Festschriften und Fußnoten
Festschriften müssen der kritischen Darstellung nicht unbedingt Raum geben. Sie eignen sich auch nicht besonders zur kritischen Analyse. Andererseits tun ein paar ergänzende Fußnoten für interessierte Leser dem Jubel keinen Abbruch und fördern den gemeinsamen Umgang mit Vergangenheiten. Das Material, das in den folgenden Seiten zusammengestellt ist, mag solche Fußnoten liefern. Es liegt an der 'Schnittstelle' der individuellen (privaten) Geschichten mit der 'großen' Geschichte. Im Idealfall hat es eine vermittelnde Funktion nach beiden Seiten.
In der Festschrift zum hundertjährigen Jubiläum schreiben Hansgeorg Rack, der Schulleiter und Joachim Langhauser, Leiter der Festschriftredaktion:
"Der Pädagoge (Pestalozzi KS) und der preußische Staatsminister (Stein KS) strebten unabhängig von einander ein großes gemeinsames Ziel an, dem sich auch das Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Betzdorf-Kirchen seit nunmehr 100 Jahren verpflichtet fühlt: die Erziehung junger Menschen zu aufgeklärten, mündigen Staatsbürgern, für die Bildung nicht nur erlerntes Wissen bedeutet, sondern die sich auch in besonderem Maße einem Wertekanon verpflichtet fühlen: Toleranz gegenüber Andersdenkenden, die Achtung der Menschenwürde und die Bereitschaft zu Leistung und Selbstdisziplin." [1]
Wertekanon 2001. Fühlte sich das Gymnasium wirklich seit 100 Jahren ungebrochen dem gleichen großen Ziel verpflichtet? Beschwört die geschriebene Schulgeschichte eine glatte Vergangenheit oder eine mit Brüchen?
Zum Einzug in den ersten Schulbau 1906 sagte Landrat Görschen vor den in der Aula versammelten Schülern, Lehrern und Gästen:
"Der erste Ruf aber, der in dieser festlichen Halle erschallt, soll ein brausender Ruf deutscher Treue zu dem sein, der uns in frommem Sinn und in tatkräftiger Liebe zum Vaterland als berufener Führer vorangeht. Seine Majestät, unser allergnädigster Kaiser Wilhelm II., lebe hoch!"[2]
Im Oktober 1913 wurde überall in Deutschland 'unser' Sieg von 1813 gefeiert und Fritz Stenger, der erste Schulleiter, sagte:
"In dem schweren Weltkriege, auf den Deutschland, umgeben von mancherlei Feinden, jederzeit gefaßt sein muß, wird unser Volk nur dann bestehen können, wenn es in all seinen Söhnen und Töchtern die Gesinnung pflegt und erhält, wie sie das Volk der Freiheitskriege beseelte, wie sie in einem Mann wie Scharnhorst sich verkörperte. Kirche und Staat, Schule und Haus und all die Gemeinschaften, in die Gott den Menschen zu seiner Erziehung hineingestellt hat, haben dieser Aufgabe zu dienen."[3]
Ist es vielleicht sinnvoll, diese Zitate in Anbetracht anderer Zeiten und anderer Sprachgepflogenheiten, als Ausdruck 'im wesentlichen' ähnlicher Bildungsziele zu interpretieren? Deutsche Treue, frommer Sinn, tatkräftige Liebe zum Vaterland, die Scharnhorst zugeschriebenen Eigenschaften, mögen ja ihre positiven Aspekte gehabt haben, aber waren sich denn damals alle über den Stellenwert dieser 'Tugenden' einig? Wenn es gar keine Menschen gegeben hätte, die vorrangig andere Ziele hatten und damit den zitierten Autoren politisch (nicht nur 'parteipolitisch') fern standen, ließe sich über die ideelle Kontinuität reden. Es gab sie aber (und nicht nur das vielzitierte Beispiel von Gustav Wyneken[4] und dem Kreis der Wickersdorfer Schule). Man könnte auch darauf abheben, daß der 'Wertekanon 2001' in manchen Stücken damals schon einer sein konnte, die zitierten Autoren ihn aber nicht vermittelten. Man könnte sozialgeschichtlich die Relativität vieler Bildungsziele betonen, und damit das Gewicht der heutigen prüfen. Geschichtsträchtige, kontroverse Überzeugungen haben zu jeder Zeit politische Menschen von einander getrennt. Sich zu erinnern verweist in der Praxis auf die beiden ersten Forderungen des 'Wertekanons', auf Toleranz und Menschenwürde[5] (die dritte Forderung, Leistungsbereitschaft und Selbstdisziplin, würde ich einer anderen Diskussionsebene zuordnen). Kurzum, ich wünschte mir, daß das Bewußtsein von der Koexistenz alternativer Ansichten und Ziele, damals wie heute, immer zum Ausdruck käme. Ein Bewußtsein von der Koexistenz der anderen, nicht nur der jeweils privilegierten oder machthabenden Menschen.
Die erste Festschrift der Schule, 1926, war, so sehr sie vielen gefallen mochte, für andere skandalös. Die Kontroverse, die sich mit ihrem Erscheinen zuspitzte, führte überraschend schnell zu einem Umbruch. Im 9ten Jahr nach der Revolution wurde die Betzdorfer Schule republikanisch, wurde nicht ohne Druck, aber deutlich erneuert[6]. Der zweite Schulbau mag heute als Symbol für diesen Umbruch und als Zeichen bildungspolitischen Willlens der Weimarer Republik dastehen. Daß er keine Bauhaus-Idee darstellt, steht auf einem anderen Blatt.
In der ersten Festschrift beschrieb Fritz Stenger, Gründer und Direktor der Schule den Geist, mit dem sie ihre Aufgabe zu lösen bemüht war. Ihn bewegte ein Bibelspruch, der über dem Schultor stand: "Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang". Wertekanon damals. 1927 gingen laut Jahresbericht durch dies Schultor 263 evangelische, 135 katholische und 3 jüdische Schüler, weder "sonstige Christen" noch "Angehörige sonstiger Religionsgemeinschaften" noch "keiner Religionsgemeinschaft angehörende". Es waren 397 "Preußen", 6 "Nichtpreußen" und kein "Ausländer". 13 Mädchen. Sozial gerecht und weltoffen war die Schule damals nur sehr bedingt. Sie lag idyllisch wie ein Schullandheim, umgeben von Wiesen, Wald und sauberem Gewässer an einer gemütlichen, gepflasterten Landstraße.
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[1] 100 Jahre Freiherr-vom-Stein-Gymnasium Betzdorf-Kirchen, 2001, S.8
[2]Voraus gingen die (kaum weniger bedeutungsschweren) Sätze: "Wie sich unsere Augen beim Umblick von hier auf die ragenden Kirchtürme der Patronatsgemeinden richten, so mögen die Knabenherzen in diesem Hause dem religiösen Ideal zugewendet werden. / Wie das reizvolle Tal, an dem wir bauten, Freude an der Heimat weckt, so möge auch in den Räumen dieses Gebäudes die Liebe zur Heimat in die begeisterungsfähigen jungen Gemüter einziehen. Der Blick auf die vorüberströmende Sieg, die an den Schöpfungen einer gewerbefrohen Bevölkerung, Erzbergwerken, Hütten und anderen Anlagen vorbei ihren Weg zum Rheinstrom zieht, und auf ihrer Reise die kunstvoll angelegten Siegerländer Wiesen bewässert und die nach Väterweise bewirtschafteten Hauberge ebenso wiederspiegelt, wie den neu aufsprossenden Hochwald, den Reichtum künftiger Geschlechter, lehre die Knaben den Wert deutschen Fleißes und deutscher Art. /Die Freusburg, die, ein stehengebliebener Zeuge aus der Zeit der Kleinstaaterei, vom Waldgebirge her uns grüßt, erinnere die Schüler daran, daß unsere Ahnen Deutschlands Einheit und Größe erst erstreiten mußten und uns als ein heiliges Pfand überlieferten, was wir uns stets auf neue verdienen müssen. Das wird um so mehr in diesen Räumen vor ihren geistigen Augen lebendig werden, als nach dem Sinne unseres kaiserlichen Herrn ein besonderer Ehrenplatz der vaterländischen Geschichte in dem Lehrplan der Schulen eingeräumt worden ist." (Festschrift Realgymnasium des Kreises Altenkirchen zu Betzdorf, 1926, S.11)
[3]Ebenda, S.12
[4]Der Gedankenkreis der Freien Schulgemeinde, Jena, Diederichs, 1913
[5]Schließt die Achtung der Menschenwürde die Toleranz nicht ein? §1 GG: "Die Würde des Menschen ist unantastar". Vgl. die in meinen Augen schwächere Formulierung in der Europäischen Charta.
[6]S. den Jahresbericht 1927/28 im Vergleich zur ersten Festschrift und früheren Jahresberichten.
Ein verlorenes Stück Europa
Etwa 25 Sprachen, sagen Kenner, gehen heute jährlich in der Welt verloren, 5000 etwa existieren noch.[1] Vor hundert Jahren, als die Schule gegründet wurde, konnte einer, der hier aufgewachsen war, auf den Gedanken kommen, daß ihm mit der 'Mundart' seiner Kindheit etwas wertvolles geraubt wurde. In der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Entwicklung, in die auch die Schulgründung sich einfügte, wurden die Lokalsprachen mehr und mehr ausgegrenzt.
"Schwätz rechtig!Glich eäß, wadde heäjer schätzest, / hedat aorer dat ditsch / Däessend: wann de Plattditsch schwätzest, / schwätz och rechtig Plattditsch. / Laohß dich, leewer Jong verlaocke nie zo Mengeräjje! / bliff m'r wäck beät steärrer Braocke / Säh net Beene: Bäjje! / Laohß ähr Bodderbroärer äesse / Doach de steärrer Jonge! / Iserfäller onnerdäesse / äesse fädde donge. / Eäß d'r eä d'r Heärw gebleewe / Äje Speäck geheärig: / Häste schleechte freämde Greewe / daoch ze stähln net neärig! / Säh m'r nührsch net Nacht on Strembe, / Naohmeddag net sonnern / Ruß daoch beät de ahle Trembe: / Haose, Nähcht on Onnern. / Ob d'r Hobbel roof net Sidde! / Wäjjob eäß d't Nädde. / Gäh aou Babbe säch daoch, bitte / leewer werrer Ädde! / Kauf kajj Peärdche, kauf e Paardche / Faor din Gold on Nickel! Jäh d'r Hah net uß d'm Gaartche, / Flairer daoch, d'r Gickel! / Mutzcher, Millcher, nur käh Kisse / Geäff d'm Leewe Schätzche! / Laoß kajj Eichheärnche dich bisse, / bloß e Kowerätzche. / Woä de beäst, ah all de Plätze, / Hahl min Raoht foar wechtig! / Weällde eimaaol Plattditsch schwätze, / Jong, da schwätz och rechtig!"
("Sprich richtig!Gleich ist, was du höher schätzest, dies Deutsch oder das. Aber: sprichst du Plattdeutsch, sprich auch richtig. Laß dich, lieber Junge, nie verleiten, die Sprache zu vermischen. Bleib mir mit Siegener Brocken weg, sag nicht Beine sondern Bäjje! Lass die Butterbrote doch die Siegener Jungen essen, während Eiserfelder fette Donge speisen. Ist dir reichlich eigener Speck vom Herbst geblieben, hast du zu stehlen fremde Grieben doch nicht nötig. Sag mir nur nicht Nacht und Strümpfe, Nachmittag, wohl aber Haose, Nähcht und Onnern. Beim Schlittenfahren ruf nicht "weg da", "wäjobb" ist der saubere Ruf. Sag zu unserem Vater bitte lieber wieder Ädde! Kauf kein Pferdchen, kauf ein Paardche für dein Gold und Nickel! Jag den Hahn nicht aus dem Gärtchen, fliegt doch da der Gickel. Mutzcher, Millcher, nur nicht Küsse gib dem lieben Schätzchen! Laß dich vom Eichhörnchen nicht beißen, bloß vom Kowerätzche! Wo du bist, an allen Plätzen, halte meinen Rat für wichtig. Willst du Plattdeutsch sprechen, dann sprich richtig.")
Karl Hartmann (im Dorf Heäs' Karl, 1857-1910), der unter anderem dies Lehrgedicht geschrieben hat, war der Sohn von Sophie Baumgarten (1827-1907), der dritten Frau des 'Schichtmeisters' (im Bergbau und Hüttengewerbe) Hartmann in Eiserfeld, der in die Familienbibel eintrug: "...mein lieber Sohn zur Welt geboren. Gott der Herr stehe ihm bei und verleihe ihm ein frommes und gottseeliges Leben und hernach die Ruhe des Himmels". Kaum war der Sohn geboren, als der Vater starb. Die Mutter blieb zeitlebens eine fromme Anhängerin der 'Gemeinschaftsbewegung'[2]. Karl machte eine Apothekerlehre in Eiserfeld, als ererbte Grubenanteile ihn zu einem reichen Mann werden liessen. Der Stahlbedarf war seit dem Krimkrieg (Panzerblech) enorm gestiegen und phosphorarmes Siegerländer Manganeisenerz wurde als Zusatz beim Bessemerverfahren (bis etwa 1880) besonders wertvoll. Karl Hartmann wechselte zur Realschule erst nach Siegen, zum Abitur dann nach Duisburg und begann 1879, mit 22 Jahren, ein Sprachenstudium in Bonn (wurde Mitglied im Traditionsverein der 'Allemannen'). Ein Jahr später wechselte er zu den Naturwissenschaften, studierte auch in Berlin, Freiburg und Münster, bevor er im Herbst 1883 nach Eiserfeld zurückkehrte, sich im folgenden Jahr mit der 20-jährigen Lehrerstochter Anna Ronte aus Siegen verheiratete. Vier Kinder wurden in den nächsten Jahren geboren. Zunächst unterrichtete der Vater an der örtlichen Rektoratsschule (Grund- und Aufbauschule). Dann lebte die wachsende Familie von 1887 bis 1891 in Marburg, Karl promovierte 1889 im romanischen Seminar von Eduard Stengel über einen provenzalischen Text, "Über die Eingangsepisoden der Cheltenhamer Version des Girart de Viane". Seine Doktorarbeit brachte ihn nach Paris und Brüssel, vielleicht auch nach England. Mag sein, daß er zeitweilig seine Zukunft an der Hochschule gesehen hat, aber 1891 war die Familie wieder in Eiserfeld. Ein großes Haus wurde gebaut, ein großer Obstgarten beispielgebend und fachkundig (Lehrgang in Geisenheim) angelegt und gepflegt. Der 'Privatgelehrte' versuchte sich zu Hause einzurichten, zählte jetzt zu den Honoratioren im Turnverein. Von seinen Büchern hieß es, daß sie "in seinem Studierzimmer eine ganze Wand bedeckten".
Dies Leben, über dessen Sinn und Ziel vermutlich mehr zu sagen wäre, mußte sich ändern, als nach 1900 das im Familienunternehmen investierte Kapital verloren ging. Von Ostern 1904 bis Herbst 1905 fuhr Karl täglich nach Betzdorf. Dem Privatier fehlte die formale Qualifikation, aber vorübergehend konnte er an der neuen Schule wirken. Er hat wohl nicht geahnt, daß diese Anstalt die materielle Grundlage für drei Generationen in der Familie sichern
würde. Als die Schule 1906 im großen Neubau im idyllischen Siegtal ihren Betrieb auafnahm, zogen Stengers aus dem geräumigen 'Sohnschen Haus' (auf der 'Insel' zwischen Sieg und Sägemühlengraben, 1998 abgerissen) um in die Direktorsvilla und Hartmanns zogen ein. Es entstand in Verbindung mit der Schule ein Internat. Das Eiserfelder Haus und der Obstgarten wurden verkauft, vorsorglich ein Stück Land im Anschluß an das Betzdorfer Schulgelände erworben. Eine zeitweilige Perspektive auch für Rudolf, den ältesten Sohn, der Landschaftsgärtner wurde und von Kindheit an Spannungen in der Familie auf sich zog. Die ältere Schwester Klara, hatte 1903 in Berlin (Pestalozzi-Fröbel-Haus) eine Ausbildung als 'Kinderfräulein' abgeschlossen. Die jüngeren Söhne sollten studieren. Das Internat ließ sich gut an. Die Pensionäre waren Engländer. Eine 'Europa-Schule' damals in Betzdorf? Karl und Anna Hartmann waren mit Stengers gut befreundet. Hartmann teilte allerdings die konfessionalistisch-orthodoxe Einstellung seines Freundes ebensowenig wie die Erweckungsfrömmigkeit seiner geliebten Mutter. Über seine politischen Ansichten ist nicht leicht etwas auszusagen. Er soll seine Ausgabe der Werke Heinrich Treitschkes dem Freund und Direktor geschenkt haben, weil ihm die Lektüre leid geworden, an der dem anderen gelegen war. Seinen Ansichten entsprach die Realschule. Er mag sich die Sätze des Siegerländer Pädagogen Adolf Diesterweg (1790-1866) zu eigen gemacht haben:
"Alles wahre oder wirkliche Erkennen ruht auf Anschauungen, geht aus Anschauungen hervor ..." Ein dickes Herbarium in Buchform, unter seiner Anleitung angelegt, hielt sich in der Familie bis von den Pflanzen nur noch Krümel übrig waren. Er starb 1910, 53 jährig. Anna Hartmann konnte mit der Unterstützung Fritz Stengers das Internat weiterführen bis mit dem Krieg diesem Stückchen 'Europa', das in Betzdorf entstanden war, der Garaus gemacht wurde[3].
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[1] Vgl., Claude Hagège, Halte à la mort des langues, Paris, Odile Jacob, 2000
[2] Voraussetzung war das 1848 erstrittene preussische Versammlungsgesetz von 1850. Örtliche Kreise der Erweckungsbewegung ('Missionsvereine' wie auch der von Fritz Stengers Vater, Pfarrer in Rödgen, gegründete) konnten 1852 einen Verein für Reisepredigt aufbauen, der zur 'Gemeinschaftsbewegung' führte. Als sich in den 90er Jahren im Siegerland Gewerkschaften zu bilden begannen (erste Versuche in den 80ern, 1894 'Christlicher Bergarbeiterverein zu Eiserfeld'), waren etwa die Hälfte der protestantischen Mitglieder Anhänger der Gemeinschaftsbewegung. Die christlichen Gewerkschaftler gerieten unter den Einfluß der 1878 gegründeten Chrislich-Sozialen Arbeiterpartei Adolf Stöckers.
[3]Daß zwar die europäische Komponente, aber (noch) nicht das Schülerheim 1914 eine Ende fanden, geht aus einer Karte hervor, die Anna Hartmann Ende November 1914 an Clara zur Geburt der Enkelin schrieb: "... Das ganze Schülerheim steht auf dem Kopf, einer sagte, nun wären die Anstreicher endlich fertig geworden und spielte: "Von allen den Mädels so blink und so blank u.s.w." (die 'Oma' versorgte die fast vierjährige Hilde, für die "die Anstreicher gekommen waren" (übersetzt: die Geburt ihrer Schwester stand ins Haus). Welche Rolle die vom Vater verschriftete Lokalsprache in der Familie spielte, brachte zum Ausdruck was Gerhard Hartmann (als Soldat auf Urlaub zu Hause) auf der Karte aus dem 'Omahaus' schrieb: "Dann singen wir im Chore / (Dat eäß no mol so more!) / "Es leb die kleine Lore / vom Rellinghauser Tore (Straße in Essen KS) " (So Rimmcher konn naoch nemes liere / die komme nur ruß eä Kreegsziere)" (Das ist nun mal so 'Sitte' .... solche Reime konnte noch niemand lesen, die kommen nur raus in Kriegszeiten).
Auf friedlichen Wegen im Kaiserreich
Christian Dinkelacker, Seidenweber in Sindelfingen, war 18 Jahre älter als Karl Hartmann und 27 Jahre alt, als das württembergische 'Amt für Gewerbefleiß' (Ferdinand Steinbeis, der 'Modernisator' im Königreich) ihm 1866 die Ausbildung zum Musterzeichner in Mulhouse und Paris ermöglichte. 1870 als 'feindlicher Ausländer' repatriiert, wurde er Zeichenlehrer der Oberschule in Calw, kaufte ein Haus und verheiratete sich mit Emma Schabbes, geboren in Heilbronn, aufgewachsen als Waise bei den Großeltern in Winnenden. Der Sohn Alfred (1883-1958) war bei der Aubfnahme ins Reallyceum 8 Jahre alt, kam mit 14 Jahren als Staatsstipendiat zum theologischen Seminar in Maulbronn und mit 16 zum Seminar in Blaubeuren, um 1901 im Konkursexamen die Schule abzuschliessen und als Angehöriger des 'Stifts' in Tübingen zu studieren. In den Schulen waren Latein, Griechisch und Hebräisch Pflichtfächer, im Stift lebte man unter Theologiestudenten. Alfred studierte Naturwissenschaften und Mathematik und promovierte 1907 bei den Physikern Friedrich Paschen und Richard Gans mit "Beiträgen zur Kenntnis der Spitzenentladung". Paschen mag Kennern als Pendant zu Max Planck gelten. Experimentator der eine, Theoretiker der andere, politisch und religiös liberal der eine, eher konservativ in beidem der andere. Gans, später Professor in Königsberg, wurde 1935 abgesetzt, entging knapp der Deportation und emigrierte 1947 nach Argentinien.
Seit dem ersten Staatsexamen im Herbst 1906 war Dinkelacker provisorischer Vikar an der Oberrealschule Esslingen, danach kamen Vertretungen in Biberach und Ulm bis zur Anstellung im Frühjahr 1909 an der Essener 'Viktoria- und Louisen- Mädchenschule und Lehrerinnenbildungsanstalt' (die Rückzahlung der Ausbildungskosten an den württembergischen Staat betrug 3139,17 Mark, das war damals mehr als ein Jahresgehalt). Im Vorjahr hatte ein berühmter
Erlaß des Kultusministers Trott den Frauen in Preußen endlich den Zugang zur Oberschule geöfbfnet. Der Andrang wuchs und die ersten Absolventinnen waren vermutlich hoch motiviert. Ebenso der neue Lehrer für Mathematik und Naturwissenschaften. 1910 konnten Alfred Dinkelacker und Clara Hartmann heiraten. Sie kannten sich aus Tübingen, wo Clara als 'Kinderfräulein' in einer Professorenfamilie gearbeitet hatte.
1912 traf sich in Essen der Evangelisch-soziale Kongress, eine Plattform sowohl der Volkskirchenbewegung im Protestantismus wie des politischen Liberalismus im Kaiserreich, Begegnung von Theologen und Ökonomen. Adolf von Harnack, der langjährige Vorsitzende, Kirchenhistoriker und Direktor der Berliner Staatsbibliothek, wurde gerade Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max-Planck-Gesellschaft, damals eine Neugründung, die dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt dienen sollte). In Essen referierten der Ökonom Leopold von Wiese und der Marburger Theologe und Herausgeber der 'Christlichen Welt', Martin Rade zu 'Staatssozialismus und Individualismus'. Friedrich Naumann sprach über 'Religion und Bildung'. Dinkelacker zählte nicht zum Ortsaus schuss der
Veranstalter (wie der Direktor (Fitchen) seiner Schule), aber hatte in diesem Kreis seine politische Heimat[1]. Zwei Porträtfotos haben ihn ein Leben lang an der Wand neben dem Schreibtisch begleitet, eins von Friedrich Naumann, das andere von Adolf Harnack.
Ein von Dinkelacker für den 'Verein der Freunde evangelischer Freiheit' gezeichneter Aufruf zu den Kirchenwahlen gab in drei Punkten Auskunft über seine (kirchen-)politische Einstellung, in der er sich übrigens mit Clara einig wußte:
"Wir wollen eine Volkskirche, welche jeder Richtung, die auf dem Boden evangelischen Christentums steht, Raum läßt und auch die Minderheiten berücksichtigt / Wir wollen eine evangelische Volkskirche, in welcher überzeugte Christen aller politischen Parteien sich wohl fühlen. / Wir wollen eine Volkskirche, deren Verfassung nicht nur demokratisch klingt, sondern auch demokratisch ist."
1914 wurde Alfred vorübergehend mobilisiert (als Reservist einer Pioniereinheit)[2], nach sechs Wochen aber zurückgestellt. Der Krieg war verheerend. Während Millionen starben entstanden in den Köpfen vor dem Hintergrund des kollektiven Traumas ideologische Fixierungen und Feindbilder, 'Gräben' zwischen Menschen und Gruppen, die, wie sich leider zeigen sollte, auf ein mörderisches Potential im gesellschaftlichen Zusammenleben hinausliefen, und unendlich fortwirkten. Mit der Revolution gewann die Partei zu der Alfred tendierte, die Deutsche Demokratische Partei (DDP), zunächst eine große Wählerschaft. Die Freude über das neue Regime, über das Frauenwahlrecht, über die Abschaffung antisemitischer Diskriminierung konnte über Not und Instabilität der Gesellschaft nicht hinwegtäuschen. In Betzdorf kämpfte Anna Hartmann mit gesundheitlichen und ökonomischen Schwierigkeiten. Sie trauerte um ihren jüngsten Sohn. Sie teilte ihr Leid mit Stengers, die ihren einzigen Sohn verloren hatten. Ihr zu Gefallen bot Fritz Stenger Alfred Dinkelacker den Wechsel nach Betzdorf an. Der kandidierte nicht ohne Bedenken, das Kuratorium wählte ihn und er nahm an.
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[1]1913 wird die Frage der sinkenden Geburtenzahlen Anlaß zu einem Briefwechsel mit dem Vorsitzenden Otto Baumgarten. Dinkelacker empörte sich über die moralische Argumentation des Essener Generalsuperindententen Klingemann, der von Bequemlichkeit und Schlechtigkeit in der Bevölkerung gesprochen und geschrieben hatte. Dinkelacker: "... ist die "gewollte" Beschränkung der Kinderzahl angesichts der heutigen ernsten Lebensverhältnisse unbedingt ein Zeichen von Bequemlichkeit?" Als Mitglied fand er, der Kongress solle der Thematik auf den Grund gehen. Baumgarten schrieb zurück, er habe versucht im Ausschuß den Vorschlag einzubringen, das Thema sei zu heikel, deshalb sei er erst einmal gescheitert. Er sei aber ganz auf Dinkelackers Seite und schrieb am 17. November: "Übrigens wäre ich Ihnen durchaus dankbar, wenn Sie die noch bleibenden Bedenken, die Sie bezüglich der Kindererzeugung haben, in einem Briefe an mich, den ich dann in der "Evangelischen Freiheit" abdrucke, zusammenzufassen ... Indem ich Sie bitte, diese sehr verspätete Antwort auf Ihren lieben Brief als eine Ermutigung zur Fortsetzung der Korrespondenz aufzufassen, bitte ich Sie noch, Ihrer lieben Frau, die mich so überaus herzlich bewirtet hat, - ich gedenke auch noch an das reizende Kind zum Nachtisch - und Ihrem sehr geehrten Herrn Kollegen herzliche Grüße zu übermitteln. Ich denke mit Vergnügen an meinen letzten Besuch in Essen..." Gegen den Hochschullehrer Otto Baumgarten richteten sich die Angriffe der Nationalsozialisten schon vor dem 30. Januar 1933.
[2] Essener Schülerinnen schrieben ihrem Lehrer: "So sehr wir uns freuen, daß auch unser Klassenlehrer in den Dienst unseres geliebten Vaterlandes steht, so wünschen wir aber auch, daß, wenn Sie zurückkommen, wieder unsere OII unterrichten. Wir sind fleißig und stricken Strümpfe, Puls- und Kniewärmer. Schulaufgaben haben wir nicht viel und können so in der Kriegshilfe tätig sein. In Mathematik, Physik und Chemie strengen wir uns alle tüchtig an, um Ihnen Ehre zu machen..." Brief vom 11.9.14. Alle Zitate aus Schriftstücken, Zeitungsausschnitten im Folgenden, soweit nicht anders vermerkt: Privatarchiv Lore Schlüpmann (PALS)
Streit muß sein
Ab Oktober 1919 unterrichtete der Nichtkriegsteilnehmer, der erklärte Gegner 'autoritärer' Unterrichts- formen, der Anhänger der politischen Demokratie und des (kultur-)protestantischen Liberalismus im Verein mit einem Direktor, der in allen Stücken das glatte Gegenteil verkörperte. Fritz Stenger lebte im Bewußtsein
seiner Verdienste um den Schulaufbau in Betzdorf und deren Anerkennung in der lokalen Gesellschaft. Dinkelacker stellte sich den Realitäten der hiesigen Schularbeit im Bewußtsein des Reformwillens[1], der in den Wahlen zur Nationalversammlung und in der neuen Verfassung zum Ausdruck gekommen war[2]. Für Dinkelacker signalisierte schon Kapps Putschversuch im Frühjahr 1920 den Konflikt, der auf ihn zukam: Fritz Stenger zog als Zeichen seiner Sympathie mit den Putschisten an der Direktorsvilla neben der Schule die kaiserliche Fahne auf.
Die Parlamentswahlen im Juni 1920 hätten Dinkelacker vollends entmutigen können. Die DDP sank im Kreis Altenkirchen von 19% (7178 Stimmen) auf 1,5% und die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) erhielt auf Anhieb 6955 Stimmen (19%). In ihrem lokalen Vorsitz amtierten Fritz Stenger (und später der Kollege Max Lohmann) Spitzenkandidat und Abgeordneter des Wahlkreises Koblenz-Trier-Birkenfeld war der Schloßherr von Friedewald, Richard Sayn-Wittgenstein-Berleburg. Der politisch bestimmende Faktor im Kreis Altenkirchen war und blieb die Zentrumspartei, deren Stimmenanteil nie unter 40% sinken sollte (und deren Vorstand der Kollege Michael Reif angehörte)[3]. Dem Zentrum nahe standen die 'Rheinisch-Westfälische Volkszeitung' (RWVZ, in der Postraße 4 in Betzdorf), später die 'Siegblätter' (SB), während die 'Betzdorfer Zeitung' (BZ)
E. A. Böckelmanns (Schriftleitung Balthasar Wirth) ihren Lesern unermüdlich antirepublikanische Polemik lieferte und für DNVP, Fritz Stenger, und die nationale Rechte Partei ergriff. Eine Kostprobe: Unter dem 8.2.1922 druckte die BZ ('zugleich Kirchener und Wissener Zeitung' und 'Generalanzeiger für den Kreis Altenkirchen') "Eine Schulrede zum 9.November":
"Meine lieben Schüler! / Die letzte Unterrichtsstunde an diesem Tage soll nach Anordnung der Thüringer Staatsregierung keine Lehrstunde sein, sondern eine Feierstunde. Wir sollen den 9. November als Erinnerungstag der deutsche Revolution vom Jahre 1918 festlich begehen, und zwar soll er gewürdigt werden als ein Tag der Befreiung des deutschen Volkes. Wir müssen uns also fragen: Wo von hat uns dieser Tag befreit?...
Der 9. November hat uns "befreit" von Elsaß-Lothringen, dem Saarbecken und dem linken Rheinufer ... von allen unseren Kolonien, also den eigenen Bezugsländern von Rohstoffen für unsere Industrie ... von unserem Heere und unserer Kriegsflotte und damit von der Möglichkeit, dem Auslande gegenüber irgendeinen nationalen Willen geltend zu machen; ... von unserer stolzen, in der ganzen Welt hochangesehenen schwarz-weiß-roten Flagge, an deren Stelle nicht der Feind, sondern die Revolutionsmänner uns die schwarz-rot-tineff Fahne aufgenötigt haben, wie sie von den Millionen Schnorrern, Dieben und Betrügern bezeichnet wird, die uns aus Polen und Galizien überschwemmt haben ... Ihr seht also, meine lieben Jungen, was für ein herrlicher Befreiungstag der 9. November 1918 gewesen ist..."
Angesichts des lokalen Wählerspektrums und der lokalen 'Medienlandschaft' trafen sich am 19. April 1921 ein paar Frauen und Männer im 'Zentralhotel' in Betzdorf und gründeten die "DDP, Ortsgruppe Betzdorf und Umgebung". Dinkelacker wurde zum Vorsitzenden gewählt. Im Vorstand amtierten unter anderen die Lehrer Bracke/Kirchen, Idelberger/Wissen, Leonhard/Betzdorf (trat 1925 aus, vermutlich wegen der Haltung der DDP zum "reaktionären" Schulgesetzentwurf des deutschnationalen Innenministers), Frau Oswald/Herdorf, Seekatz/ Kirchen,
Rudolf Seim/Betzdorf und der Kreisvorsitzende des Lehrervereins, Emil Weyel/Wehbach ebenso die Herren Eichhorn/Betzdorf, Katastersekretär Heib/Betzdorf, Mertens, Pabst/Mudersbach, Stahl. Die Familie Seim, Vater Karl und die Söhne Richard, Rudolf, Otto und Karl waren ein Stütze der Neugründung. Als weitere Mitglieder wurden geführt: Regierungsamtmann(?) Hickmann/Kirchen, Amtsgerichtsrat Löwenstein/Kirchen,
Lehrer Ochs, Lehrer Otto Schneider/Betzdorf, Herr Schwarz. Die DDP Orts-und Kreisgruppe trug zwar in den folgenden Jahren auch mit öffentlichen Vorträgen und Wahlveranstaltungen zum politischen Leben bei, ein Hauptzweck mag zunächst jedoch darin gelegen haben, den Menschen, die sich auf einer republikanischen Linie neben SPD und Zentrum politisch engagierten, Rückhalt, Selbstkontrolle und Ausweg aus der Einsamkeit zu bieten. Die versammelte schulische Kompetenz war hoch, das bildungspolitische Interesse kam in vielen Sitzungen und in der Wahl der Vortragsthemen zum Ausdruck[4].
Die BZ druckte die Annonce ("Jedermann, besonders auch Frauen, sind freundlichst eingeladen") und kommentierte freundlich-zustimmend die erste öffentliche Versammlung Mitte Oktober 1921 mit dem Redner Edmund Mugler, Theologe und Studienrat in Siegen. Thema 'Autorität und Freiheit': "Selbständigkeit des Staatsbürgers, dem sein Gewissen und Verstand den rechten Weg zeigen, ist die einzige Sicherheit für den Staat und zugleich der einzige Weg zum Menschentum". Ein Vortrag, dessen Inhalt 'hoch über allem Parteiengezänk' stand, nur die Zuhörerzahl ließ zu wünschen übrig. Der 1. Vorsitzende hob hervor, daß die Ortsgruppe "es als ihre Aufgabe betrachte, zum Ausgleich der Parteigegensätze beizutragen." Die RWVZ beklagte den "allgemeinen Indifferentismus politischer Betätigung", auf den die geringe Besucherzahl wohl zurückzuführen sei und kommentierte die Parole des Vorsitzenden: "Also ist Verständigung mit den Herren von der Demokratischen Partei möglich". Dann wurde allerdings auch erklärt, daß man im Punkt 'Kultur' des Parteiprogramms nicht einer Meinung sei, ein allgemeiner religionskundlicher Unterricht zusätzlich zum konfessionellen sei eine "Halbheit, mit der wir uns nicht anfreunden können".
Die 1922 folgenden Vorträge waren, jedenfalls zum Teil, etwas besser besucht (40-50 Teilnehmer) und wurden damals spaltenlang in der örtlichen Presse referiert. Anfangs schrieb Dinkelacker in der BZ die "Vornotizen". Der Landtagsabgeordnete und Seminardirektor Gottschalk/Gummersbach sprach über "Deutschlands Wiedergeburt durch die Demokratie", der Kreisschulrat Ufer/Dillenburg zum Thema "Der Reichsschulgesetzentwurf", der Reichstagsabgeordnete Ziegler/Siegen über "Die politische Lage". Ende Juli trafen sich die Mitglieder mit Familie zu einer "Uhlandfeier" auf der Freusburg. Gedichte wurden vorgetragen und Lieder gesungen (Clara Dinkelacker sang und spielte Laute).
In ihrer Versammlung am 4. Juli gedachten die Mitglieder des ermordeten Aussenministers Walter Rathenau. Dann wurde vorgelesen was der Vorstand "zur Abwehr der dauernden Angriffe und Verdächtigungen Böckelmanns in der BZ gefertigt hat und das zur Aucfnahme in besagtes Blatt bereits der Redaktion übergeben wurde". Die Zeitung hatte den Profilierungsgewinn erkannt, der im 'Kampf' mit dem kleinen Gegner lag.
Voreingenommenheit gegen Neuerungen war nicht spezifisch für Betzdorf und nicht für die Betzdorfer Schule. Wie war damit umzugehen, daß sich das Ressentiment hartnäckig hielt, auch wenn Verfassungsloyalität und Gesetzeskonformität berührt waren?[4a] In der Schule kam es immer wieder zum besonderen Ausdruck bei Gelegenheit der neuen Verfassungsfeiern[5], beim Übergang zu neuen Geschichtsbüchern[6], in der Regelung des Zugangs für Mädchen (die übrigens noch lange nicht mit der männlichen Jugend gleichgestellt wurden), in den Modalitäten der Zusammenarbeit von Lehrerkollegium und Elternschaft, im Umgang mit Schülerinitiativen und nicht zuletzt im Umgang mit einem Lehrer, der außerhalb der Schule ein politisches Profil[7] zeigte, und in der Anstalt Legalität und Loyalitäten der Amtsführung des Leiters in Zweifel zog? Einer, der auf seinem Standpunkt beharrte, daß an die Stelle von "Treue" zur Autorität Achtung der Verfassung treten mußte, daß nur die Verfassung den Schutz des Einzelnen vor Willkür leisten kann, und daß die Schule ihrer Verpflichtung, Rechtsbewußtsein auszubilden, nicht nachkommt, wenn sie die Verfassung nicht achtet. Schüler, denen sich Recht und Moral in überkommen autoritärer Weise im Lehrer personifizierten, fanden vermutlich schnell ihre Formel für die Gegenrede dieses "Aussenseiters" für sein "Meckern" in wenigen, aber immer den gleichen Dingen gegen den Chef. Er mag ihnen als Pedant erschienen sein[8]. Er mag in manchem auch ein Pedant gewesen sein, in vielem war er es nicht. Die Vorstellung, die er vom pädagogischen Ziel und den Formen seines Eintretens für die demokratische Grundordnung in der Schule hatte, scheint eher großzügig und auf lange Sicht angelegt. Für diesen erfahrenen Pädagogen und im Kampf um die 'Volkskirche' (Demokratie in der protestantischen Kirche) erprobten (und aus heutiger Sicht sich sehr 'patriotisch' gebenden) Bürger stellte sich der Chef und Gründer der Schule nach zwei ein halb Jahren so dar, als habe sein ganzes Verhalten
"in der Hauptsache den Zweck und das Ziel, unsere Schulorganisation solange und soweit als eben möglich auf einem veralteten, äußerlichen und darum m.E. falschen Autoritätsstandpunkt zu erhalten, dazu unsere Schuljugend systematisch zu kritikloser Voreingenommenheit für das vergangene monarchische System einerseits, zum direkten Widerwillen gegen die ganze heutige Verfassung andererseits zu erziehen"[9]
Er notierte ergänzend, daß er
"keinem Lehrer zumute, gerade auch vor Schülern irgend etwas gegen seine innere Überzeugung zu reden oder zu tun. Darum kann man auch m.E. von einem überzeugten Anhänger der alten Verfassung nicht verlangen, dass er der Jugend Liebe für die heutige einflößt. Dagegen kann man von einem Lehrer, der auf diese Verfassung vereidigt ist, erwarten, dass er sie im Unterricht objektiv würdigt und sie jedenfalls nicht direkt oder indirekt in den Augen der Schüler verächtlich macht, bezw. dass er, wenn er sich durchaus nicht auf die heutigen Verhältnisse einstellen kann, sich in seinem Amt in der Kritik u. dem Kampf gegen sie, die gebührende Zurückhaltung auferlegt."[10]
Es kam zum Eklat, als Dinkelacker im März 1922 bei Gelegenheit der Abitursprüfungen mit dem Schulrat Wüllenweber ein kurzes, persönliches Gespräch führte. Er hatte vorher den Kollegen Wunn ins Vertrauen gezogen. Die Aktion war heikel, weil formal eine Anzeige in Betracht kam, die aus menschlichen, vielleicht auch aus politischen Gründen ausdrücklich nicht gewollt und nicht gemeint war. Dinkelacker hatte den Eindruck, daß Wüllenweber ihn verstand. Wie und was Stenger von diesem Gespräch erfuhr, ist nicht dokumentiert, nur daß der Direktor Dinkelacker nicht mehr grüßte und ihm die persönliche Aussprache ebenso verweigerte wie die Behandlung der Angelegenheit in einer Konferenz.
Eine indirekte Äusserung Fritz Stengers hat sich erhalten. Clara Dinkelacker besuchte im Frühsommer 1922 mit ihrem Bruder Rudolf die Familie ihres Bruders Karl, Arzt in Neubrandenburg. Frau Stenger schrieb ihr unter dem 11. Juni:
"... daß ich nicht mehr zu Euch ins Haus kommen kann. Ich stand und stehe ja auf dem Standpunkt, dass im allgemeinen dienstliche Angelegenheiten und Differenzen uns Frauen nichts angehen, aber es gibt doch Lagen, das merke ich jetzt, in denen man diesen Grundsatz nicht aufrecht erhalten kann. Nach dem, wie Dein Mann sich gegen den meinen benommen hat, ist es auch mir unmöglich, gesellschaftlich mit ihm zusammen zu sein. Es würde unwahrhaftig sein, wollte ich ihm gegenüber ein Verhalten zeigen, das nicht meiner Gesinnung entspricht, darum ists besser, offen und ehrlich zu sagen, wie ich denke. Selbstredend habe ich auch jetzt noch Dir gegenüber die alte Gesinnung. Nach eingehender Rücksprache mit meinem Mann und mit seiner Zustimmung will ich Dir auseinandersetzen, wie wir die Sache ansehen... Solange Dein Mann hier ist, hat er durch sein fortgesetztes Nörgeln und seine wiederholten, meist in schärfster Form geführten Angriffe gegen meinen Mann diesem sein Amt erschwert und auch nach allgemeinem Urteil einen ganz anderen Ton in die Verhandlungen der Konferenz hinein getragen. Nicht allein in der Sache, sondern ganz besonders durch den Ton, die ganze gehässige Art, die Form- und Taktlosigkeit seines Vorgehens hat er ihm immer wieder zu schaffen gemacht... Zugleich agitiert Dein Mann im Kollegium als Vorkämpfer für dessen angeblich bedrohte und verkürzte Rechte heftig gegen ihn, arbeitet dabei aber tatsächlich ganz unzweideutig darauf hin, ihn möglichst an die Wand zu drücken, dem Direktor möglichst alle Befugnisse zu nehmen, auch die Entscheidung über alle Kleinigkeiten nur auf die Konferenz zu übertragen. Diese in naivster Weise immer wieder versuchte Bevormundung und Gegenarbeit geht soweit, dass er sogar meinem Manne geradezu eine Verleugnung seiner Gesinnung und Überzeugung, eine Umstellung in die republikanische und preussenfeindliche fordert und ihm jede Bekundung preussischer Gesinnung, jeden Hinweis auf die einstige Grösse unseres Staates und deren Gründe verwehren will, auch bei den Schülern gegen ihn arbeitet... Die Anschauungen können ja verschieden sein, und es ist selbstverständlich, dass mein Mann ihm entgegengebrachten Wünschen, sofern dies in richtiger Form geschieht, gerne entgegenkommt, soweit es nur möglich ist. Aber gerade die bevormundende und verletzende Art, in der Dein Mann die seinen geltend macht, zwingt meinen Mann zu seinem Verhalten und lässt ihn auch keine Aussicht sehen, dass es jemals anders werden könnte. Er glaubt, diese seine Stellung sich selbst und der Schule schuldig zu sein. Ich denke, nach alle dem wirst Du es verstehen, dass auch ich mich zu verhalten müssen glaube, wie ich es im Anfang meines Briefes erwähnt habe."[11]
Clara antwortete:
"Liebe Anna ... Ich kann nur sagen, daß mein Mann 10 Jahre in Essen an der Schule war und immer von seinen Collegen und Schülerinnen geliebt und geachtet wurde. Bis zum heutigen Tag habe ich viele Beweise treuester Anhänglichkeit an ihn. Er hat auch immer froh und zufrieden seinen Dienst getan. Wenn es nun hier so ganz anders wurde und mein Mann oft so verbittert war, müssen doch wohl schwerwiegende Gründe vorhanden sein, die außerhalb seiner Person liegen..."
Was wurde von Dinkelacker erwartet? Daß er ging? - Er blieb, ertrug das Klima in der Schule, widmete sich dem Unterricht und führte nebenbei die Partei- und Kulturarbeit fort. Beruhigte sich damit, daß Fritz Stenger 1927 in den Ruhestand gehen würde.An Wochenenden stand viel Natur und Wandern auf dem Programm, der Stegskopf mit seiner Hütte[11a] und die Jugendherberge Freusburg spielten im geselligen Leben der Familien- und Parteifreunde - meist Lehrerinnen und Lehrer - eine kaum zu überschätzende Rolle. Dinkelackers bauten unweit der Schule, auf dem Grund und Boden der 'Erben Hartmann', ein Haus, in das die Familie mit drei Kindern, Großmutter Hartmann und Rudolf, dem Landschaftsgärtner, im Herbst 1925 einzog. Anna Hartmann erlebte nur ein Jahr lang ihre Wohnung im neuen Haus. Sie starb am 9. November 1926[12], wenige Tage vor einer Welle der Entrüstung, die sich gegen ihren Schwiegersohn richtete[13].
1924 weihte die Schule ihr "Kriegerdenkmal" ein. Heinrich Lake redete und ermahnte zu Mut und nationaler Würde. Eine heute merkwürdige 'Würde', die von "Dolchstoßlegende" und "Kriegsschuldlüge" nicht zu trennen war:
"Und so sei Euch, liebe Schüler einmal wieder gesagt,auf welcher Seite die Schuld am Kriege zu suchen ist. Der Nachweis ist erbracht, daß unsere Feinde ihn seit Jahrzehnten planmäßig vorbereitet haben, und daß allen Organe ihrer Regierungen sich dabei bewußt haben leiten lassen von folgenden Hauptfaktoren: / in Frankreich von einer 1000 Jahre alten Raub- und Zerstörungspolitik mit dem Ziel, den deutschen Rheinstrom französisch zu machen, und von einem künstlich ins maßlose gesteigerten Rachetrieb für 1870/71; / in England vom Handelsneid und von der Einkreisungspolitik König Eduards VII; / in Rußland und in seinen slavischen Vasallenstaaten auf dem Balkan von einem unersättlichen Ausdehnungsdrang, besonders nach Konstantinopel hin."[14]
Nicht gerade eine Aufforderung zur Verständigung nach 'aussen'. Nach 'innen' stand es in der Schule mit der Verständigung auch nicht gut. Zu den Nationalfestspielen in Weimar reisten in diesem Jahr "Abordnungen vieler Schulen aus dem ganzen Reich, insbesondere auch aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet (die von Truppen der Kriegsgegner besetzt waren KS) (BZ)". Fritz Stenger lehnte eine Reise der Prima mit dem Hinweis ab, daß Friedrich Ebert da der Schirmherr sei[15]. Der wandte sich dann auch besonders an die rheinländische Jugend und die Betzdorfer konnten in ihrer Zeitung lesen:
"Ihr deutsche Jugend, seid die Hofcfnung, seid die Zukunft unsers Vaterlandes, um deretwillen wir in duldendem Ausharren die schwere Last der Gegenwart tragen. Ihr sollt, ihr werdet wieder lichtere Tage sehen! Seid aber stets eingedenk, daß auch ihr Pflichten habt gegen euer Vaterland und euer Volk; fühlet euch mit Hingabe und Liebe als Glieder der deutschen Volksgemeinschaft; lebet nicht allein deutschen Taten der Vergangenheit, sondern wirkt mit an den Aufgaben der Gegenwart und stehet in gegenseitigem Verständnis in Einigkeit zusammen, die allein uns stark machen kann..."
1924 war ein doppeltes Wahljahr und für die Ortsgruppe der DDP ihr erstes. Unter ihren Wahlrednern in Betzdorf waren alte Bekannte aus dem Evangelisch-Sozialen Kongress wie H. Hermelink, Theologe/Marburg (Maiwahlen,"Politik der Vernunft oder der Katastrophe?") oder Martin Rade, Theologe/Marburg[16] und Frau Dora, geborene Naumann, (Dezemberwahlen, "Die nationale Aufgabe der Demokraten", "Das Londoner Abkommen"[17]). Martha Dönhoff/Soest redete zum Thema "Die Frau und die Politik". Im Ergebnis konnte die Partei sich im Wahlkreis gegenüber 1920 kaum verbessern (von 563 auf 738 Stimmen), immerhin war ein deutlicher Stimmengewinn im Bereich der Ortsgruppe zu verzeichnen, während die DDP auf Reichsebene fast ein Drittel ihrer Mandate verlor.
Die lokale Stärke der Zentrumspartei beschränkte den Einfluß deutsch-nationaler Kreise und Parteigänger in Betzdorf, sonst hätte Alfred Dinkelacker vermutlich dem Druck in Schule und Öffentlichkeit nicht standhalten können. Als Regierungspartei von Dauer stand das Zentrum zum neuen Staat, trotz so manchem 'lauen' Republikaner in seinen Reihen. Als sich auch in Betzdorf das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (RB - 'Bund der republikanischen Kriegsteilnehmer') gründete, als Pendant zum 'Stahlhelm' auf der Rechten, aber auch als militante republikanische Organisation gegen die SA, und auf der Linken gegen die 'Rotfront', trat Dinkelacker bei. Er fand dort einen 'Kameraden' im 'Führer' Hubert Meurer/Zentrum, Redakteur der RWVZ - und kein 'lauer Republikaner'. Die beiden waren die 'Studierten' im lokalen RB, in dem sich in überwiegender Zahl Arbeiter versammelten. Meurer schrieb Anfang 1929 aus Magdeburg rückblickend an Dinkelacker:
"Aus persönlichen und beruflichen Gründen bin ich allerdings nicht böse darum, dem Siegerland den Rücken gekehrt zu haben. Hier kann man doch wenigstens politische Arbeit leisten, während die Tätigkeit in Betzdorf hauptsächlich im Auskehren von politischem Schutt bestand. Dass Sie mit der Beteiligung meiner Parteifreunde(Zentrum KS) am Reichsbanner noch immer unzufrieden sind, kann ich mir wirklich vorstellen. Es gehört schon mehr Bären- wie Kämpfernatur dazu, mit einer gewissen Clique dort anzubandeln. Ich habe mich ja ausgiebig dort herumgebolzt und denke immer noch gerne daran zurück. Ich bin mit den 'maßgebenden' Freunden ja auch zerfallen..."[18]
1925 kamen jüngere Kriegsteilnehmer, maßgeblich die Brüder Seim, auf den Gedanken, in der 'Pracht' eine Pyramide aus Quarzen aufzustellen, mit der Inschrift "Den in fremder Erde ruhenden Kriegsgefangenen". Die Pyramide steht heute noch. Es kostete einige Überredung, berichtete Rudolf Seim[19], in der Inschrift nicht nur der 'deutschen Kriegsgefangenen' zu gedenken, aber das war die eigentliche Idee: eine Alternative zum bombastischen Totenkult ('Kriegerdenkmäler' im 'Rheinchen' und am Gymnasium) die auch dem Willen zur Versöhnung Ausdruck gab. Die Einweihung im Juni geriet dann allerdings, nicht in Seims Ansprache für die Initiative, aber in anderen Reden revanchistisch. Die BZ berichtete und druckte eine an die Reichsregierung gerichtete Resolution der anschließenden Versammlung im Hohenzollerngarten ab. Der Bericht schloß mit dem 'Seitenhieb':
"Als gewissenhafte Chronik dürfen wir es nicht unterlassen, anschließend über eine Totenehrung der hiesigen Ortsgruppe des "Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold" zu berichten, die nach dem Verlauf der großen Menschenmenge in der Pracht mit einer kleinen Abordnung zum Ehrenmal marschierte und ihrerseits nach kurzer Ansprache einen Kranz mit schwarzrotgelber Schleife niederlegte. Jedem das Seine!"
Teilnehmer der 'Hauptkranzniederlegung' waren:
"Ortsgruppe der Reichsvereinigung ehem. Kriegsgefangener durch den Vorsitzenden (R. Seim KS), Rektor Tielmann für den vaterländischen Frauenverein, Direktor Schiller für den 'Stahlhelm' Bund der Frontsoldaten; ihnen schlossen sich an der Vorsitzende des Marinevereins(wer? KS) und der Vorsitzende der Ortsgruppe jüdischer Frontsoldaten(wer? KS)."
* * *
[1]Erzieherischer Reformwillen fand seinen organisierten Ausdruck unter anderem in dem 1919 gegründeten "Bund für entschiedene Schulreform", Zeitschrift "Die neue Erziehung"; auch in der sozialdemokratischen "Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde", 1923 gegründet, Vorstand Kurt Löwenstein (1885-1939). Diese und andere Bestrebungen lagen nur mittelbar in Dinkelackers Horizont.
[2]§148 der "Weimarer" Verfassung: "In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste de deutschen Volkstums und der Völkerverständigung zu erstreben ... Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen". Hauptprobleme der neuen Ordnung: Am 'Klassencharakter' der höheren Schule änderte sich wenig. Etwa 6% der Heranwachsenden besuchten höhere Schulen. Die Verfassung trennte Kirche und Staat, aber Staat (und Steuerzahler) blieben den Kirchen in vieler Hinsicht (nicht zuletzt in den Schulen) verpflichtet. Die Elternbeiräte, die für höhere Schulen keine Neuheit bedeuteten, wurden nicht wirklich in die Pflicht genommen. Das Verfassungsgebot der Völkerverständigung wurde vom Nationalismus unterlaufen. Selbst Konrad Haenisch, Sozialdemokrat und der erste Kultusminister der Republik sprach von den "Vereinigten Staaten von Europa" um im nächsten Satz seinem Zorn Ausdruck zu geben, daß er auf dem Drachenfels, der Lorelei, dem Niederwald und dem Rolandsbogen "französische Offiziere, Marokkaner und Neger aus dem Senegal" traf (Neue Bahnen der Kulturpolitik, 1922). In den Schulen und in den Provinzialschulkollegien blieben zuviele "treue Diener der Monarchie" im Amt (machten keinen Gebrauch von den goldenen Brücken in den Ruhestand, die die Republik ihnen baute). "Proletarische" Kritik an den Schulverhältnissen war durch maximalistische Haltung, zu enge "kollektivistische" und "ökonomistische" Vorstellungen und "marxistischen" Jargon gehandicapt (zur Kritik in den eigenen Reihen s. Elfriede Fr.: "Thesen zum Schulprogramm - Eine Erwiderung", Die Internationale 2, 1920, S.22: "Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität kann notwendig werden, um eben eine Bedürcfnisbefriedigung aller zu ermöglichen. Sie ist jetzt vor allem nach dem Kriege notwendig, um die ungeheure Weltarmut zu überwinden. Aber theoretische ist es sehr wohl denkbar, daß eine kommunistische Gesellschaft ihr Budget einschränkt, um von ihren Mitgliedern nicht übermäßige Arbeitsleistungen verlangen zu müssen; d.h. also freiwillig auf die "möglichst große Arbeitsproduktivität verzichtet".)
[3]Zahlen hier und im folgenden und auch das Engagement der Lehrer der Schule in den Parteivorständen nach Humbert Schmidt, "Wahlen im Landkreis Altenkirchen 1919-1933" Heimatjahrbuch des Kreises Altenkirchen 19, 1989, S.152
[4]Vgl. Protokollbuch der Deutschen Demokratischen Partei, Ortsgruppe Betzdorf-Kirchen und Umgebung, 1921-1923, Geschenk an den Autor vom damaligen Schriftführer Rudolf Seim. Unter dem 3.8.1921 heißt es zur Diskussion der Mitglieder über das Reichsschulgesetz: "Es ergab sich vor allem die Ansicht, daß der Religionsunterricht, weil mit die brennenste Frage bei der Stellungnahme der Partei, der Schule als ordentliches Lehrfach erhalten bleiben müsse, der sich zwar nicht auf ein besonderes Dogma verlegen dürfe, sondern mehr geschichtlicher Natur sein müsse." Unter dem 27. Februar 1922 steht in der Zusammenfassung eines Vortrags (vor 16 Mitgliedern und 3 Gästen) des Koblenzer Parteisekretärs M. Wolff über die innen- und außenpolische Lage, "... Als erstrebenswertes Ziel unserer Partei stellte er die Simultanschule hin. Mit einem Hoch auf die deutsche Republik endete er nach einstündiger Rede seine Ausführungen. Die sich anschliessende Aussprache war sehr rege. Fragen betr. der Stellung der Partei zum Beamtenstreik, zum neuen Reichmietengesetz, zu Laiengerichten, zur Gebäude- und Grundwertsteuer, zur Bodenreform usw. wurden lebhaft erörtert ." Am 29. April 1922 redete der Kreisschulrat Ufer/Dillenburg über den Reichsschulgesetzentwurf, hauptsächlich über die drei Formen Bekenntnisschule, weltliche Schule, Simultanschule. Die Betzdorfer Zeitung berichtete ausführlich.
[4a]S.a. das 4-seitige Programmblatt einer 'Vaterländischen Veranstaltung' des Realgymnasiums zum 22. März 1920 (Geburtstag von Wilhelm I). Dinkelacker notierte auf der Titelseite: "Notgedrungen wegen 'Kapputsch' auf Juli verschoben", (zum Programmpunkt "Fehrbellin") "fiel aus wegen zu großer Unkosten". Programmpunkte auf Seite 2 des Blatts: II Aus der Zeit Friedrichs des Großen - Hohenfriedberger Marsch, Der alte Zieten, Friedericus Rex, Der Choral von Leuthen, Auf die Torgauer Schlacht, Der Sieger von Torgau, Theaterstück Die Torgauer Heide) III Aus der Zeit Wilhelms I. geb. 22. März 1797 (Ich bin ein Preuße, Worte der Königin Luise 1807, Das Lied vom alten Kaiser, Bismarck zum Tode Wilhelms I., Fürst Bismarck, Unsere Aufgabe aus Einhart: Deutsche Geschichte (Ausgabe aus der Monarchie KS), Alles schweige;
[5]Im Jahresbericht 19245/26 notierte Fritz Stenger: "Bei der am 12. September veranstalteten Verfassungsfeier hielt der Unterzeichnete die Ansprache und gedachte dabei auch des Sedantages."
[6]Bereits per Erlaß vom 6. Dezember 1919 (UII 2512 Zentralblatt S. 627f) war die Benutzung von Geschichtsbüchern, wie sie bis Ende des Krieges in Gebrauch waren, untersagt worden. Vgl. Antwort Staatsekretär Lammers /Kultusministerium vom 4. Mai 1926 auf eine kleine Anfrage des Abgeordneten Zachert. "Gegen Lehrbücher, die mit dem Geist der Verfassung nicht im Einklang stehen, ist von der preußischen Unterrichtsverwaltung mit aller Entschiedenheit vorgegangen worden ... ist angeordnet worden, daß in den Lehr- und Lesebüchern alle Stellen zu entfernen sind, die sich in anekdotischer Weise mit dem bisherigen Kaiserhause beschäftigen."
[7]Ein Profil, daß in mindestens zwei Punkten die Schule berührte: in der entschieden nichtkonfessionalistischen Haltung zur Religion und in der Haltung zur Revolution von 1918. Ein 'radikales' Profil? 1914 hatte der Freund und Kollege Edmund Mugler als Religionslehrer in Siegen die Angriffe der protestantischen Orthodoxie auf sich gezogen und wurde von ihr in der Öffentlichkeit als 'Radikaler' hingestellt, ebenso wie es pauschal den Sozialdemokraten geschah. Allerdings sprachen Eltern und große Teile der Öffentlichkeit Mugler auch in der Lokalpresse ihr Vertrauen aus (s.u.)
[8]Einen entsprechenden Hinweis gibt die Abiturzeitung der Klasse Dinkelackers von 1924, "Dichtung u. Wahrheit. Lewer dod as Slav! Zeitschrift für Humor und Kunst". Die Schüler schrieben: "Groß bist als Mensch du, reich an Verstand, Doch leider, Isel, ein Pedant..."
[9]Alfred Dinkelacker, "Abschrift von Aufzeichnungnen aus dem Frühjahr 1922, die ich damals dem Direktor, bezw. dem Lehrerkollegium zu unterbreiten beabsichtigt hatte, was dann aber doch unterblieben war" o.D.
[10]Ebenda
[11]Maschinenschriftliche Kopie
[11a]Im Spätsommer 1924 schrieb die fast 12 jährige Tochter Lore an ihre Mutter: "Wir waren am Samstag Nachmittag auf den Stegskopf gegangen bis Sonntag Abend. Am Samstag Abend kam Onkel Rudi (Seim KS) nach ... Es ist sehr schön hier aber sehr nebelig. Wir erwarten noch Fräulein Wacker und Herrn Schneider (Otto Schneider KS). Grete Schnell ist auch hier..." Der Lehrer Otto Schneider war auch ein Mittelpunkt jugendbewegter Singkreise auf der Freusburg. Eine Laute, von der es hieß, daß sie ihn durch den ganzen Krieg begleitet habe, schenkte er Clara Dinkelacker.
[12]In der Familie wurde eine Anekdote weitergegeben, die sich auf tatsächlich bestehende Vorurteile gründen mochte. Eine Dame (Lehrerin?) trifft eine andere, von der sie weiß, daß sie mit Dinkelackers befreundet ist. "Wie war die Beerdigung?" - "Was meinen Sie?" - "Ich meine, wo es doch keinen Pfarrer gab!" - "Wieso soll es keinen Pfarrer gegeben haben?"- "Der Herr Dinkelacker ist doch Demokrat!" - "Na, und? Ich weiß übrigens nicht, ob auch seine Schwiegermutter Demokratin war!" - "Ja so, - aber ist er nicht auch Astronom?"
[13]In ihrem oben zitierten Brief an Anna Stenger hatte Clara Dinkelacker 1922 geschrieben, daß sie ihre Mutter bisher nicht mit dem Konflikt der Männer habe belasten wollen. Das war sicher nicht mehr möglich, seit Anna Hartmann 1925 zu ihren Kindern umgezogen war.
[14]"Zum 4. August 1924", Jahresbericht 1924/25
[15] das behauptet jedenfalls eine Randnotiz von Alfred Dinkelacker auf dem Zeitungsausschnitt der BZ
[16]Hermelink sollte 1935 seine Professur verlieren, Rade schon zum 1. 1.1934. Zu Martin Rade (1857-1940) vgl Friedrich-Martin Balzer, Angelika Borschel, Axel W. Held, "Evangelische Demokraten an der Marburger Theologischen Fakultät" in Dieter Kramer und Cristina Vanja, Universität und demokratische Bewegung, ein Lesebuch zur 450 Jahr Feier der Universität Marburg, Marburg, Verlag Arbeiterbewegung und Gesellschaftswissenschaft, 1977, S.169
[17]Das Abkommen vom 14.8.24 betraf den Dawes-Plan, der das Regime der Reparationskommission beendete und das Ende militärischer Besatzung in Aussicht stellte. Es fand auch bei Teilen der DNVP Zustimmung.
[18]Meurer schlug Dinkelacker vor, zusammen mit dem Kameraden Schäfer zu überlegen, ob das RB nicht eine Versammlung der Gruppen in Betzdorf, Altenkirchen, Freusburg und vielleicht Siegen mit ihm als Redner veranstalten wolle (im September 1929), dabei würde er sich insbesondere mit seinen Freunden auseinandersetzen wollen.
Hubert Meurer (1901-1961) kam aus einer armen, kinderreichen Familie. Die Fähigkeiten seines Werdeganges vom Zeitungsjungen zum Redakteur eignete er sich weitgehend autodidaktisch an. Seine Frau, Maria Theresia Quirbach, Tochter des Steinmetzes Adam Quirbach in Betzdorf, betrieb ein Zigarren- und Zigarettengeschäft an der Ecke Post-(heute Deziser) und Bahnhofstrasse. Dem Redakteur und Zentrumspolitiker Meurer wurden Beruf und Tätigkeitsfeld in Magdeburg 1933 genommen. Für seine Frau und ihn folgten bittere Jahre der Gelegenheitsarbeit bis er 1935/36 in Burg eine Anstellung als Abteilungsleiter in den dortigen Knäckebrotwerken fand. 1940 wurde er dienstverpflichtet, war als Soldat u.a. in Riga, und kam erst 1947 aus einem französischen Lager (Gap) frei. Er war dann Mitbegründer der CDU in Burg und ihr Sekretär, später stellvertretender Vorsitzender (den Vorsitz hatte die Sozialistische Einheitspartei) im Kreisrat bis zu seinem Tod. Er war zeitlebens, ebenso kritisch wie überzeugt, ein christlich-religiöser und ein politisch-demokratischer Mensch. Ich danke seiner Tochter, Frau Evamaria Zeidler, für das Foto und die freundliche Mitteilung (September 2006) zu den biographischen Angaben.
[19]Private Mitteilung Rudolf Seim ca 1985
* * *
Ein Schlüsselereignis: der Tod des Staatschefs
Im Frühjahr 1925 schlug Friedrich Eberts Tod (28.2.1925) Wellen an der Betzdorfer Schule und in der lokalen Öffentlichkeit. Öffentliche Gebäude flaggten drei Tage halbmast. Die Schule kam erst zwei Tage später der ministeriellen Anordnung nach, nachdem andere öffentliche Gebäude längst geflaggt hatten. Dinkelacker schrieb als Vorsitzender der DDP-Ortsgruppe und in Abstimmung mit dem Vorstand an den Landrat und Kuratoriumsvorsitzenden,
beklagte die allgemein geringe Entschiedenheit im 'Flaggezeigen' für die Demokratie und wies im Besonderen auf die Schule hin. Die politischen Gefahren, die mit dem Tod eines Staatsoberhauptes - und hier des ersten der Demokratie - verbunden sein können, lagen auf der Hand. Trauerfeierlichkeiten werden vom politischen Willen diktiert. Zum Sonntagmorgen (8.3., 11:30) luden die drei Weimarer Parteien gemeinsam zu einer Trauerkundgebung in der Bürgergesellschaft. Als Redner gewann Dinkelacker Martin Rade.
War es die gelungene Feier, war es der Brief? In der Schule folgte die Quittung für den 'Ebertfreund' auf dem Fuß. Der junge Kollege Brauneck zieh Dinkelacker im Lehrerzimmer der 'Denunziation' und die anwesenden Kollegen schwiegen auf Dinkelackers Frage, ob sie, wie der Kollege dann noch behauptete, auch dächten, er hätte sich eine Denunziation zu Schulden kommen lassen. Wie sich später herausstellen sollte, hatten auch noch Schüler "Ebert kaputt" an eine Tafel geschrieben und der Direktor konnte nicht widerlegen, daß er nicht bereit gewesen war, 'pädagogisch' zu diesem 'Schülerstreich' Stellung zu nehmen. Kurzum, Fritz Stenger hatte seine persönliche Verachtung Eberts demonstrativ über seine Beamtenpflicht, aber auch über Notwendigkeiten der Erziehung zum Rechts- und Verfassungsbewußtsein gestellt, und manchem (einigen) im Kollegium war das egal oder recht gewesen. Niemand wollte den Unterschied von Denunziation und Anzeige wahrhaben. Man kann denunzieren oder es lassen. Zur Anzeige dagegen zwingt das Gesetz je nach Vorkommnis und stellt die Unterlassung unter Strafe. Die Tatbestände, sofern sie sich bestätigen würden, zwangen zur Anzeige. Die jedoch hatte Dinkelacker nicht gemacht, nicht machen wollen. Das war sein 'Fehler'. Er 'war mit den Nerven runter', der Arzt verschrieb ihm 2-3 Wochen Urlaub, die ihm auch gewährt wurden.
Einen Monat später, am 7. April, wurde Dinkelacker vom Provinzialschulkollegium aufgefordert, sich zu einer Beschwerde seines Chefs vom 4. des Monats "eingehend zu äußern". Der Vorwurf war, er habe in schroffer Weise die Versetzungskonferenz am 27. März um 20:15 Uhr verlassen und nicht reagiert, als er ihn am nächsten Tag habe auffordern lassen, sich in aller Form zu entschuldigen. Dinkelacker erklärte (unter dem 18. April), daß er wiederholt gebeten habe, das Procedere der Konferenz, die um 16:30 begonnen hatte, so umzugestalten oder aufzuschieben, daß er um 20 Uhr zu einer dringenden Besprechung frei sein würde. Meinte auch, daß sein schroffes Verlassen auf noch andere Erfahrungen zurückzuführen sei, die er in der letzten Zeit in der Schule habe machen müssen. Die Schulbehörde sprach ihm am 9. Mai ihre "ernste Mißbilligung aus":
"Wie Sie in Ihrem Berichte vom 18. April d.Js. selber zugeben, haben Sie die Versetzungskonferenz vom 27. März, deren Vertagung ausdrücklich abgelehnt war, vor Ihrer Beendigung und zudem in schroffer Weise verlassen. Sie haben sich dadurch einer Verletzung der Pflichten schuldig gemacht, die Ihr Amt Ihnen auferlegt."
Dinkelacker war in Erwartung dieses "Einschüchterungsversuchs" in die Offensive gegangen und hatte seinerseits (unter dem 24. April) auf dem Dienstweg Beschwerde wegen Beleidigung gegen den Kollegen Brauneck erhoben. Ebenfalls am 9. Mai wurde die Beschwerde abgewiesen:
"Studienassessor Dr. Brauneck bestreitet, den von Ihnen als Beleidigung empfundenen Ausspruch in der behaupteten Form getan zu haben. Nach dem Berichte, den er uns erstattet hat, hat er lediglich folgendes gesagt: "Der Direktor soll in den letzten Wochen zweimal beim Landratsamt denunziert worden sein, und Sie sollen dahinter stehen. Die Sache muß erst geklärt werden." Da diese Bemerkung, zumal bei dem vorliegenden Sachverhalt noch nicht als Beleidigung aufgefaßt werden kann, so sehen wir keinen Anlaß, Ihrer Beschwerde Folge zu geben."
Die Behörde hielt es für passend, Dinkelacker zu suggerieren, er sei ein 'Denunziant'. Handelte sie aus Trägheit so, oder aus Absicht, eine 'Anzeige' abzublocken. Vermutlich beides.
Inzwischen war Hindenburg zum Nachfolger Eberts gewählt worden. Der Ausgang der Wahl zeigt, was beim Tod Eberts auf dem Spiel gestanden hatte. Die Wahl war nicht nur Stimmungsausdruck, sie war 'trend-setting'. Am 30. April veranstaltete der Reichsblock seine große Kundgebung. Die BZ führte aus:
"Die Reichspräsidentenwahl hat ja endlich die lang erstrebte Einigkeit unter diese Parteien und Verbände gebracht und gezeigt, was ihnen allen gemeinsam ist: die nationale Staats- und Weltanschauung, welche der von dem roten Volksblock vertretenen Auffassung vom internationalen Staat gegenübersteht ... Erstrebt wird damit ja nur ein Zustand wie er vor Krieg und Revolution in unserem Vaterlande geherrscht. Direktor Stenger legte in seinen Begrüßungsworten das Hauptgewicht auf diese grundsätzliche Bedeutung der Wahlentscheidung und bezeichnete sie als freudigen Anlaß der Feier zu Ehren des neuen Reichspräsidenten."
Bevor Herr von Huth dann seine Ansprache hielt und den "Sieger von Tannenberg und unzähliger anderer Schlachten" hochleben ließ, gedachte die Versammlung mit Stenger still des "Vorkämpfers für die nationale Einigung und Wiederbelebung des deutschen Gedankens, Fürst Richard zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg"[1] und zum Schluß wurde im "durch reichen Flaggenschmuck in den alten Reichsfarben" geschmückten Saal, wo "Die schönen alten Militärmärsche und klangvollen Lieder" erklungen waren, eine "Huldigungsadresse" formuliert:
"Zur Feier des Sieges Euer Exzellenz, des Trägers und Führers der vaterländischen Bewegung versammelt, senden die in überwältigender Zahl anwesenden vaterländisch gesinnten Männer und Frauen von Betzdorf und Umgebung Euer Exzellenz begeisterten Glückwunsch und Treugelöbnis. I. A.: Stenger".
Einen Dämpfer erfuhr die konservative Siegesgewißheit des Direktors dann doch. Sein 'Denunziant' hatte sich ein Herz gefaßt und einem Landtagsabgeordneten seiner Partei, Schulmann und Mitglied im Unterrichtsausschuß mitgeteilt, was er in diesem Jahr in der Schule erlebt hatte. Am 20. August druckte die Vossische Zeitung, das Berliner 'Intelligenzblatt' für das ganze Reich, in ihrer Beilage einen Artikel von "Studiendirektor Dr. Theodor Bohner, Mitglied des Preußischen Landtags"[2] mit dem Titel "Wehrwolf in der Schule. Ist es besser geworden?". Bohner wies darauf hin, daß radikal rechte Tendenzen an den Schulen, auch nachdem die Lage durch den Mord an Walther Rathenau (1922) seinerzeit 'wie durch einen Scheinwerfer' erhellt worden war, fortdauerten, z.B. in Weißenfels/ Saale u. a. mit dem Schülerverein 'Wehrwolf'. Dann schrieb der Autor, was er von Dinkelacker erfahren hatte:
"Die Republik stürzt nicht zusammen, wenn einmal die Flagge fehlt. Wenn aber ein Republikaner in dem festen Gefühl, daß ein großes Volk sich selbst in einem Sinnbild erkennen will, und daher die Republik überall dort ihre Fahnen zeigen muß, wo früher das Kaiserbild hing, die absichtliche Nichtbeflaggung rügt und beim Landrat wegen der Beflaggung vorstellig wird, dann dürfen ihm jüngere, nichtangestellte Kollegen im Konferenzzimmer ungestraft den Gruß verweigern. Einen Schutz findet er nicht. Als ich die betreffende Entscheidung des Provinzialschulkollegiums las, habe ich mich erstaunt gefragt, ob man in Koblenz die Einsamkeit des republikanischen Akademikers und den gesellschaftlichen Druck, der auf ihm lastet, nicht kennt, jenes Ressentiment der 'guten Kreise' gegen den Linksmann, das übrigens Keller im 'Salander' selbst für die Schweiz bezeugt, und das die Republik nicht dulden kann./ Man wird am 11. August dieses Jahres in Betzdorf wohl auch das Deutschlandlied gesungen haben. In früheren Jahren sang man an der dortigen höheren Schule nach dem Deutschlandhoch nur:'Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?' Das Deutschlandlied war ja durch Friedrich Ebert 'verweiht'."
Bohner erwähnte Betzdorf noch einmal kurz in einem Artikel im Kölner Tageblatt vom 26. August: "Rechtsagitation an höheren Schulen". Zwangsläufig mußte sich das Provinzialschulkollegium einer Anfrage des Kultusministers stellen und Dinkelacker sah sich an einem Donnerstag im November (mitten im privaten Umzug in das neue Haus) in der Schule unangekündigt einer 'Vernehmung' durch die Behörde ausgesetzt. Da er nur auf die gestellten Fragen hätte antworten können, und auch das nur unvollständig, schrieb Dinkelacker umgehend an den Oberschulrat, bat um eine gelegentliche Unterredung in Koblenz und meinte, hier nur zur Frage nach der letzten Verfassungsfeier in der Schule nachtragen zu müssen, daß seines Wissens im Schulprotokollbuch zur Vorbesprechung der Feier auch "die Äusserung des Herrn Direktors" vermerkt sei, "daß es sich um eine Verfassungs- und Sedanfeier handle". Stenger hatte damals eine zweite Besprechung ausschließlich der Klassenleiter angesetzt und seinem Widersacher hatte er seit 1924 keine Klasse mehr anvertraut (s.u.). Dinkelacker berichtete:
"...bin ich, als ich zu seiner, in die Lehrerbücherei berufenen Besprechung der Klassenleiter auch gehen wollte, trotz meines ruhigen Hinweises darauf, daß ich meines Erachtens nach der Konferenzordnung beratend anwohnen dürfte, von Herrn Direktor aus dem Zimmer ausgewiesen worden. Ich bitte deshalb höflichst darum, doch zu entscheiden, ob dies zu Recht oder Unrecht geschah ... Es war und ist mir bei alledem wahrhaftig nicht darum zu tun, irgendeinen der Herren, die in dieser Sache gegen mich stehen, irgendeinen Nachteil zuzufügen oder sie zur Verleugnung ihrer eigenen Überzeugung zu zwingen, sondern lediglich darum, endlich einmal zu wissen, ob es einen Zweck hat, daß ein, immer aus leidenschaftlicher Sorge um die Zukunft unseres deutschen Vaterlandes, aus Liebe zu unserer, in unverantwortlicher Weise in die politischen Gegensätze hineingeratenen Jugend und aus Gerechtigkeitsgefühl sich als Beamter, der auf die heutige demokratisch-republikanische Verfassung vereidigt ist, dafür einsetzt, daß wenigstens wichtige und wertvolle ministerielle Verfügungen usw. nach Form und Inhalt - der letztere ist mir selbstverständlich die Hauptsache - , an der Stelle, wo ich mit Freuden arbeiten will, zur Durchführung zu gelangen./ Im übrigen sehne ich mich danach, von all dem seelischen Druck, der ob dieser Dinge auf mir lastet, endlich befreit zu werden. Sofern und soweit ich selbst zu den persönlichen Differenzen Veranlassung gegeben habe, will ich gern die Hand zur Verständigung und Entschuldigung bieten, wenn dies gleichzeitig auch von der Gegenseite geschieht. Mit Vorzüglicher Hochachtung, Ihr sehr ergebener D."[3]
Konsequenzen hatte die Untersuchung der Koblenzer Behörde und die Vernehmung Dinkelackers offenbar nicht. Es kehrte wieder Ruhe ein. Die Ruhe vor dem Sturm, wie sich später herausstellen sollte.
1926 trat Dinkelacker zunächst zweimal in der lokalen Öffentlichkeit in Erscheinung, nicht ahnend, wie sehr die Medien sich gegen Ende des Jahres mit ihm beschäftigen würden. Im April (19.4.26) brachte die RWVZ/SB eine kurze Notiz zu einer Freiligrath-Feier der Ortsgruppe des RB mit Festrede Dinkelackers über den "Menschen, Dichter und Politiker", diesen "geistigen Führer des republikanischen Deutschland" (Hubert Meurer) und später einen ausführlichen Bericht der Zeitung über die Verfassungsfeier am 7. August in der 'Bürgergesellschaft' mit 'einigen hundert' Teilnehmern. Dinkelacker als Versammlungsleiter begrüßte insbesondere den Bürgermeister und den Festredner Honigsheim, Volkshochschuldirektor/Köln und führte, wie die Zeitung schrieb, aus,
"daß leider heute, nach 7 jährigem, würdigem Bestand der Republik immer noch Millionen von Staatsbürgern abseits ständen und den Weg zum Volksstaat nicht finden könnten. Diese Gruppe setze sich in der Hauptsache zusammen aus solchen, die entweder noch auf den alten Machtstandpunkt pochten, oder Anhänger des alten Herrenstandpunktes seien. Eine weitere Gruppe bildeten jene, die gefühlsmäßig noch immer an dem monarchistischen System hingen, oder die politisch Unreifen."
"Er ließ auch denen Gerechtigkeit widerfahren, die den Weg zum Volksstaat noch nicht gefunden haben" meinte der Journalist[4].
Am 30. August bat der Philologenverband um Stellungnahmen zu einem Artikel von Professor Hildebrandt in der Vossischen Zeitung zur antirepublikanischen Haltung der Lehrerschaft. Dinkelacker schrieb am 4.9. zurück, er hoffe, daß die Gesamtumfrage Aufschlüsse über eine Frage gäbe, die im Philologenblatt vorsichtig umgangen werde - es sei ja wohl auch das beste so.
"Ich gehe davon aus, daß ich Ihnen klar und offen versichern kann, daß ich das "Maryrium", von dem der Herr Kultusminister im Landtage sprach, seit 7 Jahren hier voll und ganz durchkoste und daß ich darum nach meinen Erfahrungen - und ich kann nicht annehmen, daß das hiesige Realgymnasium die einzige höhere Lehranstalt in Preußen ist, an der noch solche oder ähnliche Zustände herrschen - den mir von Ihnen übersandten Artikel der Vossischen Zeitung von Prof. Dr. Hildebrandt in seinen Hauptpunkten für sachlich, oder besser gesagt, inhaltlich voll berechtigt bezeichnen muß, wobei ich allerdings die Form einzelner Wendungen und Sätze nicht durchweg billige./ Über das, was ich hier an bewußt und beabsichtigt antirepublikanischer Beeinflussung der Schüler unter Führung des Direktors und unter direkter, bezw. (aus Opportunitätsgründen) meist stillschweigender Billigung des ganzen, 17 Mann starken Lehrkörpers mit meiner alleinigen Ausnahme erlebt habe, ohne daß auch eine vorgesetzte Behörde, selbst nachdem sie Kenntnis von solchen Dingen hatte, wirklich durchgriff, könnte ich heute ein ganzes Buch schreiben ... Man soll sich nur einmal in voller Ruhe und Abgeklärtheit fragen, was mit einem Lehrer geschehen wäre, der unter der Monarchie sich ähnlich in seiner Schule gegen die Monarchie eingestellt hätte, wie heute so viele gegen den demokratisch-republikanischen Volksstaat. Es soll wahrhaftig keine Gesinnungsheuchelei groß gezogen werden, was unter der Monarchie leider sehr der Fall war, wo jeder Kollege die Kaisersgeburtstagsrede mit Kaiserhoch halten mußte, aber wenn man an einer Schule es vereitelt, da man die Mehrheit des Lehrkörpers als Deckung hat, daß ein aus ideellen Gründen überzeugter Anhänger des heutigen Staates auch einmal ein gewinnendes Wort für diese Verfassung in einer Schulfeier sprechen kann, wo, wie schon eingangs erwähnt, auf allen möglichen Wegen die Schüler gegen die Republik beeinflußt werden, dann ist es nicht mehr als Gebot der Selbsterhaltung dieses Staates, wenn er sich nicht gerade in den Augen seiner Gegner selbst lächerlich machen und sich selbst aufgeben will, wenigstens an alle leitenden Stellen grundsätzlich nur solche Männer zu stellen, die aus innerer Überzeugung auf dem Boden der heutigen Verfassung stehen oder doch für ein durchaus loyales Verhalten ihr gegenüber alle Gewähr bieten, ihre einwandfreie berufliche Eignung zu dem leitenden Posten selbstverständlich vorausgesetzt. Deshalb habe ich, nach all dem, wie ich die Lage ansehen muß, die Entschließung des Philologenverbandes gegen angebliche unsachliche Stellenbesetzung nach politischen Gesichtspunkten für durchaus unbegründet gehalten. Denn diese, an sich sicher nicht erfreuliche, Rücksichtnahme auf politische Einstellung ist, solange es so noch an vielen Schulen aussieht, verteufelt nötig ... Und daß es möglich ist, aus unserer heutigen Staatsverfassung ideelle Werte herauszuheben, für die man die Jugend begeistern kann, so daß sie gewillt wird, das, was hier leider vielfach noch an Großem auf dem Papier steht, in die Tat umzusetzen, das wird jeder wahrhaft Gebildete zugeben."
Am ersten Oktoberwochenende 1926 veranstaltete der RB in Altenkirchen einen "Republikanischen Tag", den ersten seit Bestehen der Republik in "unserem Kreisstädtchen", wo die Rechten in der Mehrzahl waren. Samstagabend Fackelzug, Sonntag Festzug durch die Stadt. Über tausend Teilnehmer. Festreden: Hubert Meurer, Kreisführer des RB, Regierungsassessor Dr. Hübner im Namen des Landrats. Vermutlich schrieb Meurer auch den Bericht für die RWVZ:
"... Bereits am Samstag abend kam es verschiedentlich zu kleinen Zusammenstößen, bei denen es beiderseits Hiebe absetzte. Der Gipfel der Gemeinheit wurde jedoch erst während des Festzuges am Sonntag nachmittag erreicht. Als der Festzug mit über 1000 Teilnehmern, von dem niemand behaupten kann, daß er zu Ärgernissen Anlaß gegeben habe, dieWilhelmstraße passierte, wurden aus dem Hause der Wirtschaft Hörder verschiedene Festzugsteilnehmer von halbwüchsigen Burschen angespukt. Das hiermit das Signal gegeben war zu einem Handgemenge, bedarf wohl keiner weiteren Erörterung. In kurzer Zeit hatte sich eine riesige Menschenmenge vor dem Hause angesammelt. Stöcke fuhren durch die Luft, ohne recht zu wissen, um was es sich eigentlich handelte, war die Menge in kürzester Zeit in die schönste Schlägerei verwickelt. Die wenigen Polizeibeamten von Altenkirchen erwiesen sich als zu schwach, um diesen unliebsamen Zwischenfällen Einhalt zu bieten. Nur unter Zuhilfenahme ihrer Gummiknüppel und durch das Eingreifen beherzter Leute gelang es, weiteres Unheil zu verhüten..."
Seit einigen Monaten zogen im Kuratorium und fern von Betzdorf Gewitterwolken auf, die sich über der Schulgemeinde noch vor Jahresende entladen sollten.
* * *
[1]Noch Ende Februar hatte "seine Durchlaucht" in Betzdorf gesprochen und versichert, daß er nicht beabsichtige "das Schoß Friedewald in undeutsche Hände zu verkaufen". Anschliessend hatten seine scharfen Worte gegen den 'Fachminister' Severing ... ungeteilten Beifall der gespannt lauschen Zuhörer" gefunden. BZ 28.2.1925
[2]Bohner war in einer Missionarsfamilie (Basler Mission, der Vater, Schuster von Beruf, wurde Bischof) in Kamerun aufgewachsen. Im Verzeichnis der Landtagsabgeordneten steht:"Schriftsteller und Studiendirektor, Magdeburg. Wahlkreis 10: Magdeburg, Deutsche Demokratische Partei. Geb. 6.Juli 1882 zu Abokobi (Britische Goldküste), evangelisch. 1899 Abiturientenexamen Gymnasium Mannheim; 1904 Staatsexamen Karlsruhe, seit 1. April 1907 im preußischen Schuldienst, 1908 bis 1915 Direktor der Deutschen Schule in Rom und Lektor für Deutsch an der Universität Rom; seit 1917 Direktor der Viktoriaschule in Magdeburg. Schriftsteller. Romane: Kwabla, Der Weg zurück, Novellen: Lachendes, liebendes Rom, Rheinverlag Basel. Seit 1919 Stadtverordneter in Magdeburg." Bohner schlug sich, nachdem er 1933 aus seinen Ämtern (als Oberschulrat und Abgeordneter) vertrieben war, als (Sachbuch-)Autor durch. Über eine (grundsätzliche) Frage konnten sich Dinkelacker und er während ihrer Tätigkeit in der DDP nicht einigen: Bohner folgerte aus dem neuen Verfassungsgrundsatz der Trennung von Staat und Kirche, daß das Verhältnis von Staat und Religionslehrer nicht anders sei, als das von Staat und Pfarrer. In einem Brief an Dinkelacker steht der Satz: "Ihnen schwebt immer vor, daß der Staat die Aufgabe des Religionsunterrichts hat" mit der Randbemerkung des Empfängers: "Allerdings!"
[3] Bleistiftmanuskript (4 Seiten. Abschrift?) mit der Datierung Nov.1925, vielleicht ein Entwurf geblieben?
[4]Eingangs beschrieb M (vermutlich Hubert Meurer) das Dekor: "Über der Bühne in großen Lettern der Wortlaut des Artikels 1 der Reichsverfassung: "Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus." Darunter auf deiner Tafel, hübsch mit schwarz-rot-goldenem Fahnenstoff drapiert die Präambel der Verfassung. Das Rednerpult zeigt, umgeben von schwarz-rot-goldenem Tuch, den Reichsadler. Von der Decke herab leuchten mannigfaltig die alten deutschen Reichsfarben. - So war der Schmuck des Saales, der sofort Festesstimmung, vaterländische Stimmung, hervorrief."(RWVZ-SB vom 9.8.1926)