Nachdruck aus den Heimat-Jahrbüchern des Kreises Altenkirchen und der angrenzenden Gemeinden der Jahre 1975-1978. Vorwort Hans Fritzsche, Altenkirchen, im Verlag des Heimatvereins, o.J.

[7]Betzdorfer Zeitung Nr. 186 vom 10.8.29, zitiert nach dem Wiederabdruck in der Ausgabe vom 9.9.1933

[8]Brief vom 19.6.30

[9]Beilage zu einem Brief an Ernst Lemmer vom 6.6.1930

[10]Brief an Dinkelacker an Muhle vom 18.9.30, Durchschlag

[11]Die eine der beiden Schülerinnen war seine Tochter Lore. Seine drei Jahre ältere Tochter Hilde, Abiturientin vom Frühjahr fuhr als Begleiterin der Schülerinnen mit.

[12]Programm: Schwimmen und Wandern. Zeichnen und Malen im Freien, Pflanzenbestimmungen, Wasserstandsmessungen und Volumenberechnungen, Besichtigung der Sperrmauer-Einrichtungen, Unterricht über den Ruhrtalsperrenverein. Vorher waren Aufsatzthemen vergeben worden wie u.a. "Wasser im Banne der Technik", die dann während des Aufenthaltes ausgestaltet wurden. Dinkelacker verfaßte einen 6-seitigen Bericht.

[13]Vgl. Jakob Robert Schmid, Le maître-camerade et la pédagogie libertaire, Paris, Maspero 1976. Eine Darstellung der Schulexperimente der 10er-30er Jahre, der Freien Schulgemeinden, der Hamburger Versuchsschulen, zuerst erschienen 1936 in Neuchâtel

[14]Typoskript o.D. (1932)

[15]Die Klasse im Ganzen war wohl wenig berührt durch die Aktion. Dafür spricht auch, daß Dinkelackers jüngere Tochter Lore heute (2001) überhaupt keine Erinnerung an den Vorfall hat. 'Politik' interessierte nur wenige Schüler, und an solche Berichte in der BZ hatte man sich gewöhnt.

[16]Hans Fritzsche, "Abitur im Jahr der "Machtergreifung"1933" Festschrift 2001, S.58

[17]Zeitungsausschnitt (vermutl. Altenkirchener Zeitung)

[18]Hektographiertes Rundschreiben

[19]Brief an Varrentrapp vom 25.9.32. Durchschlag

[20]Einladungsschreiben vom 28.10.32 PALS. Zusatz: "Wir bitten Sie, auch Angehörige und Bekannte, die dahin gehendes Interesse besitzen, mitzubringen. Für auswärtige Besucher sei noch daran erinnert, dass am 1. November Sonntagskarten zu haben sind."

[21]Das Studienratsgehalt einschließlich Wohngeld nach 29 Dienstjahren lag bei brutto 9500 RM jährlich, nach Abzug der "Brüning-Abgabe" bei 7500. Nach Steuerabzug blieben vielleicht 6000 RM (etwa das Dreifache eines Arbeiterlohns in dieser Zeit der Arbeitslosigkeit). Schuldendienste für den Hausbau belasteten die Familie mit ca 1000 RM jährlich.

[22]Lebensläufe und 'Charakteristiken' der OIa 1929/30

 

 

 

Willkür

"Das achtteilige Riesenzelt auf den Siegwiesen bei der Papierfabrik, das 25-30 000 Menschen fassen kann, erwies sich - was wohl niemand vorausgeahnt hatte - als zu klein. Schon gegen 6 Uhr, als der Menschenstrom auf den Landstraßen von Betzdorf und Wissen her noch nicht versiegt war, standen die Menschen im Zelt dichtgedrängt, wie gemauert, das letzte Plätzchen füllend... Der Zustrom zum Zelt setzte schon gestern morgen ein. Auto um Auto rollte aus Richtung Siegen, Daaden, Wissen - Köln heran, daneben hunderte Motorräder, Fahrräder ... Kurz nach Mittag, als die ersten zum Bersten gefüllten Sonderzüge in Betzdorf einliefen wurde der Betrieb schon beängstigend..."

November 1932. Kein Rockkonzert bevor es sowas gab, sondern "Die größte Kundgebung, die Westerwald und Sieg je gesehen" (BZ):

"In größeren und kleineren Trupps marschierten die SA- und SS-Kolonnen heran. Den größten Zug bildete die SA des Siegerlandes, die mit etwa 2000 Mann durch Betzdorf marschierte... Von 3Uhr an spielten die Koblenzer und die Herdorfer SA-Kapelle und das Siegener SA-Trommler- und Pfeiferkorps abwechselnd Militärmärsche...Punkt 6 Uhr erfolgte der 'Einmarsch der Fahnen'. Vorauf die Gaustandarte, marschierten die Träger von 30 Hakenkreuzfahnen zum blumengeschmückten Podium und stellten sich im Hintergrunde auf. Auf einem breiten Band an der Rückwand des Podiums standen weithin lesbar die Worte "Für Arbeit, Freiheit und Brot" ... Kurz nach 7 Uhr betrat Hitler ... mit seinem Stab das Zelt ... Er war in der braunen SA-Uniform, machte einen frischen Eindruck. Ungeheurer Jubel umbrauste ihn, nicht enden wollende Heilrufe wurden auf ihn ausgebracht. Ein kleiner Junge, ein kleines Mädchen überreichten ihm Blumensträuße, Blumensträuße wurden ihm aus dem Publikum zugeworfen. Junge Mädchen durchbrachen den Kordon der ums Podium gruppierten SS-Leute, um Hitler die Hand zu drücken. Wohl zehn Minuten lang tosten die Zurufe, immer wieder zu einem Orkan anbrausend, wenn Hitler die Hand zum Gruß und Dank erhob, insbesondere zum Gruß der ersten 10 Nationalsozialisten im Kreise Altenkirchen, die dicht am Podium standen ... Hitler spricht: "... Ich bin ein einziges Mal in eine politische Bewegung gegangen, die ich begründet habe. In ihr bin ich geblieben, in ihr werde ich auch sterben. Wenn man ein so schweres politisches Gepäck besitzt, wie ich, dann kann man nicht mit 13 Millionen Menschen heute in die Kartoffeln morgen aus den Kartoffeln. Die 13 Millionen erwarten, daß ihre Bewegung eingesetzt wird in dem Augenblick, in dem des deutschen Volkes große Stunde gekommen ist ... Aus den 13 Millionen müssen einst 50-60 Millionen werden ... Mein Wert liegt darin, daß ich ein Deutschland der Zukunft mitbringe. Das ist mein Werk, mein Wert und meine Verpflichtung. Keine Macht der Welt kann mich davon entfernen ..." (Minutenlanger Beifall) - Die Menge sang das Deutschlandlied."[1]

Der zu drei Vierteln die Seite füllende Bericht der 'Betzdorfer Zeitung' war ein Teil der Inszenierung und ein Vorgeschmack von dem, was an Inszenierungen auf Staatskosten ins Haus stand. Hitler in Scheuerfeld - die Menschen waren begeistert. Trotzdem sank auch im Landkreis Altenkirchen die Wählerzahl der NSDAP: von 16718 im Juli auf 15200 bei den Novemberwahlen (das waren 31,7%, das Zentrum sammelte 40,5%). Nach der Bildung der Hitlerregierung (mit dem Deutschnationalen Koalitionspartner), nach Reichstagsbrand, ersten Verfolgungen von politischen Gegnern und nicht mehr freien Märzwahlen folgten Anfang April der erste antisemitische Pogrom und das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums". Tausende von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern wurden vor den Wahlen verhaftet und terrorisiert und der Staatsterror dauerte an.

Am 15 Februar hatte Dinkelacker noch einmal zur Mitgliederversammlung am Sonntag, den 19. nachmittags vier Uhr ins "Deutsche Haus" eingeladen. "Zwecks Besprechung der bevorstehenden Reichtstags-, Landtags- und Kommunalwahlen (insb. Kreistagswahlen!) :

"Da bei den diesmaligen Reichstags- und Landtagswahlen keine staatsparteiliche Stimme verloren gehen kann, so müssen wir angesichts der heutigen Verhältnisse alles tun, aum Freiheit und Demokratie nicht vor die Hunde gehen zu lassen. Freilich kann es sich, das sei zur Klarstellung gleich bemerkt, diesmal für uns nicht um öffentliche Agitation handeln. Mit der Bitte um vollständiges Erscheinen..."

Es kamen die Mitglieder Bracke, Daum, Eichhorn, Grünebaum, Tobias, Schäfer. Gäste waren Grünebaum (Sohn? KS)/Altenkirchen, Hilgerath/Katzwinkel.

In der Schule war Dinkelacker offenbar nicht vorsichtig genug. Am 27. Februar hing ein "Aufruf der Reichsregierung"[2] in der Schule aus, und Dinkelacker ließ sich gegenüber einem Kollegen (in der Pause im Flur, vermutlich Udo Rühl) zu einer kritischen Bemerkung hinreißen. Das führte zu einem Konflikt, der eine Woche später dem Oberschulrat bei dessen Besuch am 2. und 3. März vorgetragen und - so schien es -, in dessen Beisein beigelegt wurde. Um dann in einer Beschwerde seitens der DNVP 3 Monate später wieder aufzutauchen (s.u.).

Am 22. März schrieb die Betzdorfer Zeitung: "Nach der Eröfjfnung des Reichstags: Voraussichtlich Donnerstag Annahme des Ermächtigungsgesetzes." Am Vortag hatte man in Deutschland den "Tag von Postdam", gefeiert, der sich auf die Reichsgründung 1871 berufen konnte und sollte (wem das nicht gefiel, der ließ vielleicht im Stillen die Pariser Commune hochleben). Die 'Betzdorfer' berichtete unter "Heimatliche Nachrichten": "Nationale Feierstunde im Realgymnasium":

"Recht stimmungs- und gehaltvoll war die gestrige nationale Feierstunde des Realgymnasiums, die die Vertreter der hiesigen SA-Gruppe, Lehrer, Abiturienten und die gesamte Schülerschaft in der festlich geschmückten Aula vereinte. Nach den ersten Strophen des Liedes "Ich hab mich ergeben" sprach Oberstudiendirektor Lake kurz, aber packend zu der großen Schar der Versammelten. Er wies auf die hohe Bedeutung der Stunde hin, in der es gelte, vereint mit dem ganzen deutschen Volke, innerlich und mit ganzem Herzen, teilzunehmen an den großen und denkwürdigen Feierlichkeiten in Potsdam. Nach dem Verlesen einiger Kernsätze aus dem letzen Aufruf des Herrn Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda richtete er an die Schüler die Mahnworte, die Hoffmann von Fallersleben am 21. März 1871 dem Reichstag de neuen geeinten Reiches zurief: "Nun wanket nicht und haltet stand! Die Liebe für das Vaterland, für Deutschlands Recht und Freiheitshort bleib euer erst' und letztes Wort." Die letzten Strophen von "Ich hab mich ergeben" leiteten über zu den bewegenden Rundfunkübertragungen mit den Reden des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers. Mit dem Deutschlandlied schloß die erhebende Feier."

Die Inszenierung der Macht hatte die Schule erreicht. Heinrich Lakes Schlußwort lässt sich dabei lesen - und wurde so auch verstanden - als Ausdruck des Gedankens, den der ein oder andere haben mußte: "Wenn das nur gut geht." Die Skepsis und bei vielen die Angst waren da. Umso mehr, als der "Tag von Potsdam" auch im Dorf zur Kundgebung ausgestaltet wurde. Die BZ schrieb im Anschluß an die Notiz von der Schulfeier: "Der Nationalfeiertag",

"den das deutsche Volk gestern als Zeichen seiner nationalen Erhebung beging, ist ein Ereignis geworden, das in die Geschichte eingehen und vielen späteren Geschlechtern künden wird, mit welcher Inbrunst sich das deutsche Volk wieder auf den Nationalismus besann... Des Reiches greiser Führer Generalfeldmarschall von Hindenburg und sein im jugendlichen Feuer stehender Kanzler Adolf Hitler haben gestern in der denkwürdigen Garnisonkirche in Potsdam am Grabe Friedrich des Großen das Gelöbnis abgelegt, im Geiste von Potsdam für die Wohlfahrt des deutschen Volkes zu wirken und es hinzuführen zu neuem Glanz und Ruhm ... Überall an jedem Hause, in jedem Winkel Schwarzweißrot und Hakenkreuz, das einstige Zeichen der Furcht für viele, heute das Zeichen des Befreiers ... Durch die grandiose Erfindung des Rundfunks konnte das Vok alles miterleben, was sich da ereignete, als wenn es selbst dabei gewesen, ja vielleicht noch besser ... Die Feier in Betzdorf bestand aus dem Fackelzug am Abend. Während sich die Häuser in den Schmuck der Illumination warfen, sammelten sich die Vereine, die Schulen und die Bürger in der Friedrichstraße ... Bis nach Alsdorf mußten die letzten Teilnehmer marschieren, um sich anzureihen ... Den Zug eröfjfneten zwei berittene SA-Leute und das von Pferden gezogene Geschütz des Artillerievereins, das dieser sich auch eigenen Mitteln beschafft und sein Stolz ist ... Dann folgte die Feuerwehrkapelle, die die ganze Marschmusik zu leisten hatte und dann die Vereine mit ihren Fahnen in langer Reihe... Es war eine Freude, zu sehen, wie der greise Mann neben dem blutjungen Jüngling in strammer Haltung marschierte. Nicht weniger als 28 Fahnen wurden im Zug geführt... Der Zug mußte leider am Eisenbahnübergang bei der Apotheke wohl eine halbe Stunde angehalten werden wegen dem um 8.40 fälligen Eilzuge nach Siegen. Prachtvoll war das Bild, das der Zug mit dem Meer der Fackeln und Lampions beim Marsch auf die Höhe zur Turnhalle bot. Feierlich erklang währenddessen Glockengeläut. Die Feier auf dem Jahnplatz, der kaum die Menge fassen konnte, begann mit dem Lied "Oh Deutschland hoch in Ehren" , währenddessen der Holzstock angezündet wurde. Nachdem das Lied verklungen, hielt Architekt Bergerhoff die Festansprache ... Der Begriff Nationalfeiertag sei in den letzten vierzehn Jahren ein leerer Wahn gewesen. Die rote Meute habe an den unseligen Novembertagen, als noch deutsche Männer an der Front standen, die deutsche Einigkeit zerschlagen, die ruhm- und siegreiche schwarz-weiß-rote Fahne sei eingezogen und dafür das Tuch schwarz-rot-gold gehißt worden ... Als Treueschwur klang aus dem Munde Tausender ein dreifaches Hoch auf den Reichspräsidenten von Hindenburg und seinen Kanzler Adolf Hitler. Unter dem Salut von 21 Schüssen stieg feierlich das Deutschlandlied zum Himmel. Herr Bergerhoff betonte dann noch, daß nationale Männer trotz aller Schmach nicht den Nacken gebeugt haben und zu diesen zähle auch der Ehrengast des heutigen Abends, Gymnasialdirektor a. D. Stenger, dem heiliges nationales Denken und Wirken der roten Meute Anlaß gewesen, ihn von der Stätte der Jugendbildung zu entfernen und ihn durch die Nöte vieler Monate und Jahre zu treiben. Die nationale Erhebung werde die Schuldigen sich genau merken und mit gleichem Maß messen, wie man diesem Mann begegnet sei ... Die Reihe der Ansprachen (in der Turnhalle KS) eröfjfnete Herr Hendrich, der Vorsitzende des Kriegervereins, der zunächst der Feuerwehrkapelle und dem Tambourkorps dankte ... Dann begrüßte er Herrn Studiendirektor Stenger, der es sich nicht habe nehmen lassen, als alter Betzdorfer an der Feier teilzunehmen. Bügermeister Hanstein bezeichnete den Tag als nationalen Aufbruch durch geistige Umstellung ... Die Versammlung sang darauf das Deutschlandlied. Hierauf ergriff Studienrat Lohmann das Wort zu einer flammenden Ansprache ... Diese prachtvollen Worte betonte die Festversammlung mit stürmischem Beifall und sang dann das alte nationale Lied "Ich hab mich ergeben. " Studiendirektor Stenger hob in einer kurzen Schlußansprache die Erneuerung der sittlichen und religiösen Kräfte des Bismarckschen Reiches hervor ... Es werde auch einmal die Zeit kommen, daß das Kaisertum im deutschen Volke wieder aufgerichtet werde, daß das deutsche Volk das an seinem Kaiser begangene Unrecht wieder gut mache. Damit war die Feier zu Ende."[3]

Angst und Schrecken, die die Stimmung bei solchen Ereignissen und Zusammenkünften auch auslösen konnten, waren Absicht auf der Ebene der Inszenierung. Jakob Daum schrieb - wie auch immer 'beeindruckt' - unter dem 21. März 1933 einen merkwürdigen Brief an Dinkelacker:

"Ich habe in der letzten Zeit schwere seelische Kämpfe ausgefochten. Zu einer Entscheidung bin ich nun in heißer sachlicher Auseinandersetzung mit den Gedanken meines besten Freundes, der mich eigentlich aus dem Arbeiter- in den Lehrerstand gebracht hat, gekommen. Nun bin ich aber völlig entschieden. / Wir haben es seinerzeit nicht verstehen können, daß Herr Direktor Stenger, den Sie ja rein menschlich ebenso sehr veehrten wie ich, sich nicht in die damaligen Staatsnotwendigkeiten hineinleben konnte. Ich glaube, es wäre falsch, heute denselben Fehler zu begehen. / Dazu kommt aber noch eins: Ich kann nicht abwarten und beiseite stehen, ich muß aktiv an dem Neuaufbau mitarbeiten, der von den führenden Männern ehrlich gewollt wird, und ganz besonders muß das dann gelten, wenn man Einzelheiten vielleicht nicht immer für richtig hält... Die Mittelparteien sind zerschlagen. Nur bei der DNVP und der NSDAP ist die Möglichkeit, ernsthaft für Deutschland zu arbeiten. Die NSDAP hat in ein paar Wochen für die Einheit und Größe Deutschlands mehr erreicht, als das in Jahrhunderten möglich war, hat Ziele der DDP erreicht, die diese wegen ihrer auch von Ihnen getadelten zu großen Zurückhaltung - oder war es Schlappheit? - zwar immer vertrat, aber nie ernsthaft anbahnen konnte... Darum erkläre ich hiermit Ihnen als dem Vorsitzenden unserer Kreisgruppe meinen Austritt aus der Staatspartei. Ich habe heute auch meine Aujfnahme in den NS-Lehrerbund und in die NSDAP beantragt."

Ein Akt der 'Selbstgleichschaltung'? Manches deutet darauf hin, daß Daum unter Druck gesetzt wurde. Auch, daß der 'Fall Stenger' von ihm wieder in den Vordergrund gerückt wird und seine Schlußbemerkung zu Frau Daum:

"Die Worte Hitlers beim heutigen Staatsakt in Potsdam haben mich tief innerlich ergriffen. Ich bin gerne bereit dem alten Herrn (Stenger KS) das Leid, das ich ihm auch in der ehrlichen Überzeugung guter Absichten zugefügt habe, abzubitten. Wir sind noch jung und müssen uns umstellen können, was Herr Stenger aus tief innerlicher Überzeugung damals nicht konnte. Heute muß er erst recht sein Verhalten als das beste hinsichtlich des Wohles unseres Vaterlandes betrachten ... Meine Frau, die durch diese seelischen Kämpfe sehr gelitten hat, ist für einige Tage zur Erholung zu einer befreundeten Familie auf den Westerwald..."

Dinkelacker antwortete umgehend:

"Sie können sich denken, dass mich Ihr Brief nicht wenig überraschte und er gibt mir eigentlich Veranlassung, Ihnen ausführlicher zu antworten; doch möchte ich das lieber gelegentlich auf eine gemütliche mündliche Unterhaltung verschieben. Nicht, dass ich Ihren Schritt an sich verurteilte und seine Gründe nicht verstünde, oder dass ich Sie gar zu nötigen versuchen würde, wenn ich auch wirklich Ihren Austritt aus der DStP, der sie viele Jahre treu und eifrig gedient haben, außerordentlich bedaure, aber ich für meinen Teil könnte ihn nicht mitmachen ... Man hasste die Demokratie schlecht weg. Dies ist allerdings ein Kennzeichen des "Geistes von Potsdam", dessen wertvolle und berechtigte Seiten ich durchaus nicht verkenne, der aber, wenn er nicht die Synthese mit dem "Geiste von Weimar" findet, das Klima von Deutschland um einige Grade in der Jahresmitteltemperatur erniedrigt. / Ich gebe die Möglichkeit zu, daß der Nationalsozialismus, der zweifellos noch in lebhafter Entwicklung begriffen ist, im Gegensatz zu einer verknöcherten deutschnationalen Einstellung Hugenbergscher Art, eventuell noch zur Bejahung einer gesunden Demokratie kommen kann; dann aber erst und wenn er von den vielen und grossen, auf den Wiederaufstieg unseres Volkes abzielenden Versprechungen, die sich im übrigen oft ungeheuer widersprachen, auch nur einen ansehnlichen Bruchteil verwirklicht hat, könnte ich mich eventuell mit in seine Reihen stellen, sofern ich in meinem Alter - ich werde dieses Jahr 50 - noch den Schwung aufbringen sollte, mich aktiv in eine neue politische Bewegung zu stellen, nachdem ich in dem Kampfe für die Bewegung, der ich aus reinsten Motiven und um eines hohen Ideales willen bis heute gedient habe, so viel der Enttäuschungen erlebt habe. Das ich mich dabei geirrt habe, kann ich nicht zugeben ... Ich verlange nur, dass überall Gerechtigkeit waltet, und dass man jede in sachlicher und anständiger Form vorgebrachte, hinreichend begründete freie Meinungsäusserung gelten lässt. Denn wo das fehlt, da fehlt dem freien Deutschen die Lebensluft. / Zum Fall Stenger aber noch dies: Ich habe Herrn Direktor Stenger absolut nichts abzubitten, denn er hat mir zuerst die schwersten Kränkungen zugefügt, er hat sich gegen amtliche Erlasse Verfehlungen und Unterlassungen zu schulden kommen lassen etc. etc. bevor ich in denkbar mildester Form mich glaubte, dagegen wenden zu müssen. Er hat auch Sie und mich in der übelsten Weise beschimpft, als Sie im Kuratorium eine durchaus sachliche Kritik anbringen wollten. Und wir haben von Anfang an bekundet, dass wir ihn in keiner Weise materiell geschädigt wissen wollten. Er hatte vom verlästerten demokratischen Staat, der andere Überzeugungen duldete, die Möglichkeit erhalten, ohne auf die Verfassung den Eid zu leisten, sich mit voller Pension in den Ruhestand zurückzuziehen. Es wäre für mich jede Entschuldigung eine Entwürdigung."

Dinkelacker war vorsichtig (hätte ein Gespräch vorgezogen) aber entschieden. Daum bedankte sich brieflich unter dem 30.3., daß Dinkelacker Verständnis zeige, und entschuldigte sich, daß er die gemütliche Unterhaltung wegen Arbeitsüberlastung erst einmal verschieben müsse. Ausserdem schrieb er:

"Nicht irgendein Schuldgefühl, sondern höchstens Bedauern darüber, daß wir uns hinsichtlich der kommenden geschichtlichen Entwicklung getäuscht und unnötig für den Staat von Weimar gekämpft haben, dem doch augenscheinlich die innere Festigkeit fehlte, kann uns heute erfüllen. Es ist aber notwendig, daß die Staatsautorität wirklich unangreifbar ist, wie das beim neuen Staat zu werden scheint."

Am 29. März druckte die BZ in ihrer Beilage einen emphatischen Aufsatz "Ein Volk - ein Reich - ein Führer" vom Kollegen Fritz Rittershaus. Da wurde noch einmal der Tag von Potsdam als Neuanfang im Geist der nationalen Erhebung von 1813 gefeiert. "Deutschland ist erwacht" und auf dem Weg zur "unzerstörbaren Gemeinschaft, zu der die lebendigen Kulturwerte uralten deutschen Volkstums verpflichten ..." Der Artikel ging auf den Vierjahresplan ein und zur "Wehrhaftigkeit" wurde Joseph Görres zitiert:

"Jeder Wilde weiß seine Waffe zu handhaben und Keule und Schwert zu führen ... Das Volk, der Waffen entwöhnt, ist weichlich geworden, verzagt, plump, ungeschickt und philisterhaft...""Und wenn einmal das deutsche Zentrum sich zu diesem großen katholischen Vorkämpfer für eine deutsche Weltanschauung restlos bekennt, wenn kein Deutscher mehr weiß, was Marxismus, Liberalismus, Klassenunterschied überhaupt ist, sondern alle nur das eine wissen, daß wir Deutsche auf Gedeih und Verderb zusammengehören, dann ist das Ziel der nationalsozialistischen Revolution erreicht: Ein Volk, ein Reich, ein Führer."

Welche Schleusen, und das nicht nur im Wortschwall, mit dem 'Tag von Potsdam' geöfjfnet wurden, kam auch zum Audruck:

"Denn die Bekämpfung des Kommunismus ist unsere eigene Angelegenheit und beruht auf dem Recht der Selbsterhaltung, das uns einige ausländische Regierungen scheinbar auch im Inneren nicht zugestehen wollen, denn sonst würden sie von sich aus der verlogenen Greuelpropaganda des internationalen Judentums Einhalt gebieten ... Der nun einsetzende Abwehrkampf gegen die im Auslande verbreiteten Lügen wird, wie wir zuversichtlich hoffen, schließlich doch von Erfolg sein und die Welt davon überzeugen, daß die deutsche Umwälzung sich in aller Ruhe und Ordnung vollzogen hat. Der Kampf gegen die Feinde von Volk und Staat geht allerdings weiter, die falschen Propheten werden niemals wieder irgendeinen Einfluß auf den deutschen Volksgenossen gewinnen können, nachdem Hitler am späten Abend des denkwürdigen 23. März den erbärmlichen Verrat des Marxismus am deutschen Arbeiter in so überzeugender Weise nochmals klar gestellt hat..."

In der Abendausgabe der Vossischen Zeitung vom 24. März erschien eine der letzten kritischen politischen Betrachtungen: "Das Regierungsprogramm":

"Die Rede, die Reichskanzler Hitler gestern vor dem Reichstag des 5. März hielt, ist die Programm-Erklärung der Reichsregierung, aber sie ist mehr. Sie dokumentiert in Ton und Gedankengang die Staatsumwälzung, die wir erleben. Denn eine Staatsumwälzung erleben wir in der Tat, wenn auch die legale Form dabei weitgehend geschont wird. Es ist der archimedische Punkt gefunden worden, aus dem das gesamte "System" aus den Angeln gehoben wird. Die Republik von Weimar ist beendet. Im ewigen Geschichtsbuch wird eine neue Seite aufgeschlagen..."

Die sich anschließende Betrachtung wertete positiv die Ablehnung des Restaurationsgedankens und gab der Hofjfnung Ausdruck, daß der Rechtsstaat erhalten bleibe, daß die angestrebte Verfassung auf plebiszitärer Basis die Errungenschaften der liberalen Ära erhalte, namentlich die Freiheit der Meinungsbildung, daß das äußere Zeichen der Normalisierung die Wiederherstellung der Habeas Corpus-Prinzipien sein werde, und daß man manche Broschüre der Kampfzeit zurückziehe. Weiter unten in der gleichen Spalte folgte dann eine Pressemeldung der Polizei, daß in den letzten Tagen auf dem württemberischen Heuberg ein Konzentrationslager für politische Schutzhäftlinge errichtet und in Betrieb genommen sei, das zunächst etwas 1500 Gefangene aujfnehmen könne. Zur Bewachung stünde ein starkes Aufgebot von Hilfspolizei unter schutzpolizeilicher Führung bereit. Am 8. April waren "weit über eine halbe Million" SA- und SS-Männer in Deutschland und Österreich angetreten" und in und um den Berliner Sportpalast 18 000. "Der größte Appell der Weltgeschichte" titelte die "Kölnische Zeitung". Hitler sprach:

"Was 14 Jahre in Ehren gekämpft hat, wird niemals mehr in Unehre vergehen. Das ist unser Gelöbnis, das wir ablegen denen, die aus diesem Gefühl der Ehre heraus in uns, für uns und für Deutschland gefallen sind."

Kein Wort von den Pogromen, die mit dem Appell einhergingen.

"In einer Zeit, da das ganze Volk dem Irrwahn der Demokratie, des Parlamentarismus nachjagte, haben wir begonnen, bewußt eine Organisation aufzubauen, in der es nicht e i n e n Diktator gibt, sondern Zehntausende. Denn wenn jemand sagt: " Sie haben es ja leicht, Sie sind Diktator Ihrer Bewegung" - nein, meine Herren, Sie täuschen sich! / In der Bewegung diktiert nicht einer, Zehntausende diktieren, jeder an seiner Stelle. / Jeder kennt eine Autorität nach unten und eine Verantwortung nach oben. Und die letzte Spitze selbst wieder, sie hat nur einen einzigen Wunsch: Möge sie niemals sich vergehen gegen die letzte Spitze, der auch sie verantwortlich ist und die wir insgesamt in unserm deutschen Volke sehen."

Am 12 April feierte die BZ den neuen Gemeinderat in Betzdorf, dessen 'Wahl' im Germaniasaal stattgefunden hatte, beschrieb die bisherige 'Mißwirtschaft' und meinte, die "Wandlung zum anderen Geiste"

"wäre bei uns noch nicht so glatt erfolgt (wie im Reich KS), und hätte neue Kämpfe und Schlachten ergeben, da den 10 Zentrumsstimmen die Althof alle in der Tasche hatte, nur 7 Stimmen entgegenstanden, wenn gestern nicht eine unerwünschte Revision der Fleischbeschau-Bücher des Tierarztes Althof erfolgt wäre, die den gestrigen ganzen Nachmittag angedauert hat und zu der auch Metzgermeister Weger als Innunsgmeister zugezogen war. Ebenso fehlten - aus unbekanntn Gründen - Entschuldigungsschreiben lagen nicht vor - das Zentrumsmitglied Eisenbahn-Assistent Weidner und Eisenbahnarbeiter Becher (Sozialdemokrat) . Das Stärkeverhältnis war also 7:7 Stimmen, bei der Wahl des Gemeindevorstehers gaben die 7 Zentrumsvertreter weiße Zettel ab, die anderen / Stimemn fielen auf Bürgermeister Hanstein, der damit gewählt ist. Dieses Ergebnis wurde von der dicht gedrängten Zuhörerschaft mit stürmischem Jubel aufgenommen.

Für Ordnung im Saal sorgten SA und SS, nach Hanstein redete Architekt Bergerhoff als Sprecher der NSDAP. Für das Zentrum mußte sich Rechtsanwalt Heinen dagegen verwahren, als marxistisch bezeichnet zu werden, für die Kampffront hatte Rechtsanwalt Schneider dies Problem nicht.

"Auf Vorschlag des Herrn Bergerhoff wurde mit Rücksicht auf die gewaltige Erhebung die großen Verdienste unseres Reichskanzlers Adolf Hitler die Wilhelmstraße in Adolf Hitlerstraße umbenannt (Bravo) Weiter wurden umgetauft die Schulstraße in Dr. Göbbelsstraße, die Friedrichstraße in Göringstraße und die Rainanlage in Horst Wesseranlage (Bravo)"

Das Zentrum stimmte den Umbennungen zu. Nachdem dann noch auf Bergerhoffs Vorschlag Hitler von der feierlichen Namensgebung per Telegramm in Kenntnis gesetzt worden war, war die Machübernahme in Betzdorf musterhaft über die Bühne gegangen.

Die "Feier zum 44. Geburtstag des Herrn Reichskanzlers und Führers der NSDAP Adolf Hitler" wurde in Betzdorf am 19. und 20. April veranstaltet:

"8.15 Uhr Antreten zum Fackelzug an der Hindenburgbrücke. (Die Musik wird ausgeführt von der Betzdorfer Feuerwehrkapelle). Nach Ankunft des Zuges am Hohenzollerngarten Ansprache des Pg. Weiß". "8.15 Uhr Feier im Germaniasaal (Pg. Ewald Klein). Programme sind bei den Mitgliedern der SA, SS und Frauenschaft zum Preise von 40 Pfg zu haben" "Die nationale Bevölkerung ist zu den Veranstaltungen eingeladen. NSDAP. Ortsgruppe Betzdorf. Lenz, Ortsgruppenführer".

Eine Annonce der NSDAP. Die BZ schrieb zum Geburtstag des 'Führers':

"Ohne ihn zu kennen, wie wir ihn heute vor uns haben, hat die Betzdorfer Zeitung schon vor Jahren aus seiner Sprache, die bald von hier, bald von dort zu uns herüberklang, vernommen, was an ehrlichem deutschem Wollen, an prachtvoller Gesinnung und unbeugsamer Kritik über die traurige Gestaltung der Dinge in unserem schönen Vaterland in diesem Manne zum Ausdruck kam ... Als Hitler in Leipzig vor dem Richtertisch ... mit Stentorstimme gerufen hatte: Dann werden die Köpfe rollen derer, die sich dieser nationalen Erhebung entgegenstellen ... da erhob sich ein tausendfältiger Schrei gegen einen solchen Frevler. Die Betzdorfer Zeitung hat solche Kinderei. solche dumme Verkennung des tiefsten Wollens und Empfindens nie mitgemacht und dafür eine der übelsten Verhetzungen, besonders der Zentrumspresse über sich ergehen lassen müssen ... Der einfache Mann aus dem Volke steht heute an der Spitze des 60-Millionen-Volkes der höchsten Kultur! Aus eigener Kraft, vermöge seines goldenen Herzens. Man sollte es nicht für möglich halten! Und damit wird wieder wahr: die für unser Zusammenleben als Volk wertvollsten Kräfte kommen doch immer wieder aus der Einfachheit und dem einfältig-christlichen Empfinden!"

* * *


[1]Betzdorfer Zeitung vom 1.(?) November 1932

[2]Aus dem (schwer leserlichen) Entwurf eines Briefes vom 3.6.33 an Jungbluth geht hervor, daß es sich um das Tragen von Abzeichen gehandelt haben muß, wohl um die Zulassung der Abzeichen der 'Nationalen Front' in der Schule, und Dinkelacker sich über das Abzeichentragen lustig gemacht hatte ("keinerlei Kritisierung der Abzeichen selbst").

[3]Architekt Bergerhoff wurde 1951 in den Kreisrechtsausschuss berufen


 

 

 

Das neue "Recht"

Unter dem 7. April war die Regierung zum ersten Mal auf der Gesetzesebene mit ihren rassistischen und langfristig diskriminierenden Zielen in Erscheinung getreten. Das neue "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" bestimmte in §3:

"Beamte, die nichtarischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen"[1]

und in §4:

"Beamte die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jeder Zeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden. Auf die Dauer von drei Monaten nach der Entlassung werden ihnen ihre bisherigen Bezüge belassen. Von dieser Zeit an erhalten sie drei Viertel des Ruhegeldes..."

Schon sehr bald konnte die BZ melden, daß Landrat Dr. Boden der Vergangenheit angehöre und auch berichten, wie umgehend von einer Lokomotive der Scheuerfeld-Nauroth-Kreisbahn die beiden Namensschilder "Dr. Boden" (so war die Maschine 1928 getauft worden) von den Eisenbahnern entfernt wurden, noch ehe der SS-Motorsturmmann Häbel dem Demontagebefehl nachkommen konnte. Die Siegblätter hatten relativ mutig kommentiert:

"Ob Dr. Boden der Vergangenheit angehört, wird Gott sei Dank noch nicht durch eine Notiz in der BZ entschieden ... Dr. Boden wird der BZ diesen Schnitzer sicher verzeihen, dafür kennen wir ihn "

Am 26. April freute sich dann die BZ:

"Die Siegblätter werden heute gesehen haben, daß sie selbst einen Schnitzer gemacht haben, da Landrat Dr. Boden sich in der Liste befindet, die unter Gewährung von Wartegeld endgültig in den Ruhestand versetzt worden sind."

Auf der fraglichen Liste stand Dinkelacker nicht. Auch war in der lokalen Beamtenschaft, anders als in manchen Universitätsstädten (Göttingen), nicht festzustellen, welche Auswirkungen vor allem der §3 hatte. Wie allerdings die rassistische Diskriminierung (der Ausschluß auf Grund von Abstammung) grundsätzlich mit weiterer Tätigkeit als Lehrer und mit Loyalität gegen Regierung und Staat in Einklang zu bringen war, blieb dahingestellt. Der Pogrom, die erste antisemitische Terrorwelle vor allem in den Städten, etwa gleichzeitig mit dem Beamtengesetz, tat ein übriges. Längst schon fühlte sich, wer nicht verfolgt wurde, doch einer unsicheren Umgebung ausgeliefert, Selbsterhaltung ging vor Solidarität. Der Bürgerkrieg der Demokraten fand nicht statt, kam selten in Betracht - auch das hatte die politische Rechte mit dem Vorwurf, man wolle den Bürgerkrieg provozieren erreicht. Aber hatte Dinkelacker eine Chance, dem Gesetz zu entgehen? Er und seine Umgebung haben es versucht.

Doch schon in der Familie war die Sache schwierig. Am 7. Mai 1933 schrieb Alfred Dinkelacker an seine Schwester Berta Laible in Calw:

"Ich weiss, dass ich in dem Briefe, auf den sich dies (ein verstimmtes Antwortschreiben der Schwester KS) bezieht, zum Ausdruck gebracht habe, dass Hitlers übersteigerte, fanatische Art irgendwie etwas Anormales zu haben scheint. Wenn Du daraus machst, ich hätte ihn als "Narren" hingestellt, was von mir tatsächlich hässlich gewesen wäre, so beruht das mindestens auf einem Missverständnis. Du scheinst vor allem nicht zu wissen, dass auf alle Fälle jedes grosse Genie etwas Anormales darstellt und dass es tatsächlich in der Geschichte des öfteren vorgekommen ist - ich habe gerade nur die Namen Nietzsche und Hölderlin im Kopfe, es gibt aber auch noch manche andere Beispiele - , dass das Genie in Wahnsinn umgeschlagen ist. Diese Feststellung einer Tatsache oder der Ausdruck der Befürchtung, dass bei einem bedeutenden Menschen - und das ist Hitler auf alle Fälle - ein solcher Umschlag eintreten könne, ist doch an sich keine Beleidigung, und bei mir war es in diesem Falle auch bestimmt nur der Ausdruck einer großen vaterländischen Sorge ... Freilich könnte ich dann immer noch nicht vergessen, mit welcher Gehässigkeit von nationalsozialistischer Seite, die sich so sehr darüber beklagt, dass sie bekämpft worden sei, alles, was demokratisch heisst, bekämpft worden ist ... immerhin lässt er ja auch in seinem Buch "Mein Kampf" nichts Gutes an der Demokratie ... andererseits ist er wohl als der geschickteste politische Agitator, den wir je gehabt haben, sich dessen bewusst, dass man die Masse, von der er selbst ja in seinem Buch ziemlich abfällig urteilt, am besten durch einseitige Übertreibungen gewinnen kann und dass er darum auch wertvolle demokratische Gedanken, die er selbst anerkennt, nie als solche bezeichnet. Er legte doch grössten Wert darauf, und betont es immer wieder, dass die grosse Mehrheit des Volkes hinter ihm stehe, und dass er auf diese Weise an die Spitze unseres Staates gestellt wurde. Das ist aber ein demokratisches Prinzip, das freilich ausarten kann und auch ausgeartet ist ... Und zum anderen hat z.B. Hitler in seiner Rede vom ersten Mai so erfreulich stark die Überwindung der Klassen- und Standesgegensätze betont. Ja, wenn das nicht ein alter demokratischer Gedanke ist, dann weiss ich nicht, was man sonst noch dazu rechnen soll. Ich weiss persönlich nur, dass mehrere Kollegen meiner Schule, die heute begeisterte Hitleranhänger sind, ganz besonders den akademischen Standesdünkel gepflegt haben und es deutlich haben erkennen lassen, wie unsympathisch es ihnen war, wenn unsereins etwa mit Volksschullehrern gesellschaftlich verkehrte etc., die auch an der eigenen Schule die Nichtakademiker nicht als "Kollegen" anredeten ..."

Ein weiterer Hinweis darauf, daß es auch an der Betzdorfer Schule[2] nicht nur neutrale Lehrer gab und Regimegegner, wobei hier gleich zu unterscheiden wäre, ob während der putschistischen Anfangsphase bis 34, der Formierungsphase bis 37/38, der expansionistischen bis 42 oder der Genozidphase zum Schluß.

Am 21. Mai schrieb Dinkelacker, offensichtlich alarmiert und in der Absicht, amtlichen Aktionen zuvorzukommen, an Oberschulrat Jungbluth. Er schrieb zweckeuphemistisch ("es besteht zwar heute keine Gefahr mehr...."), angepaßt und gleichzeitig mit wenig glücklicher und sicher nicht opportuner Polemik ("Minierarbeit unsauberer Charaktere"). Aber im Verhältnis zu Jungbluth war er nach all den Jahren nicht mehr auf besondere Zurückhaltung bedacht. Es war ein persönlicher Brief und er bat um eine private Unterredung:

"Es besteht zwar offenbar heute nicht mehr die Gefahr, dass gegen einen Beamten meiner Gesinnung, der übrigens mit vielem, was in der allerneuesten Zeit an positiven Taten und wichtigen programmatischen Kundgebungen des Herrn Reichskanzlers und sonstiger führender Persönlichkeiten der heutigen Reichsregierung bekannt geworden ist, durchaus in Übereinstimmung sich befindet, von irgendeiner, an sich dazu nicht befugten Stelle aus vorgegangen wird. Aber ich habe doch ganz sichere Nachricht, darüber, dass offenbar aus reiner Rachsucht, bezw. aus Unkenntnis der ganzen Sachlage und meiner politischen Grundeinstellung noch irgend ein Vorgehen gegen mich unter Bezug auf die Affäre Stenger erfolgen wird, bezw. schon erfolgt ist. / Hier handelt es sich dann aber um die Existenz meiner Familie und bei der Minierarbeit unsauberer Charaktere oder solcher, die nie einen objektiven Einblick in das, was ich samt meiner Familie unter Direktor Stenger hier habe durchmachen müssen, gewonnen haben, genügt es dann nicht, dass ich jederzeit aus reinem Gewissen versichern kann, dass, wenn alles rechtlich zugeht, keine Stelle des neuen Beamtengesetzes eine Handhabe bietet, mich heute in irgend einer Form dienstlich zu bestrafen und zu schädigen. Darum bitte ich Sie höflichst, mir baldigst Gelegenheit zu einer persönlichen Unterredung mit Ihnen zu gewähren. Denn ich halte es für dringend nötig, dass ich gerade mit Ihnen, sehr geehrter Herr Oberschulrat, alles für die Abwehr eines solchen Angriffs zweckmässige und Notwendige rechtzeitig bespreche ..."

Die Antwort kam handschriftlich mit Briefkopf der Behörde, aber ohne Aktenzeichen, unter dem 26. Mai:

"Sehr geehrter Herr Kollege, ich bitte Sie, Ihren Besuch noch etwas hinauszuschieben. Ich sehe noch nicht ganz klar und lege Wert darauf, die Antwort auf die heutige Anfrage in Händen zu haben. Ich hoffe, Ihnen Freitag, 2/6, morgens 11 Uhr zur Verfügung zu stehen. Mit freundlichem Gruß"

Es war zu spät. Unter dem 25. hatte die Behörde auf eine Beschwerde des Kreisvorsitzenden der DNVP reagiert und Dinkelacker zur Stellungnahme aufgefordert. Der schrieb am 28. Mai 1933 eine "Verantwortliche Stellungnahme des Studienrats Dr. Dinkelacker zu der Verfügung des Herrn Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Abt. für höheres Schulwesen, I Nr.4113 vom 25. Mai 1933":

"Zu den meine Person betreffenden Punkten der Beschwerde des Kreisvorsitzenden der Deutschnationalen Volkspartei des Kreises Altenkirchen habe ich folgendes zu sagen:"1. Die Untersuchung in Sachen Stenger ist seinerzeit von der Behörde (Provinzialschulkollegium in Coblenz) gründlich geführt worden und hat das Ergebnis gezeitigt, dass eine Fortsetzung der Amtsführung durch Herrn Direktor Stenger eine Unmöglichkeit war (Siehe Anlage 1 (vermutlich das Schreiben von Lammers an Bohner KS) und vergl. die Akten des Diciplinarverfahrens!). Was die Vorwürfe gegen meine Person betrifft, so ist auch hierauf die Antwort durch meine in den Akten vorliegenden eidlichen Aussagen bereits gegeben. Ich füge aber hier in Anlage 2 einen Durchschlag der diesbezüglichen Haupterklärung (vermutlich die Erklärung, daß er das Disciplinarverfahren nicht gewollt habe KS), die bei diesen Akten sich befindet, bei.2. Zu der Beschuldigung betreffend den "Aufruf der Reichsregierung" erkläre ich dies: Die Darstellung in der Beschwerdeschrift ist schief. Ich habe die beanstandete Kritik als rein private Äusserung am 27. Februar - der Artikel 118 der Reichsverfassung war damals noch nicht durch Notverordnung ausser Kraft gesetzt - einem Kollegen gegenüber ausgesprochen und zwar auf dem Flur des Realgymnasiums während eine Unterrichtspause.... / Ich betone noch, dass mir diese Angriffe von deutschnationaler Seite seltsam erscheinen. Denn es soll doch hier zweifellos durch ein ganz entsprechendes Verfahren, wie man es mir im Fall Stenger unberechtigterweise vorwirft, eine meine und meiner Familie Existenz gefährdende Bestrafung auf Grund des neuen Beamtengesetzes erwirkt werden. Man übersieht dabei völlig - ob aus Unkenntnis der Tatsachen oder geflissentlich, weiss ich nicht - , dass es sich bei mir im Punkt 2 um eine rein private, in der Erregung jener Wochen etwas unvorsichtig formulierte Meinungsäusserung, dagegen im Fall Stenger seinerseits vor allem um eine ganze Reihe schwerer Amtspflichtverletzungen, meinerseits um Notwehr aus Gewissens- und Amtspflicht handelte. / Zum Schlusse darf ich wohl noch darauf hinweisen, dass nach den in der allerletzten Zeit mir bekannt gewordenen offiziellen Verlautbarungen mich keine wesentlichen Punkte von den gesunden Tendenzen der neuen Regierungsrichtung trennen; ja ich behaupte, dass ich gerade ihre Hauptziele, die nationialen, wie die sozialen, voll bejahe.

In einem Brief an Jungbluth vom gleichen Datum bedankte er sich für dessen Bereitschaft zu einem Gespräch und gab der Hofkfnung Ausdruck, daß seine Antwort an den Oberpräsidenten ausreiche. Dann schrieb er noch:

"Wenn ein Mann wie Herr Direktor Stenger, der sich in hohem Masse der Unwahrhaftigkeit und Unloyalität gegenüber dem Staate, der ihn besoldete, schuldig gemacht hat, wieder rehabilitiert würde, gleichviel von welcher Regierung, dann würde das m.E. nicht der Wiederherstellung, sondern der Zerstörung eines einwandfreien Beamtentums dienen. Für mich war und ist loyales Verhalten des Beamten gegenüber jeder ordnungsgemäßen Regierung jederzeit eine Selbstverständlichkeit."

Nach dem - wahrscheinlich sehr kurzen - Gespräch mit Jungbluth schrieb ihm Dinkelacker, daß er der Behörde danke, daß sie ihm die Anklage des DNVP-Vorsitzenden zugänglich gemacht habe, und daß er sich nur schwer damit abfinden könne, daß 'Bagatellen' zur Anklage gebracht würden und dazu noch ohne Nennung des Anklägers. Es mag ihn geschockt haben, daß jetzt absehbar wurde, wie ihm der Prozeß gemacht werden würde, nämlich im Rahmen gleichzeitiger, offizieller Rehabilitierung Stengers. Selbst nationalsozialistische Willkür brauchte den formalen Schein. Es war vermutlich nicht möglich, Stenger zu rehabilitieren ohne Dinkelacker zu disqualifizieren. Anders als er glaubte, hatte er vermutlich von vornherein keine Chance, dem Beamtengesetz zu entgehen[3]. Aber er hatte nicht einmal die Chance, in klarer Entscheidung auf Grund seiner politischen Tätigkeit und Überzeugung 'abgebaut' zu werden. Zur Rehabilitierung Stengers mußten die Akteure im Trüben fischen. Es mag sie wenig gestört haben. Für Alfred Dinkelacker wars eine Entwürdigung, gegen die er sich nach Kräften wehrte. Am 11 Juni schrieb er an Jungbluth:

1. Im "Falle Stenger" bleibt unabhängig von meiner Person die Tatsache unumstößlich bestehen, dass Herr Direktor Stenger mindestens in mehreren Fällen gegen seinen Amtseid gehandelt hat... 2. Wenn aber obendrein ein seinen Amtseid gewissenhaft beobachtender Beamter, wie ich, nach Jahren deshalb bestraft werden soll, weil er sich aus pädagogischem und staatbürgerlichem Pflichtgefühl, sowie allgemein menschlichem Empfinden heraus gegen solch illoyales Verhalten gewandt hat, wobei ihm noch die schwersten persönlichen Kränkungen widerfuhren, dann würde das in meinen Augen das Verlassen des Rechtsbodens bedeuten... Indem ich zum Schlusse nochmals höflichst darum bitte, mich über den Stand der für meine Familie und mich sehr aufregenden Angelegenheit möglichst auf dem Laufenden zu halten, damit ich vor allem alles zu meiner Selbstbehauptung Notwendige tun kann ..."

Der Hausarzt Dr. Weber/Kirchen war Kreistagsmitglied der DNVP. Als er zu einem Krankenbesuch bei Dinkelackers 12 jährigem Sohn Eberhard ins Haus kam, hatte Clara mit ihm über das Vorgehen der DNVP für Stenger und gegen ihren Mann gesprochen. Weber versprach sich bei seinen Parteifreunden umzuhören. Alfred schrieb am 15 Juni 1933 an Weber und in Kopie an Jungbluth:

"... Ich würde heute genau so handeln, nach den gemachten Erfahrungen nur wesentlich schroffer, wenn einer meiner Kollegen oder der Direktor der Anstalt einerseits Gehorsam gegen die zur Zeit bestehende Regierung zusichern, andererseits dauernd die Schüler zum Misstrauen, ja zur Widersetzlichkeit gegen sie reizen würde. Hiermit ist meine Stellung in Sachen Stenger wohl am klarsten skizziert. Überflüssig scheint mir die Frage, was heute mit einem Beamten geschehen würde, der auch nur einen kleinen Bruchteil der Begehungs- und Unterlassungssünden des Herrn Direktor Stenger sich leisten würde... Wenn ich aber einfach als loyaler Beamter - ich lehne es ab, dass hier der Begriff "Kollegialität oder Unkollegialität" eine Rolle spielen soll - jetzt in irgend einer Form Bestrafung erleiden soll, wie es ja in dem deutschnationalen Denunziationsschreiben erhofft wird, so wäre das haarsträubend und würde die völlige Korruption und Rückgratlosigkeit des Beamtentums bedeuten, würde auch nicht weniger sagen, als dass etwas, was heute als "suprema lex" gilt, nämlich der bereitwillige Gehorsam gegen die Regierung, damals ein Verbrechen gewesen wäre ... Zum Schluß möchte ich Ihnen allen Ernstes erklären, dass ich der Ansicht bin, dass in der nationalsozialistischen Bewegung wichtige Grundsätze eines Friedrich Naumann stecken, dessen Auffassung stets die meine war, wie auch die bodenreformerischen Gedanken eines Adolf Damaschke bei dieser Partei Verständnis und Verwirklichung zu finden scheinen. Was mir aber in letzter Zeit an der neuen Bewegung besonders sympathisch ist, ist der Ernst, mit dem der Reichskanzler Adolf Hitler zum ersten Male in Deutschland dem sozialen Gedanken, den ein Fr. Naumann vor 40 Jahren predigte, zum Durchbruch verholfen hat, einen Gedanken, für den ich mich stets eingesetzt habe und weiterhin einsetzen werde... Diesen meinen Standpunkt vertrete ich mit meiner Person und meiner ganzen Familie wohl fruchtbarer, wenn ich nicht als "Konjunkturritter" der Partei mich anschliesse, sondern unentwegt in meiner Richtung weitergehe. Ich bin der festen Zuversicht, dass eine Regierung, von der namhafte Vertreter einen Uhland und Schiller als Jugend- und Volkserzieher unseren Schulen im Rundfunk empfehlen (vergl. Vorträge von Ministern einzelner Länder) unsereinen unmöglich verurteilen kann; sie würde sich sonst selbst den Boden unter den Füßen wegziehen..."

Im nächsten Zug der Behörde erhielt Dinkelacker den "Fragebogen zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933":

"Sind Sie bereits vor dem 1. August 1914 Beamter gewesen?" "Ja, als Oberlehrer bezw. Studienrat"; ... "oder Haben Sie im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft?" "-"; "oder sind Sie Sohn/Tochter eines im Weltkrieg gefallenen?" "-";

Die nächste Frage: "Sind Sie arischer Abstammung im Sinne der Ersten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes ..." hätte Dinkelacker, nicht beantworten müssen, da er vor 1914 schon Beamter war. In seine Kopie des Fragebogens schrieb er "ja". Dann kamen die "Näheren Angaben zur Abstammung" über Eltern und Großeltern. Zwei Großeltern waren unproblematisch. Bei den anderen beiden mußten Zweifel ausgeräumt werden.[4] Auf die Ahnenfragen folgten die politischen:

"Welchen politischen Parteien haben Sie bisher angehört?" "Der DDP von ihrer Gründung an bis zu ihrer Überleitung in die Deutsche Staatspartei im Sommer 1930. Von da an dieser bis zu ihrer Selbstauflösung"; Waren Sie Mitglied der Eisernen Front, des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, des republikanischen Richter- oder Beamtenbundes oder der Liga für Menschenrechte und, falls ja, von wann bis wann? " Mitglied der hiesigen Ortsgruppe des Reichsbanners etwa seit Anfang 1925 bis zu meinem freiwilligen Austritt Ende September 1932".

Zur 'Entschuldigung' seiner Mitgliedschaft beim Reichsbanner führte Dinkelacker noch an:

"Im übrigen fühlte ich mich als Vorsitzender der Kreisorganisation der DDP bezw. der Stp. zur Mitgliedschaft beim Reichsbanner moralisch verpflichtet; ausserdem wollte ich es in der vorwiegend von Arbeiterkreisen zusammengesetzten örtlichen Organisation gerne versuchen, grade für höhere staatsbürgerliche Gesichtspunkte Verständnis zu wecken und zu fördern...Im übrigen war die Tätigkeit der hiesigen Ortsgruppe eine recht bescheidene, selten an die Öffentlichkeit tretende und m.W. nie herausfordernde und Andersdenkende verletzende. "Marxistische" Ideen wurden, jedenfalls soweit mir bekannt, hier nie erörtert oder gar propagiert, noch viel weniger antireligiöse, da m.W. alle Mitglieder konfessionell kirchlich waren..."

Unter dem 31. Juli kam das offizielle Schreiben des Oberpräsidenten (Im Auftrag Jungbluth):

"...habe ich zu prüfen, ob Sie nach Ihrem bisherigen Verhalten die Gewähr dafür bieten, daß Sie jederzeit in der Lage sind, rückhaltlos für den nationalen Staat einzutreten. Ich habe Zweifel, ob diese Frage bejaht werden kann, und verweise auf die Art, wie Sie den nationalgesinnten Direktor Stenger jahrelang verfolgt haben. / Bevor ich meinen Entschluß fasse, gebe ich Ihnen hiermit Gelegenheit, sich zu äußern. Sie wollen dabei auch zu folgenden Vorwürfen Stellung nehmen, die in letzter Zeit gegen Sie erhoben worden sind: /1) Sie sollen nationalgesinnten Schülern gegenüber das Tagen von Abzeichen der nationalen Erhebung bemängelt haben. 2) Sie sollen am Tage der Fahnenhissung das Ansinnen an den Direktor gestellt haben, die neue Fahne nur unter Protest hissen zu lassen. 3) Sie sollen, als es sich um die Teilnahme der Schule an öffentlichen, vaterländischen Kundgebungen handelte, nach besonderen Verfügungen gefragt haben. 4) Während der Gedenkfeier des Tages der Unterzeichnung des Versailler Diktats sollen Sie bei einigen Stellen der Rede des Direktors Ihre Ablehnung durch Kopfschütteln und Bemerkungen deutlich kund getan haben ..."

Dinkelacker antwortete postwendend, wenn aus der bisherigen Korrepondenz und mitgesandten Schriftstücken zum Fall Stenger keine objektive Beurteilung möglich sei, "dann können weitere Worte zur Verteidigung nichts nützen"; Zu 1): er habe in einer Klasse, bevor das Verbot des Abzeichentragens aufgehoben gewesen sei, lediglich gezweifelt, daß die neue Regierung dieses Verbot aufheben würde. Zu 2): es habe sich um das Flaggen zur Reichstagswahl gehandelt, zu dem keine Anordnung vorgelegen habe und auch der Direktor im Zweifel gewesen sei. Da habe er geäußert, daß man sich gegen unbefugtes Flaggen verwahren solle. Zu 3): er habe sich seines Wissens nur einmal gegen eine Verpflichtung zur Teilnahme an einer sonntäglichen Veranstaltung "Brüder in Not" ausgesprochen, die im übrigen als freiwillige seine volle Sympathie habe. Zu 4): er wolle nicht bestreiten, daß er gelegentlich mit dem Kopf geschüttelt habe, jedoch habe sich das nie auf die Brandmarkung des Versailler Diktats bezogen, das er immer, auch in der Öffentlichkeit, aufs schärfste verurteilt habe:

"Ich gestehe, daß es mir ausserordentlich schwer fällt, mich gegen solche kleinlichen Angebereien zu verteidigen, die nach massgeblichen Äusserungen der heutigen Regierung, insbesondere des Herrn Reichskanzlers selbst zu verurteilen sind ... / ...ist es für mich insbesondere als Beamter selbstverständlich, dass ich mich rückhaltlos hinter eine Regierung stelle, die mir durch ihr Handeln beweist, dass sie durch grosszügige Massnahmen in jeder Hinsicht unserem Volke helfen will. Nur habe ich meiner Veranlagung nach und als geistig tätiger und interessierter Mensch für Äusserlichkeiten nicht viel übrig, weiss aber wohl, dass sie zur Gewinnung der Massen notwendig sind. Sodann kann ich mich auf unseren Volkskanzler Adolf Hitler selbst berufen, wenn ich als 50jähriger, denkender Mensch, der seine gefestigte Weltanschauung besitzt und nicht erst noch zu erwerben braucht, erwarte, dass man mir Zeit lässt, um eben durch die Taten der heutigen Regierung, ... innerlich für sie gewonnen zu werden."

Am 4. August fuhr Clara nach Koblenz, sprach mit dem Oberpräsidenten und mit Jungbluth. Dann fuhr sie nach Berlin und wurde am 14. im Kultusministerium vorstellig. Edmund Mugler hatte dort einen Bekannten, Dr. Rolstein (?). Am nächsten Tag schrieb sie aus Neubrandenburg (wo ihr Bruder mit seiner Familie lebte):

Lieber, guter Vadder / ich möchte Dir mit dem Pulli eine Freude machen, ich habe ihn gleich nach der erlösenden Besprechung mit Dr. Rolst.. erstanden und für mich einen sehr netten Badeanzug. Wenn ich ganz erlöst aufatme nach der erfüllten Mission, so hab ich doch ganz furchtbar Heimweh - ich halte es einfach unter diesen Umständen hier nicht aus. Margret (ihre Schwägerin KS) ... kam mit der Bahn, nicht mit dem Auto nach Berlin. Wir suchten uns am Sonntag durch dicke Telephon- und Adressbücher die Wege zum Ministerium. Ich mußte gestern morgen im Wartezimmer gegen eine Herzschwäche ankämpfen, es war eine furchtbare Spannung in mir. Wie glücklich war ich, daß Dr. Rolstein mich empfing - das war nur durch Edmunds (Mugler KS) Empfehlung möglich - es ist hier doch alles viel viel schwieriger wie in Koblenz. Also ich habe denselben Eindruck von R. mitgenommen wie zu den Koblenzer Herren, er scheint ein feiner Mensch zu sein. Er bekommt alle Akten von Koblenz in die Hände u. ich habe den Eindruck, daß er dem Minister referiert. Koblenz ist jedenfalls im Größen Umfang maßgebend, das ist mir so beruhigend. Weißt Du, viel sagen konnte R. mir ja nicht, er hat mich aber angehört und kennt mich, ich hab ihm auch noch kurz geschrieben, ebenso an Jungbluth. Rotst. sagte mir: Ja, ja, bei Bohner ist Ihr Mann an den Unrechten gekommen. Bohner scheint sehr unbeliebt zu sein in Koblenz wie hier. Na, ich habe alles nötige gemacht, mehr tun ist nun ausgeschlossen, schreib auch nur ja nirgends mehr hin. Karl (ihr Bruder KS) meinte auch, dass Rust selbst gar nicht im Bilde und für uns gar nicht wichtig sei - er läßt sich nur referieren und gibt seine Unterschrift. Wie soll es auch anders sein, er muß doch auf die Stellen hören, die die Akten durcharbeiten, das ist Koblenz und Rolstein. / Also ist meine Mission erfüllt und die Reise nicht vergebens gewesen. Nun wollen wir in gutem Vertrauen abwarten. Im übrigen ist Karl genau so in der Stimmung wie Du über die bestehenden Verhältnisse. Er hat hier auch viel durchgemacht. Mündlich mehr. "

Am 25. August schickte Jungbluth die ihm seinerzeit überlassenen Schriftstücke zurück:

"Ihre Sache liegt in Berlin; die Entscheidung ist augenscheinlich noch nicht getroffen.

Wie weit Clara Dinkelacker in entwürdigenden Versuchen ging, zu retten, was nicht zu retten war, geht aus der Abschrift eines Briefes an Minister Rust hervor.

"Mein hiesiger Bruder ist SS-Mann - ich selbst Siegerländerin und kenne die Auseinandersetzung zwischen der Edeldemokratie der Schwaben (der letzte König von Württemberg war selbst ein Vertreter dieser politischen Anschauung) und den oft sehr engen eingefleischten Auffassungen hierzulande - zum Teil in Preußen überhaupt, und ich weiß, wie schwer eine Verständigung ist. Aber gerade darum glaube ich, ein gerechtes und gefestigtes Urteil zu haben und nunmehr nicht als Ehefrau, sondern als Mensch sagen zu dürfen: Genau das Gegenteil von dem trifft zu, was meinem Mann als Naumann-Anhänger und süddeutschem Demokraten in die Schuhe geschoben wird: er ist als Patriot ebenso zuverlässig wie als Beamter und steht meiner Ansicht nach der nationalsozialistischen Bewegung viel näher, als der deutschnationale Parteimann."

Sie tat als sei der Führerstaat irgendwo noch ein Rechtsstaat und als könnten Ideale bestimmender sein als Machtinteressen. Der hiesige Bruder, Rudolf Hartmann, der Gärtner, 'Frontsoldat' von 1914 bis 1918 (Unteroffizier) und 'Stahlhelmer'? Ja, der hatte eine Stelle gefunden im Braunen Haus in Siegen als SS-Mann und Hauswart bis er (wohl bald) sich nicht mehr zu helfen wußte vor Menschenrechtsbrüchen in diesem Haus. Seine Schwester baute ihn wieder auf und er hat bis 1944 für die Siegener Stadtwerke Zähler abgelesen.

Schon am 2. September konnte die BZ melden: "Abgebaut":

"Auf Grund des Gesetzes über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wurde Studienrat Dr. Dinkelacker vom Kreis-Realgymnasium in Betzdorf-Kirchen entlassen."

Dinkelacker war, wie gewohnt, in den Ferien nach Süddeutschland gefahren und hatte sich, anders als seine Frau, keine Hofkfnungen mehr gemacht. Claras Hofkfnungen schlugen jetzt in Angst um.[5]

"Auf Grund von §4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. 4.33 werden Sie aus dem öffentlichen Schuldienst entlassen. / Wegen der Regelung ihrer Bezüge wird der Herr Oberpräsident in Koblenz weitere Verfügung treffen / Berlin, den 30. August 1933 /Der Preussiche Minster für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung / In Vertretung gez. Stuckart"

Dem 'Triumph' der Gegner am Ort sahen Familie und Freunde Dinkelackers nicht ohne Sorge entgegen. Er ließ nicht lange auf sich warten. Am Freitag den 8. September schrieb E.B. in der (NS-) Volkswacht (umseitig ein Gedicht von Heinrich Anacker: "Die Straße dröhnt vom Eisentritt..."): "Studiendirektor i.R. Stenger gerechtfertigt":

"Wir wir vor einigen Tagen melden konnten, hat der Herr Minister für Kunst und Volksbildung in einem besonderen Erlaß die Rehabilitierung des Herrn Studiendirektors Stenger ausgesprochen. Wir erfahren dazu weiter, daß der Hauptdrahtzieher in dieser Affäre, Dr. Dinkelacker, aus dem Schuldienst entlassen ist und auch der Lehrer Daum-Biersdorf nicht wieder aus seinem Urlaub zurückkehren dürfte. Damit hat die nationalsozialistische Regierung Herrn Direktor Stenger nach vielen Jahren noch die verdiente Rechtfertigung zuteil werden lassen, die ihm von den vormärzlichen Machthabern trotz der leidenschaftlichsten Protestaktion aller anständigen Menschen des Kreises Altenkirchen vorenthalten wurde."

Die Zeitung erinnerte anschließend an die "Fakten" und schrieb u. a.:

"Das Verfahren gegen Stenger wurde zwar am 1. Mai 1927 eingestellt, da sich die vorgebrachten Anschuldigungen als unwahr erwiesen (Randnotiz Dinkelackers: "dies ist unwahr" KS), aber - und darin liegt die Gemeinheit - bis zu seiner am 1. Oktober 1927 erfolgten Pensionierung wurde Beurlaubung Stengers nicht aufgehoben ... Wer aber waren die Männer und Mächte, die das Kesseltreiben veranstalteten, dem Direktor Stenger schließlich zum Opfer fiel. Allen voran Dr. Dinkelacker, Studienrat am Betzdorfer Gymnasium, Demokrat und Pazifist. Wir müssen diesen Herrn, um von vornherein mitleidige Seelen zu beruhigen, etwas näher unter die Lupe nehmen (Darstellungen der BZ von 1926 werden wiederholt KS)... Wenn ein Mann dann noch behauptet, man könne dem Vaterland mehr geben, als das Leben, so ist für ihn im neuen Deutschland kein Platz mehr ... Während Dr. D. im Geheimen hetzte, schwang im Kuratorium der Lehrer Daum-Biersdorf das Kriegsbeil. Da er laut und öffentlich seine sonderbare Meinung vertrat, ist er uns schon etwas sympathischer als sein heimlicher Kumpan. Als Jugenderzieher im neuen Deutschland kam aber auch er nicht mehr in Frage ... Wie eng im übrigen auch der frühere Zentrumslandrat Dr. Boden mit den Ehrabschneidern liiert war, geht schon daraus hervor, daß er es nicht einmal für nötig hielt, Direktor Stenger zum Jubiläum der Schule (gemeint ist vermutlich die Einweihung des Neubaus 1929 KS) einzuladen ... Nun endlich hat sich die Wahrheit eine Bahn gebrochen. Niemand wird sich finden, der den Ehrabschneidern eine Träne nachweint. Verabschieden wir uns von ihnen mit dem schönen Vers: / "Da sprachen die Herren Hausknechte, / Dem Kerl geschieht ganz rechte!"..."

Am nächsten Tag fand sich E.B. mit seinem Artikel auch in der BZ: "Das Unrecht an Studiendirektor Stenger gesühnt":

"Das an Studiendirektor Stenger, dem Direktor des Kreisgymnasiums Betzdorf-Kirchen, begangene Unrecht, ihn seines Postens etwa ein Jahr vor seiner Pensionierung mit der Begründung zu entheben, unter den Schülern gegen die Republik agitiert zu haben, ist durch die Entlassung des Studienrats Dr. Dinkelacker, auf den die ganze Bewegung zurückzuführen war, und durch das amtliche Schreiben des Unterrichtsministers an Direktor Stenger gesühnt worden. In der Volkswacht wird in Ergänzung dieser Sühne die Angelegenheit noch einmal wie folgt besprochen ..."

Die BZ erinnerte ihre Leser daran, daß sie schon immer auf der richtigen Seite stand, in dem sie ihren weiter oben zitierten Artikel vom 10. 8. 1929 "Die Verfassungsfeiern" noch einmal abdruckte. Damals hatte sie Dinkelacker für am wenigsten geeignet gehalten, der Verfassung neue Freunde zuzuführen und sich selbst um so mehr für neue Feinde der Verfassung eingesetzt.

Einen Monat später, am 9. Oktober konnte sie ausführlich über eine "Ehrensitzung für Studiendirektor Stenger" berichten. Im Breidenbacher Hof empfingen die Freunde das Ehepaar Stenger. Der ehemalige Direktor hatte als "kerndeutscher Mensch" die "Meute der "Vorkämpfer" des "glorreichen" Weimar-Staates auf sich gezogen:

"Diese Meute brachte ihn bekanntlich 1926 auf Grund von verleumderischen Beschuldigungen und Hintertreppenmachenschaften zu Fall. Wie auch Direktor Hehr (Oberrealschule in Siegen-Weidenau) im Laufe des Abends zum Ausdruck brachte, konnten damals die den "Fall Stenger" bearbeitenden vorgesetzten Amtsstellen keine Verfehlungen des Angeschuldigten ermitteln. Dennoch aber mußte aus Gründen der Weimar-Staatsraison zum Zwecke der Einschüchterung der vaterländisch gesinnten Kreise der Lehrerschaft, der nun einmal als Sündenbock gekennzeichnete in die Wüste gesandt werden, und zwar auf solch heimtückische und drückebergerische Art seitens der hierfür Verantwortlichen, daß eine amtliche Wiedereinsetzung nur eine schwache Entschädigung für all das sein kann, was damals Direktor Stenger mitten in sein treues, deutsches Herz treffen mußte. All das Leid aber, welches ihm die Widersacher zufügten oder zufügen ließen, und alle Freude über die nunmehr durch den preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring vollzogene Rehabilitierung waren aber nicht mächtig genug um eine Grundeigenschaft des am Samstag freudig Geehrten zu ersticken: seine beispielhafte Bescheidenheit."

Es lobten den 71jährigen dann und dankten ihm der Reihe nach die Herren Hassel /Wissen als Vorsitzender des Vereins der Ehemaligen, Lake als Leiter der Schule und Heer als ehemaliges Mitglied des Kollegiums. Fritz Stenger

"wies darauf hin, daß er, wie jeder Mensch seine Fehler habe, daß er ganz ohne Ehrgeiz für seine eigene Person nur immer an sein Vaterland und dessen Starkwerden, Starkbleiben und Blühen dachte, er die Schüler seiner Anstalt zu Gottesfurcht und Pflichttreue erzog."

Anschließend gab der Geehrte seinerseits und mit Hilfe von Oswald Spenglers "Jahre der Entscheidung" dem preußischen Geist die Ehre, vom dreißigjährigen Krieg bis zu Adolf Hitler.

Die BZ nutzte die Gelegenheit zu einer Abrechnung mit der RWVZ und den SB: der Leser sähe, schrieb sie - und verglich die Berichterstattung 1925/6, "was dieser Totengräber jetzt dem wiedererstandenen Direktor Weihrauch streut". Denn jetzt hatten die Siegblätter aufgerufen: "Kein ehemaliger Schüler darf bei der Veranstaltung im Breidenbacher Hof fehlen". "Wie sich doch die Zeiten wandeln! und die Menschen!" kommentierte die BZ und an den Rand schrieb Dinkelacker: Ja! Die BZ nannte zwar die Namen im früheren Kopf der SB, H. Meurer und A. Schmid, aber sie verschwieg, dass jetzt niemand mehr da stand.

Fritz Stenger lebte 7 weitere Jahre "in Frieden". 1939 starb er. Die Zeitung schrieb im Nachruf:

"...Wer ihn gekannt hat, weiß um seine wahrhaft aufrichtige und mannhafte Gesinnung und seinen nationalen Charakter, den er auch nicht verleugnete, als ein Jahr vor seinem Abgang von der Schule versucht wurde, diese, seine Einstellung als im Widerspruch zu der damaligen Staatsauffassung stehend zu verdächtigen. Über allem Streit der Meinungen, der in den unglückseligen Jahren vor 1933 auch unserer Heimat böse Wunden geschlagen hat, stand Studiendirektor Stenger mit seiner strengen Berufsauffassung..."

Nein, über allem Streit der Meinungen stand Fritz Stenger nicht. Er stand im Mittelpunkt des Streites und mischte kräftig mit. Unglückselige Jahre vor 1933? Vielleicht, wenn man aus dem Frühjahr 39 zurückblickte. Aber längst nicht alle Mitbürger waren seither glücklicher und einige, darunter auch ehemalige Schüler und ihre Familien, waren viel unglücklicher geworden, beraubt, entrechtet, vertrieben. Ob Stenger das noch registriert hat? Sein Unvermögen, auf die "Störung", die die Revolution in seinen Augen war, anders als mit einem restaurativen Zukunftsentwurf zu reagieren, war jedenfalls im Erzieherberuf höchst problematisch. Daß eine Elternschaft, der nichts besseres einfiel, in ihm einen der ihren erkannte, konnte nicht überraschen. Was aber ging in den Köpfen von Schülern vor, die im Einklang mit dem Lehrer und den Eltern sich einmütig gegen die (Rechts-)Institutionen stellten, die im Zweifel ihr späteres Leben sichern würden? Waren sie nicht prädestiniert, ähnlich einmütig später "falschen Autoritäten" anzuhängen?

* * *


[1] "Nichtarisch" war in willkürlicher "Definition" wer von "nicht deutschblütigen" Eltern oder Großeltern abstammte; im Fragebogen zur Durchführung des Gesetzes wurde nach Name, Beruf, "Konfession (auch frühere Konfession)" der Eltern und Großeltern gefragt. Danach wurde entschieden, wer als nichtarisch galt. Die Durchführungsverordnung vom 14.11.1935 zu den "Nürnberger Gesetzen" vom 15.9.1935 legte dann nicht weniger willkürlich fest, wer Jude, Mischling 1. oder 2. Grades oder "Deutschblütiger" war.

[2]Vgl. Klaus Fuchs, Anmerkungen zur Haltung der Betzdorfer Lehrerschaft während der Zeit des Dritten Reiches, Festschrift 2001, S. 54

[3]Sein Vertrauen in einen Rest von 'Objektivität' ging soweit, daß er zu seiner Verteidigung eine Kopie seiner Verfasssungrede von 1931 einreichte.

[4] Dinkelacker schrieb an das Standesamt Heilbronn: "Da der Geburtsname meiner Mutter (Schabes/Schabbes KS) immerhin zur Vermutung Veranlassung geben könnte, dass es sich väterlicherseits um jüdische Abstammung handeln würde, was aber nach allem, was meine Mutter aus ihrer Kindheit erzählte, nicht der Fall sein kann, so bemerke ich noch, dass sie meiner Erinnerung nach erzählte, ihres Vaters Vorfahren seien aus Frankreich eingewandert, wären also dann wohl Hugenotten oder Waldenser. Es wäre mir sehr interessant, bei dieser Gelegenheit der Aufklärung dieser Frage etwas näher zu kommen...." Das Standesamt gab an das Kirchenamt weiter und ohne Kommentar - wurde bestätigt, dass beide Eltern von Emma Luise Friederike protestantisch getauft waren, ebenso wie ihre Tochter. Ob sie ihrerseits 'deutschblütig' waren, die Schabes und die Hochstetters, oder ihre Vorfahren Juden (oder Franzosen) gewesen waren, wurde nicht mehr nachgefragt. Zum amtlichen 'Verfahren' der Abstammungsnachweise hieß es damals: "Als Vermutung voll nichtarischer Abstammung gilt hier z.B. die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion..."; "Ist die Abstammung eines Großelternteils zweifelhaft, muß also der Nachweis auch für dessen Eltern geführt werden. Der Nachweis ist durch Vorlegen von Urkunden zu führen" (Kommentar im "Ahnenpass" den die Standesämter seit 1934 ausgaben)

[5].Clara schrieb ihrem Mann: "Lieber guter Vadder, / Eben ist die Entscheidung aus Berlin - direkt an Dich addressiert - gekommen. Nun wollen wir den Kopf hochhalten - wenn uns auch die Sache hart trifft. Ich wäre am liebsten selbst gekommen - aber es hat ja schließlich keinen Sinn und ich bin hier auch nötig ... Ich bitte Dich herzlich, schreibe an keinen Menschen und äußere Dich nur Deinen dortigen Freunden gegenüber." Tochter Hilde setzte hinzu: Lieber guter Babo! / Nimm den Mist nicht schlimmer als unbedingt nötig. Das lohnt nicht. Wir helfen Dir ja alle, durchzukommen, und es kommen auch mal wieder andere Zeiten. Wir wollen den Mut nicht verlieren, gelt?


 

 

Von der Wiederherstellung des Beamtentums zu der des Rechts.

Dinkelacker war im September 1933 dabei, die Unterlagen für seine Ruhegehaltsansprüche zusammen zu stellen. Ein Freund aus dem Stuttgarter Ministerium (Th.(?) Bracher) schickte ihm die gewünschte Urkunde und schrieb ihm zum Geburtstag:

"Du begehst diesen Tag unter Begleitumständen, die aufs tiefste zu bedauern sind, die aber leider Deine Freunde hier zu Lande nicht ändern können. Ich möchte aber herzlich wünschen und hoffen, dass Du gleich Deinen lieben Angehörigen den Schlag verwindests und dass die Entscheidung, die zunächst getroffen ist, nicht für alle Zeit das Ende bedeutet..."

Der "Bundesbruder" und Freund Theo Schenk war Pfarrer in Neulußheim in Baden schrieb am 7. September an den preußischen Kultusminister:

"Euer Exzellenz mögen mir als Freund des nach §4 des Gesetzes abgebauten Dr. A. Dinkelacker in Betzdorf/ Sieg gestatten, ein Wort für ihn einzulegen. Vorerst muß ich sagen, wer ich bin. Mein Name ist in Baden weit bekannt. Ich bin selber Nationalsozialist und wurde seit 1925 von der marxistischen Presse als völkischer Pfarrer und Nationalsozialist beschimpft. Jahre lang war ich in weitem Umkreis der einzige völkische Pfarrer, worüber der Herr Reichsstatthalter in Karlsruhe selber Auskunft geben könnte. / Dr. Dinkelacker ist seit 32 Jahren, seit der Tübinger Studentenzeit, mein Freund, der treueste von allen. Schon als Student war er ein begeisterter Mathematiker, wie er dann immer mit Leib und Seele Lehrer war. Seit dem Krieg gingen unsere politischen Wege leider auseinander. Für ihn war wesentlich mitbestimmend, daß er, der schmächtige Mann, 1914 nur als Schipper Verwendung fand, als gäbe es für ihn, der sein Vaterland immer liebte, nichts Besseres. Immer ein tatbereiter Mann, meinte er dann nach dem Krieg, sich auch in der demokratischen Partei (eigentlich war er Naumannianer) betätigen zu sollen. Unser Verhältnis zu einander wurde dadurch auch gespannt; aber jede neue Begegnung bestätigte mir, daß er im Grunde derselbe Idealist geblieben war. Er sah sein Ideal in ein politisches Gebilde hinein, das ihm nicht entsprach ... Der Abbau ist für Dr. D. auch insofern ein Verhängnis, weil er in Betzdorf ein eigenes Haus besitzt, für das er nicht einmal soviel heute bekommen könnte, als noch Schulden darauf ruhen. Sein und seiner Frau Vermögen stecken in diesem Anwesen. / Ich kenne die ganze Familie D. Die Frau kerndeutsch, die mit ihrer völkischen Grundeinstellung in diesen Jahren ihren Kampf auf Hoflfnung im Stillen gekämpft hat. Sie konnte nicht anders, als die Reinheit seiner Gesinnung und seinen echten Idealismus achten. Zwei der Kinder sind Typen des nordischen Menschen. Das innige und geistig reiche Familienleben kann vielen ein Vorbild sein. Und da schlägt der Abbau des Vaters hinein! / Ich bemerke noch besonders, daß Dr. Dinkelacker keine Ahnung von diesem Briefe hat, daß dieser vielmehr lediglich meinem eigenen inneren Triebe entsprungen ist. Mit aller Ehrerbietung und Heil Hitler!

Wie viele solche Briefe mögen damals geschrieben worden sein? Er ehrte den Schreiber, auch wenn die vorgebrachten Ansichten in zweckdienlich angepaßter Form zum Ausdruck kamen (welche beiden der drei Kinder schienen "Onkel Theo" so "nordisch"?). Seinen Zweck hat er nicht erfüllt. Die Freunde bedauerten die Familie und sprachen ihr Mut zu. Hans Bracke, Mitglied der DDP-Ortsgruppe seit ihrer Gründung vor 12 Jahren, schrieb schon am 7. September:

"Lieber Herr Doktor, nachdem nun die Entscheidung gefallen ist, die Sie und die Ihren so hart getroffen hat, sollen sie wissen, daß wir Ihrer herzlich gedenken. So schwer es ja auch für Sie ist, nicht mehr, wenigstens vorerst nicht mehr in Ihrem Berufe tätig sein zu können, so ist doch andererseits der Druck der Ungewißheit genommen und ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Sie bald ihr Gleichgewicht wieder gefunden haben mögen. Daß unser persönliches Verhältnis das gleiche bleiben wird, brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen. Es war uns eine rechte Beruhigung zu sehen, wie tapfer Ihre Frau sich zeigt..."

Unter dem 18. September lud Ihn Albrecht Schrenk[1] im Namen der ganzen Klasse zu einem Treffen der Abiturienten (vom Frühjahr 1933) ein und bat ihn, wenn er nicht in Betzdorf sei, doch ein paar Zeilen zu schreiben, die er den anderen dann vorlesen würde. Dinkelacker war noch immer in Süddeutschland und Schrenks Nachricht erreichte ihn nicht rechtzeitig ("Lore, die mich so mitvertreten mußte, wird das erzählt haben"). Er schrieb später:

"Die Anhänglichkeit meiner alten Klasse freut mich in dieser schweren Zeit, die ich samt meiner Familie jetzt durchzumachen habe, ganz besonders. Aus dem Geist der Wahrhaftigkeit heraus, in dem ich auch als Erzieher stets zu wirken versucht habe, kann ich gottlob sagen, daß ich mit reinem Gewissen und aufrechten Hauptes das mir Auferlegte zu tragen weiß und darauf vertraue, daß ein solcher Fehlgriff, wie er hier vorgekommen ist, keinen Bestand haben kann. Ich sehe nur zur Zeit keine Möglichkeit, gegen Unwahrhaftigkeiten und Entstellungen, wie sie die Lokalpresse (z.Z.) gegen mich verbreitet - die Quellen dafür sind sicher nicht die Schriftleitung der Betzdorfer Zeitung - wirksam vorzugehen ..."

Rudolf Seim schrieb Ende Oktober aus Essen:

"Die Nachrichten betr. der geplanten Gewalttätigkeiten, des Schicksals des Schwagers von Lores Bräutigam (ein sozialdemokratischer Lehrer, der auch seine Stelle verlor KS), des Sohnes Falks etc. haben mich mit tiefer Trauer und Empörung erfüllt, das Eintreten Deines Freundes Schenk und des nationalen(?) Bürgermeisters lassen mich die Hoflfnung hegen, daß sich mit der Zeit doch die anständigen Elemente durchsetzen ..."

Ein Jahr später, unter dem 20. September 1934 - die Mordaktion der Röhm-Affaire im Frühsommer hatte zu Veränderungen im Machtkartell geführt, das Regime stabilisierte sich - bat Dinkelacker noch einmal um Nachprüfung seiner Dienstentlassung. Ohne Erfolg. Seit Januar standen seine Bezüge "Im Anschluss an den Erlass des Herrn Ministers ... vom 30.8.1933" fest: Er erhielt ¾ von 69% seines ruhegehaltsfähigen Diensteinkommens bei einer Dienstzeit von 29 Jahren 11 Tagen. Das machte brutto 4905,90 RM jährlich (statt bisher brutto 9480 RM).

"Ich habe den Herrn Landrat ersucht, die Zahlung Ihrer Versorgungsbezüge unter Berücksichtigung der noch vorzunehmenden Kürzung und Einbehaltung zu veranlassen."

schrieb der Oberpräsident. Kürzung vor allem um 21% nach der "Brüningschen Notverordnung". Die jährlichen Nettobezüge lagen also bei 3900 RM. Schuldendienste für den Hausbau summierten sich vermutlich auf ungefähr 1000 RM. Von dem was blieb, konnte man leben, zumal im Haus eine kleine Wohnung (für monatlich RM 30,-) zu vermieten war. Das Studium beider Töchter war nicht mehr zu finanzieren[2]. Sohn Eberhard ging weiter in die Schule, von der sein Vater vertrieben wurde. Alfred Dinkelacker bearbeitete seinen Gemüse- und Obstgarten und gab Privatstunden. Heinrich Lake hatte im Jahresbericht 1933/34 festgestellt, daß der Lehrkörper kaum Veränderungen erfahren habe. Dr. Dinkelacker habe die Schule verlassen. "Kein großer Verlust", hatte er - warum auch immer - angemerkt[3]. Im Kollegium fand Dinkelacker wenig Unterstützung. Er hatte dort aber zwei Freunde, Otto Blosen und seinen Schwiegersohn Paul Schlüpmann. Die Privatstunden und einmal auch die Tatsache, daß Dinkelackers einen Primaner in Kost und Logis genommen hatten, boten Reibungspunkte. Im Konfliktfall stand sehr viel auf dem Spiel, jedenfalls aber die finanzielle Lebensgrundlage, wie sich gelegentlich zeigen sollte. Dann traten die beiden Freunde und auch Direktor Lake für ihn ein. Dinkelacker bemühte sich um formalen Schutz, 1934 trat er der NS-Volkswohlfahrt bei. Die Familie suchte ihn möglichst abzuschirmen. In alarmierenden Situationen wurde Clara, nicht er, in der "Kreisleitung" vorstellig. Im Krieg war er "Blockwart" der Luftschutzorganisation. 1944 wurde er zum "Volkssturm" eingezogen und landete beim "Westwall-"Bau in einer Strafkompanie. Gegen Kriegsende, als Betzdorf ziemlich zerbombt war, wurde ausgerechnet sein Haus vorübergehend Stabsquartier des Regiments, das die Front halten sollte. Aber die Front wurde nicht gehalten und der Krieg war zu Ende. Sohn Eberhard, der 1939 Abitur gemacht hatte, war von Anfang an Soldat, wurde Offizier in der Luftwaffe und war seit 1945 an der Ostfront "vermißt", das hieß tot.

Dinkelacker hatte überlebt. Das war vielen nicht vergönnt und viele Überlebende hatten schlimmere Verfolgung erlebt als er. Die, die ermordet oder deportiert und ermordet wurden, waren vor allem zu beklagen. Aber wundert es, daß noch einmal die "eigenen" Kriegstoten an erster Stelle betrauert wurden? Nur war diesmal Fritz Stengers Frage "Das soll alles vergeblich gewesen sein?" leichter mit Ja! zu beantworten und laut oder im Stillen war hinzuzufügen "Es war durch nichts zu rechtfertigen".

Mit der Neueinrichtung rechtsstaatlicher Verhältnisse konnte Alfred Dinkelacker an der alten Schule wieder Mathematik und Physik unterrichten. Dafür sorgten zuerst amerikanische und französische Verwaltungen, anschließend auch die deutsche. Landrat Boden, der 1933 als erster "abgebaut" wurde, war seit 1945 wieder im Amt und jetzt Mitglied der CDU. Er stieg in den nächsten Jahren zum Oberpräsidenten und zum Ministerpräsidenten in Rheinland-Pfalz auf. Von einem Aufstieg konnte bei Alfred Dinkelacker nicht die Rede sein. Der neue Rechtsstaat rehabilitierte ihn ohne Umstände. Gebrauchen, so will es scheinen, konnte er ihn kaum. Was war das Fazit des letzten Abschnitts in seinem Leben, als er 1958 mit 75 Jahren starb?

* * *


[1] Albrecht Schrenk kam 1943 als Soldat ums Leben.

[2]Hilde konnte mit Hilfe von Marie Baum, einer alten Bekannten der Familie, ein Stipendium bekommen und in Heidelberg Philosophie studieren. Lore heiratete 1934 Paul Schlüpmann, seit 1930 Lehrer für Deutsch und Religion an der Schule.

[3]Private Mitteilung Mathias Stausberg 1990/91